Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Nichterhebung von Zoll (Vorlage an den EuGH)
Leitsatz (NV)
1. (Negatives) Entscheidungsmonopol der EG-Kommission, wenn von der Nacherhebung von Zoll nicht abgesehen werden soll?
2. Auslegung von Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1697/79 - Nichterkennbarkeit des Irrtums der Zollstelle für den Abgabenschuldner -.
Normenkette
EWGV 1697/79 Art. 5 Abs. 2; EWGV 1573/80, Art. 4
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ließ in der Zeit vom Juni 1981 bis Mai 1982 bei einer Dienststelle (Zollamt - ZA - M) des Beklagten und Revisionsklägers (Hauptzollamt - HZA -) Teile für Fernsprechtechnik, in einer vorangegangenen passiven Veredelung im wesentlichen aus zuvor ohne Erlaß oder Erstattung von Zoll ausgeführten Waren hergestellt, zum freien Verkehr abfertigen. Die veredelten Waren wurden in allen Fällen zollfrei gelassen. Durch Änderungsbescheide setzte das HZA Zoll in Höhe von . . . DM und . . . DM fest. Der Einspruch der Klägerin führte nur zu einer Ermäßigung auf insgesamt . . . DM Zoll, die Klage hingegen zur Aufhebung der Änderungsbescheide und zur Verpflichtung des HZA, zwecks Absehens von der Nacherhebung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/ 79 - VO Nr. 1697/79 - des Rates betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner angeforderten Eingangs- oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung derartiger Abgaben beinhaltet, vom 24. Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 197/1) bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften - EG-Kommission - den in Art. 4 der (Durchführungs-) Verordnung (EWG) Nr. 1573/80 - VO Nr. 1573/80 - der Kommission vom 20. Juni 1980 (ABlEG L 161/1) vorgesehenen Antrag zu stellen.
Das Finanzgericht (FG) führte aus, zwar hätte die Klägerin bei zutreffender Zollbehandlung den nacherhobenen Zoll entrichten müssen, doch stehe der Nacherhebung Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 entgegen, der als Ausfluß von Treu und Glauben großzügig anzuwenden sei. Die Klägerin habe den letztlich auf einer fehlerhaften Anwendung der Bestimmungen zur Ermittlung des Zollwerts der veredelten Waren beruhenden Irrtum des ZA nicht erkennen können. Die Zollstelle habe es unterlassen, dem Veredelungsentgelt den Wert der ausgeführten Materialien hinzuzurechnen, und sei dadurch zu der Freistellung von Zoll gelangt. Bei Kenntnis der einschlägigen zollwertrechtlichen Bestimmungen hätte die Klägerin den Irrtum sicherlich erkennen können. Von ihr dürfe jedoch nicht erwartet werden, daß sie die komplizierten Regelungen besser kenne und anwende als die dafür ausgebildeten Zollbeamten. Etwa vorhandene Zweifel der Klägerin seien durch entsprechende Auskünfte des Zollamtsvorstehers und des Abfertigungsbeamten zerstreut worden.
Mit der Revision gegen dieses Urteil rügt das HZA, das FG hätte bei Anwendung eines zutreffenden Maßstabes zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Klägerin den Irrtum der Zollstelle hätte erkennen können. Ein Irrtum der Zollbehörde gelte nur dann als nicht erkennbar, wenn der Beteiligte den Irrtum nicht durch Einsicht in veröffentlichte Vorschriften habe feststellen können. Nur Fragen der Auslegung unklarer oder unvollständiger Vorschriften gingen nicht zu seinen Lasten. Es dürfe nicht - wie in der Vorentscheidung geschehen - ein subjektiver Maßstab angelegt werden, vielmehr komme es auf objektive Gesichtspunkte an. Im Streitfalle sei die Sach- und Rechtslage einfach und aufgrund der - wenigen - einschlägigen Vorschriften sofort erkennbar und durchschaubar, wobei hinzukomme, daß die ursprünglichen Bescheide in sich unstimmig seien. Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 müsse auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Die Vorschrift greife nur ein, wenn die Zollbehörde Irrtümer aufgrund von Fehlern bei der Interpretation objektiv unklarer, unvollständiger oder schwieriger Rechtsvorschriften begehe und sich später eines Besseren belehren lassen müsse, wenn eine - objektiv notwendige - Klarstellung erfolge. Die vom FG vertretene Auffassung führe auch zu unzuträglichen Ergebnissen, denn je nach dem Kenntnisstand des jeweils befaßten Zollbeamten wäre der eine Beteiligte bevorzugt, der andere benachteiligt. Wäre es richtig, daß der Zollbeteiligte im Einzelfalle stets weniger wissen müßte als die Zollbehörde, deren Fehler - außer bei offenbarer Unrichtigkeit - immer auf Irrtum beruhten, so würde dem Beteiligten stets die Möglichkeit fehlen, den Irrtum zu erkennen, mit der Folge, daß die Nacherhebung zu unterbleiben hätte.
