Leitsatz (amtlich)
Wird ein vorläufiger Bescheid, der Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, durch einen endgültigen Bescheid ersetzt und wird der endgültige Bescheid mit Einspruch und Klage angefochten, so kann das FG das Klageverfahren nicht bis zu einer Entscheidung im Revisionsverfahren gegen den vorläufigen Bescheid aussetzen. Die Aussetzung ist auch dann unzulässig, wenn sie unter dem Vorbehalt erfolgt, daß der BFH das Revisionsverfahren seinerseits aussetzt.
Normenkette
FGO § 74; AO § 100 Abs. 1 S. 1, § 225 S. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beschluß des FG, die Verhandlung in dem Verfahren gegen den endgültigen Einkommensteuerbescheid 1967 bis zu einer Entscheidung des BFH im Verfahren über den vorläufigen Einkommensteuerbescheid 1967 auszusetzen, zu Recht ergangen ist.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Beschwerdeführer) und seine Ehefrau hatten im Jahre 1967 eine Abfindung in Höhe von 20 000 DM erhalten. Der Beklagte (FA) veranlagte sie laut Vermerk auf dem Einkommensteuerbescheid vom 23. Juni 1969 für den Veranlagungszeitraum 1967 "vorläufig gemäß § 100 Abs. 1 AO". In den Erläuterungen zu diesem Bescheid gab das FA folgenden Hinweis: "Hinsichtlich einer etwaigen Steuerpflicht der Abfindung in Höhe von 20 000 DM ergeht der Bescheid vorläufig gemäß § 100 Abs. 1 AO."
Mit der - nach erfolglosem Einspruchsverfahren - hiergegen erhobenen Klage hat der Beschwerdeführer beantragt, den Vorläufigkeitsvermerk für unzulässig zu erklären und den Bescheid insoweit aufzuheben, hilfsweise, das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 1967 ohne die einschränkende Bestimmung der Vorläufigkeit, im übrigen aber mit unverändertem Inhalt zu erlassen. Das FG hat die Klage abgewiesen. Der Rechtsstreit ist in der Revisionsinstanz anhängig.
Mit dem endgültigen Steuerbescheid vom 12. August 1971 zog das FA die Abfindung in Höhe von 15 000 DM zur Einkommensteuer heran. Im Klageverfahren (Sprungklage gemäß § 45 FGO) - in dem der Beschwerdeführer geltend macht, es fehle dem endgültigen Bescheid die verfahrensrechtliche und der Besteuerung der Abfindung die materiell-rechtliche Grundlage -, erließ das FG gegen den Widerspruch der Beteiligten folgenden Beschluß: "Die Verhandlung wird bis zur Erledigung des beim BFH anhängigen Revisionsverfahrens oder bis zur Aussetzung der Verhandlung in diesem Revisionsverfahren durch den BFH ausgesetzt."
Gegen diesen Aussetzungsbeschluß hat der Beschwerdeführer Beschwerde eingelegt und beantragt, den Beschluß aufzuheben.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig (§ 128 Abs. 2 letzter Halbsatz FGO) und begründet.
Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
1. Vorgreiflich kann eine Entscheidung immer nur dann sein, wenn das aussetzende Gericht eine Entscheidung durch das bei einem anderen Gericht anhängige Verfahren erwarten darf (vgl. zu dem gleichlautenden § 148 [ZPO] Mittenzwei, Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen, 1970, S. 39 f., 49, mit weiteren Nachweisen). Mit einer solchen Entscheidung durfte das FG im Streitfall nicht rechnen. Denn der vorläufige Bescheid ist nur solange Gegenstand eines anderen Verfahrens, als der endgültige Bescheid noch nicht erlassen ist. Mit dessen Erlaß und für die Dauer seines Bestandes ist dieser alleinige Rechtsgrundlage für die Besteuerung des Beschwerdeführers. Insoweit sind die Grundsätze, die der Große Senat des BFH (Beschluß vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231) für das Verhältnis des Änderungsbescheides zum ursprünglichen Bescheid entwickelt hat, auch im Verhältnis endgültiger und vorläufiger Bescheid zu beachten.
