Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs durch fehlende Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung; zur Dokumentation gewillkürten Betriebsvermögens bei Einnahme-Überschuss-Rechnung
Leitsatz (NV)
- Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalles ergibt, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat.
- Erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichte, nicht vom Gericht nachgelassene Schriftsätze sind grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen. Ob das FG deshalb die mündliche Verhandlung wiedereröffnet, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Dieses Ermessen ist nur dann auf Null reduziert, wenn durch die Ablehnung der Wiedereröffnung wesentliche Prozessgrundsätze verletzt werden würden.
- Ungeachtet eines Antrages der Beteiligten muss das FG auf jeden Fall von Amts wegen darüber beschließen, ob es aufgrund des nachgereichten Schriftsatzes die mündliche Verhandlung wiedereröffnet oder dies nicht für geboten erachtet. Insbesondere muss es in nachvollziehbarer Weise zum Ausdruck bringen, dass es entsprechende Erwägungen angestellt hat. Anderenfalls lässt sich nicht nachprüfen, ob das Gericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Die Prozessbeteiligten haben zur Wahrung ihres rechtlichen Gehörs darauf einen Anspruch.
- Auch wenn § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO für die Entscheidung an sich einen Beschluss vorsieht, darf das FG die Ablehnung der Wiedereröffnung auch im Urteil selbst begründen.
Normenkette
EStG § 4 Abs. 3, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 1, Abs. 2; FGO § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 3 S. 2, § 96 Abs. 2, § 116 Abs. 6, § 119 Nr. 3, § 126 Abs. 4; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 17.01.2003; Aktenzeichen 1 K 2589/99 E) |
Tatbestand
I. Streitig ist, ob der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) mit dem Erwerb und Verkauf von vier ―zum Teil nach Erwerb von ihm selbst― bebauter Grundstücke einen gewerblichen Grundstückshandel betrieben hat.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Grundstücke B und G 26 und 24 grundsätzlich als Zählobjekte im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels in Betracht kommen. Streitig ist die Zuordnung des vom Kläger 1991 erworbenen und bis 1993 mit einem Bürogebäude, Lagerhallen und Parkplätzen bebauten und 1995 veräußerten Grundstücks I.
Der Kläger hat vorgetragen, geplant zu haben, das Objekt an die M-GmbH, an der er zu 100 v.H. beteiligt gewesen ist, mit dem Ziel, eine Betriebsaufspaltung zu begründen, zu vermieten. Erst nach der Fertigstellung der Gebäude habe sich nur ein Teilbedarf der M-GmbH ergeben, weshalb er, der Kläger, die übrigen Gebäudeteile fremdvermietet habe. Eine beim Kläger durchgeführte Betriebsprüfung nahm aufgrund der getroffenen Feststellungen unter Einbeziehung des Objektes I einen gewerblichen Grundstückshandel an, weil die Betriebsaufspaltung bereits mit der Abmeldung des Gewerbes der M-GmbH am 26. Mai 1994 beendet worden sei und dem Kläger insoweit auch kein Verpächterwahlrecht zugestanden habe. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) erfasste sowohl bei der Einkommensteuer 1990 als auch bei der Gewerbesteuer für 1990 bis 1993 die Vermietungseinnahmen als gewerbliche Einkünfte, machte die in Anspruch genommenen AfA-Beträge rückgängig und setzte für das Objekt B einen ―der Höhe nach unstreitigen― laufenden Veräußerungsgewinn in Höhe von … DM an. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verhandelte die Einkommensteuer 1990 und die Gewerbesteuermessbeträge 1990 bis 1993 gemeinsam und nahm im Urteil zu den Gewerbesteuermessbeträgen 1990 bis 1993 sowohl auf den Tatbestand als auch auf die Entscheidungsgründe des zur Einkommensteuer 1990 ergangenen Urteils Bezug. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung hat die Bevollmächtigte des Klägers unter dem 23. Januar 2003 nochmals schriftsätzlich zur Beurteilung des Objekts I als Zählobjekt im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels Stellung genommen, und u.a. geltend gemacht, das gesamte Objekt sei Betriebsvermögen im Rahmen der Betriebsaufspaltung gewesen und sei auch durch die buchmäßige Erfassung der gesamten Finanzierungskosten ab 1991 als negative gewerbliche Einkünfte nachweisbar diesem Betriebsvermögen zugeordnet gewesen.
Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger Verfahrensverstöße des FG.
Das FG habe seine Amtsermittlungspflicht und die Pflicht, das Gesamtergebnis des Verfahrens seiner Entscheidung zugrunde zu legen, verstoßen. Insbesondere habe das FG aber seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es aufgrund des nachgereichten Schriftsatzes vom 23. Januar 2003 weder die mündliche Verhandlung wiedereröffnet habe noch begründet habe, warum eine Wiedereröffnung nicht geboten sei. Indes sei es zu einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet gewesen; denn in dem Schriftsatz vom 23. Januar 2003 sei erstmals erläutert worden, weshalb das Grundstück I von Anfang an in vollem Umfang als Betriebsvermögen des Besitzunternehmens einzustufen gewesen sei.
Aufgrund des bisherigen Vorbringens und dieses späteren Vortrags sei überdies dem FG mangelnde Sachaufklärung vorzuwerfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung des FG nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
1. Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG―; § 96 Abs. 2 FGO) dadurch verletzt, dass es über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung aufgrund des nachgereichten Schriftsatzes des Klägers vom 23. Januar 2003 nicht entschieden hat.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalles ergibt, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 19. Februar 1993 III R 101/89, BFH/NV 1994, 555). Der BFH hat die Nichtberücksichtigung nachgereichter Schriftsätze grundsätzlich als verfahrensfehlerhaft angesehen, wenn dies zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs oder der finanzgerichtlichen Sachaufklärungspflicht geführt hat (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1998 III R 42/98, BFH/NV 1999, 509).