Entscheidungsgründe
Für die Entscheidung über die Revision ist nach den den Senat bindenden Feststellungen der Vorinstanz davon auszugehen, daß die Voraussetzungen zur Nachforderung - Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1697/79 - an sich vorliegen, daß der ursprünglichen Festsetzung (Freistellung) rechtlich bindende amtliche Auskünfte (vgl. Art. 5 Abs. 1 VO Nr. 1697/79) nicht zugrunde lagen, ferner davon, daß die - ursprüngliche - Nichterhebung der Eingangsabgaben auf einen Irrtum der zuständigen Behörde zurückzuführen ist (Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79). Nicht streitig ist auch, daß die Klägerin gutgläubig war und daß sie die Bestimmungen über die Zollerklärung beachtet hat. Gestritten wird nur darüber, ob die weitere Voraussetzung für ein Absehen von der Nacherhebung vorliegt, daß der Irrtum vom Abgabenschuldner nicht erkannt werden konnte. Insoweit stellen sich Fragen zur Auslegung des maßgebenden Gemeinschaftsrechts, deren Beantwortung eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinchaften erfordert.
1. Es fragt sich zunächst, ob das HZA ohne vorherige Befassung der EG-Kommission mit der Angelegenheit entscheiden durfte (implicite), daß von einer Nacherhebung im Streitfalle nicht abzusehen sei.
Nach Art. 4 VO Nr. 1573/80 bedarf es einer Entscheidung der EG-Kommission u. a. dann, wenn die betreffenden Abgaben - wie hier - mindestens 2 000 ECU betragen. Es ist zweifelhaft, ob dies nur gilt, wenn die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaates die in Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 aufgeführten Voraussetzungen für erfüllt hält - so das HZA - oder schlechtin, also auch, wenn die Behörde die bezeichneten Voraussetzungen bei einer Nacherhebung in Höhe von mindestens 2 000 ECU nicht für vorliegend erachtet. Nach Auffassung des Senats sprechen praktische Gründe für die vom HZA vertretene Auslegung von Art. 4 VO Nr. 1573/80. Der Wortlaut der Vorschrift - erforderlicher ,,Antrag auf Entscheidung", ohne daß auf deren Inhalt abgestellt wird - ist jedoch nicht eindeutig. Sie könnte auch dahin ausgelegt werden, daß eine Entscheidung der EG-Kommission bei Nacherhebungen von 2 000 ECU oder mehr selbst dann herbeizuführen ist, wenn zwar der Beteiligte sich auf Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 beruft, die zuständige Behörde dies aber nicht für begründet hält. Trifft diese Auslegung zu, so dürfte die Nacherhebung erst erfolgen, wenn - auch - die EG- Kommission entschieden hat, daß von der Nachforderung nicht abzusehen sei. Die Vorentscheidung wäre dann insoweit zu bestätigen, als durch sie die angefochtenen Bescheide des HZA aufgehoben worden sind, mit der Wirkung, daß die Nacherhebung zur Zeit nicht begründet wäre. Es bliebe den zuständigen Stellen überlassen, einen Antrag bei der EG-Kommission zu stellen, und, falls auch diese entscheidet, daß die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 nicht erfüllt sind, die Nachforderung abermals geltend zu machen.
2. Wenn es dagegen keiner vorherigen Entscheidung der EG-Kommission über das Nichtabsehen von der hier angefochtenen Nachforderung bedurft haben sollte, müßte beurteilt werden, ob das FG seiner Entscheidung, daß die Klägerin den Irrtum der Zollstelle nicht habe erkennen können, einen rechtlich zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt hat.
