Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährungshemmung durch kassatorische BFH-Entscheidung
Leitsatz (NV)
1. Die verjährungshemmende Wirkung einer gerichtlichen Entscheidung gemäß § 171 Abs. 3 Satz 3 AO wird auch durch kassatorische Entscheidungen des BFH ausgelöst.
2. Wird ein Verwaltungsakt wegen ört licher Unzuständigkeit der erlassenden Behörde durch gerichtliche Entscheidung aufgehoben, so ist auch der danach von der zuständigen Behörde erlassene Ersatz bescheid "auf Grund" der gerichtlichen Entscheidung ergangen (§ 171 Abs. 3 Satz 3 AO).
3. § 174 Abs. 4 AO ist auch anwendbar, wenn die irrige Beurteilung eines Sachverhalts nur von der Steuerbehörde zu vertreten ist.
Normenkette
AO 1977 § 171 Abs. 3-4
Gründe
Die Beschwerde ist frist- und im wesent lichen auch formgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet und war zurückzuweisen.
1. Den von dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) dargelegten Rechtsfragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
a) Es ist nicht klärungsbedürftig, ob auch ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) die verjährungshemmende Wirkung gemäß § 171 Abs. 3 Satz 3 der Abgabenordnung (AO 1977) auslösen kann. Die Rechtsfrage läßt sich ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten (vgl. BFH-Beschluß vom 26. September 1991 VIII B 41/91, BFHE 165, 287, BStBl II 1991, 924).
§ 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 ist anwendbar "in den Fällen des § 100 Abs. 1 Satz 1 ... der Finanzgerichtsordnung ... ". Auch kassatorische Entscheidungen des BFH sind "Fälle des § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanz gerichtsordnung". § 121 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verweist für das Revisionsverfahren auf die Vorschriften über Urteile im ersten Rechtszug, soweit sich aus den Vorschriften über die Revision nichts anderes ergibt. Zwar enthält § 126 FGO Vorschriften über die möglichen Entscheidungen des BFH. Im Streitfall beruhte die Entscheidung des BFH vom 20. Juni 1990 I R 157/87 (BFHE 161, 117, BStBl II 1992, 43) auf § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO. Diese Vorschrift enthält jedoch nichts über Voraussetzungen und Inhalt einer rein kassatorischen Entscheidung des Revisiongerichts. Nähere Bestimmungen dazu enthält nur § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Unter den in § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 genannten Fällen des § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO sind abstrakt alle Fälle rein kassatorischer Entscheidungen zu verstehen.
b) Es bedarf ferner keiner Klärung, daß als "Steuerbescheid auf Grund" einer reinen Kassationsentscheidung auch der Steuer bescheid eines anderen Finanzamts (FA) anzusehen ist, wenn der erste Bescheid wegen örtlicher Unzuständigkeit des FA aufgehoben wurde.
Für die Anwendung des § 171 Abs. 3 Satz 3 AO 1977 ist lediglich von Bedeutung, daß der den Verjährungsablauf hemmende Steuerbescheid "auf Grund" der Kassationsentscheidung ergangen ist. Es muß somit ein kausaler Zusammenhang zwischen der Kassationsentscheidung und dem danach ergangenen Steuerbescheid bestehen. Bei einer Kassation wegen örtlicher Unzuständigkeit des den ersten Bescheid erlassenden FA muß der auf Grund der Kassationsentscheidung ergehende korrigierende Steuerbescheid zwangsläufig von einem anderen FA ergehen. Ein Wechsel des FA ist zum kausalen Zusammenhang zwischen Kassationsentscheidung und dem darauf beruhenden Steuerbescheid unerläßlich. Im Streitfall wird die Kausalität und die Identität des zu bewertenden Sach verhalts auch dadurch deutlich, daß der nunmehr streitige Nachforderungsbescheid den vom unzuständigen FA erlassenen Bescheid inhaltlich wiederholt, also lediglich den vom BFH beanstandeten Zuständigkeitsmangel korrigiert (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Tz. 16 a).
c) Es ist nicht klärungsbedürftig, ob § 174 Abs. 4 AO 1977 auch anwendbar ist, wenn die irrige Beurteilung des Sachverhalts nur die Sphäre der Steuerbehörde berührt.
Der Wortlaut der Vorschrift gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme des vom Kläger vermuteten Verschuldens- oder Verursachungsprinzips. Vielmehr fordert der Tatbestand lediglich eine irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts durch die Steuerbehörde. Eine Beteiligung des Steuerpflichtigen an der Entstehung dieses Irrtums ist aus dem Tatbestand der Vorschrift nicht zu entnehmen. Diese Auffassung wird auch fast ausschließlich im Schrifttum vertreten (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO 1977, Tz. 15, 16; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 174 Tz. 62; Brüning, Die widerstreitende Steuerfestsetzung S. 81 f.; Wedelstädt, Der Betrieb 1988, 2228). Die davon abweichende Auffassung von Weber-Grellet (Die Steuerliche Betriebsprüfung 1982, 29, 35 f.) hat in der Literatur keine Unterstützung gefunden. Zwar hat das Finanzgericht (FG) Niedersachsen in der vom Kläger zitierten Entscheidung vom 4. Februar 1986 V 632/85 (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1986, 371) eine im Ergebnis übereinstimmende Auffassung vertreten. Dieses Urteil ist jedoch vom BFH -- wenn auch aus anderen Gründen -- aufgehoben worden (BFH- Urteil vom 11. April 1991 V R 40/86, nicht veröffentlicht -- NV --). Das FG Rheinland- Pfalz (Urteil vom 20. August 1986 1 K 355/85) und das FG Düsseldorf (Urteil vom 8. Juli 1987 III 620/84, NV) lehnen die Auffassung des FG Niedersachsen ab. Der BFH hat in einer Reihe von zeitlich nach der Entscheidung des Niedersächsischen FG ergangenen Urteilen entsprechend dem Wortlaut des § 174 Abs. 4 AO 1977 der Verursachung des Irrtums der Finanzbehörde keine Bedeutung beigemessen (BFH-Urteile vom 22. Dezember 1988 V B 148/87, BFH/NV 1990, 341; vom 26. Oktober 1989 IV R 25/88, BFHE 159, 37, BStBl II 1990, 373, und vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387).
d) Für die weitere als grundsätzlich aufgeworfene Rechtsfrage, ob § 174 Abs. 4 AO 1977 auch bei mehrmaliger unrichtiger Beurteilung eingreifen kann, fehlt es an der Darlegung (vgl. § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO) einer für den Streitfall bedeutsamen, klärungsbedürftigen Rechtsfrage. Die Klärungsbedürftigkeit ist nicht mit dem Hinweis auf den BFH-Beschluß vom 5. Februar 1987 V B 53/85 (BFH/NV 1987, 421) und die dort zitierte Literatur schlüssig zu begründen, da dieser die andersartige Frage betrifft, "ob die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO 1977 es auch dann noch gestattet, durch Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen aus einem Sachverhalt zu ziehen, wenn bei Aufhebung oder Änderung des direkt zu beurteilenden Steuerbescheids die Voraussetzungen zur Änderung des Steuerbescheids, in dem die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden sollten, nicht mehr bestehen." Die dort letztlich entscheidende Frage, ob § 173 Abs. 2 AO 1977 einer späteren Änderung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 entgegensteht, ist für den Streitfall ohne Bedeutung.
Dieser Beschluß ergeht im übrigen gemäß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 (BGBl I, 1861, BStBl I, 932) i. d. F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) ohne Begründung.
Fundstellen
Haufe-Index 419711 |
BFH/NV 1995, 273 |