Die vorläufige Veranlagung erfolgt unter dem Vorbehalt einer späteren endgültigen Entscheidung. Im vorläufigen Bescheid will das FA über den Steueranspruch noch nicht verbindlich entscheiden. Ihm muß deshalb stets ein endgültiger Bescheid nachfolgen (BFH-Urteil vom 26. Mai 1971 I R 4/70, BFHE 102, 356; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 225 AO Anm. 2). Das FA darf den angefochtenen Bescheid auch während des Steuerprozesses nach § 225 AO für endgültig erklären. Voraussetzung dafür ist nicht, daß dem Antrag des Steuerpflichtigen entsprochen wird (Tipke-Kruse, a. a. O., § 100 AO Anm. 10; vgl. aber auch v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 225 AO Anm. 6b). Der Steuerpflichtige kann diesen endgültigen Bescheid erneut anfechten (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 19. August 1969 VI R 261/67, BFHE 96, 458, BStBl II 1970, 11). Er kann in dem sich anschließenden Verfahren alle Einwendungen erheben, die gegen den Erstbescheid hätten geltend gemacht werden können. In diesem Verfahren ist darüber hinaus zu prüfen, ob der endgültige Bescheid als solcher hätte erlassen werden dürfen (vgl. BFH-Urteil vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445), soweit diese Prüfung nicht - wie z. B. in dem dem BFH-Urteil vom 25. Oktober 1973 IV R 80/72 (BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142) zugrunde liegenden Sachverhalt - wegen Unanfechtbarkeit des vorläufigen Bescheides ausgeschlossen ist. Dementsprechend hat der BFH bereits in seinem Urteil I R 4/70 darauf hingewiesen, daß ein endgültiger Bescheid - im Rahmen eines gemäß § 68 FGO gestellten Antrags - auch dann zum Gegenstand des Verfahrens wird, wenn er etwa unzulässigerweise über den vorläufigen Bescheid hinausgehe. Der vorläufige Bescheid scheidet auch in diesem Fall als Verfahrensgegenstand aus. Nichts anderes gilt in den Fällen, in denen ein Antrag nach § 68 FGO nicht gestellt ist, sondern der endgültige Bescheid in einem gesonderten Klageverfahren geprüft werden soll. Denn nicht dieser Antrag, sondern bereits der das bisherige Steuerrechtsverhältnis neu gestaltende endgültige Bescheid führt dazu, daß eine Entscheidung über dieses Steuerrechtsverhältnis nur noch im Verfahren gegen den endgültigen Steuerbescheid getroffen werden kann.
Der erkennende Senat läßt es im Streitfall dahinstehen, ob die Hauptsache im Verfahren gegen den vorläufigen Bescheid bereits mit Erlaß des endgültigen Bescheides erledigt ist (vgl. z. B. Tipke-Kruse, a. a. O., § 100 AO Anm. 10; v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 100 AO Anm. 35; Gräber, Deutsches Steuerrecht 1974 S. 131) und das FG deshalb nur noch eine Entscheidung über die Kostentragungspflicht (§ 138 Abs. 2 FGO) in dem beim BFH anhängigen Verfahren gegen den vorläufigen Steuerbescheid erwarten durfte. Denn auch dann, wenn die Hauptsache im Verfahren über den vorläufigen Bescheid erst mit Unanfechtbarkeit des endgültigen Bescheides erledigt ist (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 29. Januar 1970 IV 162/65, BFHE 99, 157, BStBl II 1970, 623, für einen Berichtigungsbescheid nach § 222 AO), konnte das FG nicht mit der Entscheidung einer im finanzgerichtlichen Verfahren präjudizierten Vorfrage rechnen. In diesem Fall wäre - in entsprechender Anwendung des § 74 FGO (vgl. BFH-Beschluß GrS 1/72) - eine Aussetzung durch das mit dem vorläufigen Bescheid befaßte Gericht veranlaßt. Denn eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieses vorläufigen Bescheides ginge ins Leere, wenn das FG die Voraussetzungen für den Erlaß eines Änderungsbescheides - und damit den Fortbestand seiner Gestaltungswirkung - bejaht.
2. Auch soweit das FG die Verhandlung ausdrücklich nur bis zu einer evtl. Aussetzung der Verhandlung im Revisionsverfahren gegen den-vorläufigen Bescheid ausgesetzt hat, findet der Aussetzungsbeschluß in § 74 FGO keine Rechtsgrundlage.
§ 74 FGO verlangt eine Entscheidung des anderen Gerichts. Entscheidung in diesem Sinne ist nur eine End entscheidung; denn nur eine solche ist - entsprechend dem Sinn und Zweck der Aussetzung - zur Klärung eines Rechtsverhältnisses geeignet, auf die das aussetzende Gericht bei seiner Entscheidung ohne weitere Prüfung zurückgreifen kann. Ein Aussetzungsbeschluß kann diesen Zweck nicht erfüllen. Sein Sinn ist es gerade, das Verfahren nicht abzuschließen; eine erhebliche Vorfrage bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des endgültigen Bescheides, auf die es bei der Aussetzung allein ankommt (vgl. z. B. Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl., § 148 Anm. 1 A; Zöllner, Zivilprozeßordnung, 11. Aufl., § 148 ZPO Anm. II 1; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 74, Rdnr. 9, die jeweils auf den rechtlichen Einfluß abstellen, sowie z. B. Tipke-Kruse, a. a. O., § 74 FGO Anm. 2; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl., § 94 Anm. 1, die auf die rechtslogisch bestehende Abhängigkeit hinweisen), kann er nicht klären.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens wird dem FG übertragen (§ 143 Abs. 2 FGO entspr.).
Fundstellen
Haufe-Index 71081 |
BStBl II 1975, 211 |