Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei einem verspätet gestellten Investitionszulageantrag
Leitsatz (NV)
1. Zum Verschulden i. S. des § 110 Abs. 1 AO 1977, wenn ein Steuerpflichtiger es unterläßt, einen noch ergänzungsbedürftigen Zulageantrag persönlich abzugeben, weil die Eingangstür des FA verschlossen ist.
2. Vertreter i. S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 ist auch, wer - als rechtsgeschäftlich bestellter Vertreter - sog. Generalhandlungsvollmacht hat.
Normenkette
AO 1977 § 110; HGB § 54 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Am 1. Oktober 1984, einem Montag, stellte sich heraus, daß die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) noch keinen Antrag auf Gewährung der sog. Beschäftigungszulage nach § 4 b des Investitionszulagengesetzes 1982 (InvZulG 1982) für das Kalenderjahr 1983 gestellt hatte (Frist gemäß § 5 Abs. 3 Satz 3 InvZulG 1982 neun Monate). Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin war mit der Vorbereitung des Antrags bereits Mitte des Jahres 1984 begonnen worden; es sei auch bereits eine Aufstellung über das Begünstigungsvolumen in Höhe von ca. . . . DM im Konzept vorbereitet gewesen; zur endgültigen Antragstellung sei es dann jedoch nicht (mehr) gekommen. Das habe am 1. Oktober 1984 gegen Mittag ihr, der Klägerin, Prokurist A bemerkt. Dieser habe sofort den Leiter der Buchhaltung, Herrn B, mit der unverzüglichen Erstellung des Antrags beauftragt. B hatte Handlungsvollmacht. Er rief, nachdem er mit A gesprochen hatte, beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) an und erkundigte sich - unstreitig - nach dem Ablauf der Antragsfrist. Seine Gesprächspartner waren der Steueramtsinspektor C, ein Mitarbeiter des an sich zuständigen, aber urlaubsabwesenden Steueramtmannes D, und der Steueramtmann E.
Noch am selben Tag (1. Oktober 1984) ging beim FA ein von A und B gemeinsam unterschriebenes amtliches Antragsformular für die Gewährung einer Zulage nach § 4 b InvZulG 1982 für das Kalenderjahr 1983 ein. Das Formblatt war lediglich auf der ersten Seite ausgefüllt und enthielt ansonsten (auf der zweiten Seite) nur noch den Hinweis: ,,Die Abgabe des Antrages erfolgt unter Wahrung der Frist. Die Aufstellung über die Summe des Begünstigungsvolumens werden wir in den nächsten Tagen nachreichen."
Am 4. Oktober 1984 ging beim FA ein weiteres, von A und B unter dem Datum vom 1. Oktober 1984 unterschriebenes Antragsformular ein. Es ist vollständig ausgefüllt und nennt ein Begünstigungsvolumen für 1983 von . . . DM.
Das FA lehnte die Gewährung der beantragten Investitionszulage mit Bescheid vom 17. Oktober 1984 ab. Als Begründung gab es an, der am 1. Oktober 1984 eingegangene Antrag genüge nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen an den Inhalt eines Zulagenantrags; der am 4. Oktober 1984 eingegangene Antrag sei verspätet; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht möglich.
Das Finanzgericht (FG) erhob Beweis durch die Vernehmung von insbesonders A, B, C und E als Zeugen. Es wies die Klage aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme als unbegründet ab.
Entscheidungsgründe
Die dagegen von der Klägerin erhobene Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ist nicht begründet.
1. Die Klägerin mißt (sinngemäß) der Frage grundsätzliche Bedeutung bei, welcher Verschuldensmaßstab im Rahmen des § 110 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) anzulegen ist, wenn ein Steuerpflichtiger es deswegen unterläßt, an Amtsstelle persönlich vorzusprechen, weil die Eingangstür des FA verschlossen ist und (zusätzlich) keine auffälligen und wirksamen Vorkehrungen getroffen sind, die gleichwohl einen Zutritt ermöglichen.