Die Fälle, in denen die zuständigen Behörden von einer Nacherhebung absehen können, sollen gemeinschaftsrechtlich festgelegt werden (Art. 5 Abs. 2, 2. Unterabs. VO Nr. 1697/79); entsprechende Durchführungsvorschriften sind jedoch noch nicht erlassen worden. Gleichwohl hat der Abgabenschuldner, wie das FG richtig entschieden hat, einen Anspruch darauf, daß von einer Nacherhebung abgesehen wird, wenn alle Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 1. Unterabs. VO Nr. 1679/79 erfüllt sind (Gerichtshof, Urteil vom 22. Oktober 1987 Rs. 314/85, Abs. 22 und 27 der Gründe, HFR 1988, 82). Ob dies im Streitfalle hinsichtlich der Frage der Erkennbarkeit des Irrtums durch die Klägerin anzunehmen ist, hängt von dem rechtlichen Maßstab ab, nach dem die Erkennbarkeit zu beurteilen ist. Nach den von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, daß der Irrtum der Zollstelle für die Klägerin aufgrund der maßgebenden - veröffentlichten - Zollvorschriften objektiv erkennbar war, daß es sich dabei also nicht um die Auslegung unklaren oder unvollständigen Rechts handelte. Dennoch hält das FG den Irrtum der Zollstelle als für die Klägerin nicht erkennbar, weil von ihr keine weitergehenden Kenntnisse zu erwarten gewesen seien als von den Zollbeamten selbst, die zweimal falsche (unverbindliche) Auskünfte erteilt hätten. Der Senat hat Zweifel, ob der der Vorentscheidung zugrunde gelegte - subjektive - Maßstab der Erkennbarkeit dem Gesetz entspricht. Die Anwendung dieses Maßstabes würde letztlich dazu führen, daß schon der Irrtum der Zollstelle einen Verzicht auf die an sich gebotene Nacherhebung bedingen würde, wenn nur der Abgabenschuldner gutgläubig gehandelt und alle Bestimmungen hinsichtlich der Zollerklärung beachtet hat. Damit dürfte das Erfordernis der Nichterkennbarkeit seinen Sinn verlieren. Der Senat neigt daher der von der Revision vertretenen Auffassung zu, daß die Nichterkennbarkeit des Irrtums für den Abgabenschuldner an einem objektiven Maßstab zu messen ist. Diese Beurteilung erscheint indessen nicht zweifelsfrei. In seinem Urteil in der Rechtssache 314/85 hat der Gerichtshof die Ansicht vertreten, daß ein Irrtum der Zollbehörde für den Beteiligten nicht erkennbar sei, wenn ein Finanzgericht die maßgebende Rechtslage als unklar beurteilt habe (Abs. 25 der Gründe). Ungeachtet der Unterschiede, die zwischen dem Streitfall und dem Fall bestehen, der der vorbezeichneten Vorabentscheidung zugrundelag (dort: Entscheidung eines Gerichts; wohl auch objektiv unklare Rechtslage), könnte aus dieser abgeleitet werden, daß die Nichterkennbarkeit nach subjektiven Gesichtspunkten zu bestimmen und womöglich anzunehmen ist, wenn die Zollstelle selbst sich in der hier vorliegenden Weise geirrt hat.
Aus diesen Gründen hat der Senat beschlossen, dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 177 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das maßgebende Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1573/80 der Kommission vom 20. Juni 1980 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 161/1), dahin auszulegen, daß es bei einer Nacherhebung von Zoll in Höhe von 2 000 ECU oder mehr eines Antrags auf Entscheidung der Kommission über ein Absehen von der Nacherhebung nicht bedarf, wenn die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dem der für die Nichterhebung ursächliche Irrtum unterlaufen ist, das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 des Rates vom 24. Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 197/1) verneint?
2. Bei Bejahung von Frage 1.:
Ist Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 dahin auszulegen, daß die Nichterkennbarkeit des Irrtums für den Abgabenschuldner nach einem objektiven Maßstab zu bestimmen, Erkennbarkeit mithin anzunehmen ist, wenn der Beteiligte den Fehler anhand der maßgebenden - veröffentlichten -, weder unklaren noch unvollständigen Vorschriften hätte feststellen können, oder ist der Irrtum auch dann als nicht erkennbar zu werten, wenn die Zollstelle ihre der Zollbehandlung zugrunde gelegte irrtümliche Auffassung gegenüber dem Beteiligten durch zweimalige Auskunft - ohne rechtliche Bindungswirkung - zum Ausdruck gebracht hat?
Fundstellen
Haufe-Index 416227 |
BFH/NV 1989, 610 |
BFHE 1989, 294 |