Diese Rüge ist schon nicht ordnungsgemäß erhoben worden. Die Klägerin hat nicht dargetan, weshalb die Klärung der von ihr herausgestellten Rechtsfrage von allgemeinem Interesse sein könnte (§ 115 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Es fehlt insbesondere jeglicher Hinweis darauf, daß, in welchem Umfang und aus welchen Gründen diese Rechtsfrage umstritten ist (siehe hierzu auch Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozeß, Rdnr. 153, m. w. N.).
Ungeachtet dessen würde eine Revisionsentscheidung im Streitfall zu keiner Fortentwicklung des Rechts führen. Es gibt bereits eine umfangreiche Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Schuldmaßstab, der bei Prüfung der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzulegen ist. Danach ist stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen (siehe hierzu die zahlreichen Nachweise bei Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 110 AO 1977 Tz. 4 f.). Eine derartige fallspezifische Prüfung hat das FG vorgenommen. Der Senat könnte sie seinerseits lediglich auf Verstöße gegen allgemeine Erfahrungssätze und die Gesetze der Logik untersuchen. Dies wäre aber auch wieder nur eine Einzelfallwürdigung.
2. Eine Abweichung vom Urteil des BFH vom 9. März 1961 V 76/59 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961, 160) ist nicht erkennbar. Das FG hat sich bei seiner Entscheidung vielmehr ausdrücklich auf dieses Urteil gestützt und seine Grundsätze in einer eingehenden Würdigung auf den Streitfall angewendet.
Die Klägerin hat im übrigen bei Gegenüberstellung der maßgebenden Rechtssätze den vom BFH aufgestellten verkürzt wiedergegeben. Sie hat den vom FG - wie auch vom BFH - als entscheidend angesehenen ,,Obersatz", daß sich bei Inanspruchnahme einer staatlichen Zulage grundsätzlich der Antragsteller ,,um die Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen bemühen" müsse, weggelassen.
3. Schließlich kann die Revision auch nicht wegen etwaiger Verfahrensfehler zugelassen werden.
a) Mit der Rüge, das Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht vollständig gewürdigt worden, macht die Klägerin letztlich geltend, das FG habe sich - unter Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO - seine Meinung nicht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens gebildet.
Sie führt hierzu aus, das FG hätte es nicht dahingestellt sein lassen dürfen, ob B ein zweites Mal mit C telefoniert habe und was dabei gesprochen worden sei. Es hätte sich nämlich ergeben können, daß C eine unrichtige Auskunft über den erforderlichen Inhalt des Zulageantrages gegeben habe. Das FA hätte dann den dadurch entstandenen Nachteil jedenfalls durch die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wiedergutmachen müssen.
Diese Rüge führt nicht zum Erfolg. Das FG war nach Auffassung des Senats nicht zu einer weitergehenden Beweiswürdigung verpflichtet.
Hätte C wirklich geraten, den Antrag, wie geschehen (ohne jede Angabe zur Art und zu den Kosten der angeschafften oder hergestellten Wirtschaftsgüter), abzugeben, hätte B sich auf diese Auskunft nicht verlassen dürfen, ohne sich (auch so) dem Vorwurf schuldhaften Handelns auszusetzen. Denn B wußte aufgrund seines ersten Anrufs, daß C nur ein nachgeordneter Mitarbeiter des an sich zuständigen Beamten D war. Außerdem war ihm anläßlich dieses (ersten) Gesprächs die mangelnde Sachkunde des C bekannt geworden. B hätte einer evtl. Auskunft des C zum Antragsinhalt ebensowenig vertrauen dürfen wie er es hinsichtlich der Antragsfrist getan hatte. Er hätte sich auch insoweit an E weiterverbinden lassen müssen.
Hinzu kommt, worauf auch das FG hingewiesen hat, daß B und A selbst - unabhängig von der behaupteten Auskunft des C - zweifelten, ob ihr Antrag den gesetzlichen Mindestanforderungen genügte. Anders läßt es sich nicht erklären, weshalb sie bestrebt waren, das Antragsformular persönlich abzugeben und sich die Ordnungsmäßigkeit ihrer Antragstellung bestätigen zu lassen.
b) Ohne Erfolg rügt die Klägerin, daß die Annahme des FG, die Pflichtverletzung des B sei für die Fristversäumung kausal gewesen, auf einer unzulässigen Beweisunterstellung beruhe.
Selbst wenn C, wie von der Klägerin für die Schlüssigkeit ihrer Rüge unterstellt, die Ordnungsmäßigkeit des (persönlich) vorgelegten Antrags bescheinigt hätte, hätte B darauf nicht vertrauen dürfen. Denn C war, wie bereits ausgeführt, sachlich nicht zuständig und hatte auch nicht das erforderliche Fachwissen. B wußte dies.
Danach besteht kein Anhaltspunkt, daß das FG durch eine weitere Befragung des Zeugen C (auch zu diesem Vorbringen) zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. Sein Urteil kann nicht auf dieser Unterlassung beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 am Ende FGO).
c) Die Rüge, das FG habe hinsichtlich der Auswahl und der Beaufsichtigung des B - entgegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO - den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, geht ins Leere. Denn die Klägerin übersieht, daß B zu Recht als ,,Vertreter" i. S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 angesehen worden ist.
§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 meint auch den rechtsgeschäftlich bestellten Vertreter (siehe z. B. Tipke/Kruse, a. a. O., § 110 AO 1977 Tz. 22). B hatte nach den Feststellungen des FG Handlungsvollmacht. Da das angefochtene Urteil keine Aussagen zu etwaigen Beschränkungen enthält, ist davon auszugehen, daß es sich um eine sog. Generalhandlungsvollmacht (§ 54 Abs. 1, 1. Alternative des Handelsgesetzbuches - HGB -) handelte. Der nunmehrige Einwand der Klägerin, B sei nicht bevollmächtigt gewesen, sie allein zu vertreten, kann vom Senat nicht berücksichtigt werden. Es handelt sich insoweit um neues tatsächliches Vorbringen (§ 118 Abs. 2 FGO). Ungeachtet dessen dürfte eine bloße Schutzbehauptung vorliegen. Denn der Zeuge A hatte bei seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung vor dem FG ausgesagt, daß B befugt war, den Zulageantrag allein zu unterschreiben.
d) Das weitere Vorbringen der Klägerin zur Verletzung der Sachaufklärungspflicht (Unterlassen einer Besichtigung der örtlichen Verhältnisse beim FA) entspricht schon nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO). Die Klägerin hat nicht mitgeteilt, weshalb sie die Ortsbesichtigung nicht schon von sich aus im FG-Verfahren beantragt hatte (siehe hierzu Herrmann, a. a. O., Rdnr. 228, mit Rechtsprechungshinweis). Es ist auch nicht dargetan, welche Bedeutung das von der Klägerin erwartete Ergebnis dieser (weiteren) Beweisaufnahme für die Entscheidung des FG gehabt hätte.
Ungeachtet dessen übersieht die Klägerin, daß das FG eine Würdigung der Gesamtumstände vorgenommen und daraus auf ein Verschulden des B geschlossen hat. Es hat im übrigen die nun als untauglich hingestellten Maßnahmen (Klingeln, Klopfen an der Eingangstür und an den Fensterscheiben sowie erneutes Anrufen aus einer Telefonzelle) auch nur als Mindestforderung (,,einen derartig geringen Aufwand") angesehen. Von B hätte angesichts der finanziellen Bedeutung der Angelegenheit - es ging um eine Investitionszulage von über . . . DM - ein weit größeres Engagement erwartet werden dürfen.
Im übrigen ergeht die Entscheidung gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i. d. F. des Gesetzes zur Verlängerung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 3. Dezember 1987 (BGBl I 1987, 2442) ohne Angabe von Gründen.
Fundstellen
Haufe-Index 415860 |
BFH/NV 1988, 768 |