Zwar sind Schriftsätze, die erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingereicht werden, grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen. Allerdings kann das FG die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen (§ 93 Abs. 3 Satz 2 FGO), um nachträgliche Schriftsätze noch zu berücksichtigen. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung steht danach grundsätzlich im Ermessen des Gerichts (BFH-Urteil vom 4. April 2001 XI R 60/00, BFHE 195, 9, BStBl II 2001, 726). Dieses Ermessen ist allerdings dann auf Null reduziert, wenn durch die Ablehnung der Wiedereröffnung wesentliche Prozessgrundsätze verletzt würden.
In jedem Fall muss das FG aber von Amts wegen beschließen, ob es aufgrund des eingereichten Schriftsatzes die mündliche Verhandlung wiedereröffnet oder die Wiedereröffnung nicht für geboten erachtet. Es muss insbesondere zum Ausdruck bringen, dass entsprechende Erwägungen angestellt worden sind; denn anderenfalls lässt sich nicht nachprüfen, ob das Gericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Auf diese Ausführungen haben die Prozessbeteiligten einen Anspruch. Nur dann ist auch gewährleistet, dass das Recht auf Gehör gewahrt worden ist (BFH-Beschlüsse vom 8. Oktober 2003 VII B 321/02, BFH/NV 2004, 499, 500, m.w.N.; vom 25. April 1996 VIII B 30/95, BFH/NV 1997, 118).
Das Gesetz sieht zwar in § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO für die Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Beschluss des Gerichts vor. Es reicht aber auch aus, wenn das FG seine Entscheidung, die mündliche Verhandlung nicht wieder zu eröffnen, im Urteil selbst begründet (BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 24/00, BFHE 203, 523, BStBl II 2004, 89, m.w.N.).
b) Im Streitfall hat das FG zwar im Tatbestand auf S. 11 des Urteils zur Einkommensteuer 1990 ausgeführt, die Prozessbevollmächtigte des Klägers habe nach Schluss der mündlichen Verhandlung nochmals zur Sache Stellung genommen und ihre bereits mündlich vorgetragene Auffassung, das Grundstück I sei nicht als Zählobjekt zu berücksichtigen, schriftlich dargestellt. Das FG hat sodann wegen der Einzelheiten auf den Schriftsatz vom 23. Januar 2003 Bezug genommen. In den Entscheidungsgründen hat das FG (S. 16 des Urteils unter II. 3. d zur Einkommensteuer 1990) weiterhin ausgeführt, abweichend von der Auffassung der Betriebsprüfung, die insoweit auch der Kläger in Frage stelle (Schriftsatz vom 23. Januar 2003), habe die Betriebsaufspaltung allerdings nicht bereits mit dem Erwerb des Grundstücks oder seiner Bebauung, sondern erst mit dem Abschluss des Mietvertrages über die der M-GmbH tatsächlich überlassene Teilfläche begonnen.
Mit diesen Ausführungen hat das FG indes nicht in nachprüfbarer Weise darüber entschieden, weshalb aufgrund des nachträglichen Schriftsatzes des Klägers vom 23. Januar 2003 die mündliche Verhandlung nicht wieder zu eröffnen gewesen sei und von welchen Erwägungen es sich insoweit hat leiten lassen.
Der Sitzungsniederschrift vom 17. Januar 2003 über die mündliche Verhandlung ist bereits nicht zu entnehmen, ob im Rahmen der Erörterung der Streitsache mit den Beteiligten die buchmäßige Behandlung des Grundstücks I, wie sie im nachgereichten Schriftsatz vom 23. Januar 2003 auf S. 1 dargestellt wird, tatsächlich auch Gegenstand der Erörterung gewesen ist.
Das FG verneint eindeutig und objektiv erkennbar auf die Vorbereitung einer endgültig beabsichtigten Überlassung des Gesamtgrundstücks an die M-GmbH gerichtete Tätigkeiten, obwohl im Betriebsprüfungs-Bericht vom 3. Juli 1996 unter Ziff. II. 13. d ausgeführt wird, der Steuerpflichtige (Kläger) habe das gesamte Grundstück ab der Anschaffung als Betriebsvermögen behandelt, die ursprüngliche Absicht, das gesamte Grundstück im Rahmen einer Betriebsaufspaltung mit der M-GmbH zu nutzen, sei indes nicht verwirklicht worden. Jedoch komme für die fremdvermieteten Grundstücksteile eine Entnahme durch Nutzungsänderung auch bei Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht in Betracht (§ 4 Abs. 1 Satz 4 EStG).
Sodann verneint das FG eine klare und nachvollziehbare Zuordnung im Rahmen der Einnahme-Überschuss-Rechnung durch Buchung oder sonstige Einlagehandlung, aus der von Anfang an hätte geschlossen werden können, in welchem Umfang das Grundstück I als wesentliche Betriebsgrundlage an die M-GmbH habe überlassen werden sollen und in welchem Umfang es als gewillkürtes Betriebsvermögen hätte behandelt werden sollen.
Das FG vertritt schließlich die Auffassung, der Kläger habe von Anfang an die Absicht gehabt, das Grundstück nur teilweise an die M-GmbH zu vermieten und es im Übrigen anderweitig zu nutzen.
Der Kläger hat im Schriftsatz vom 23. Januar 2003 demgegenüber ausgeführt, die gesamten Finanzierungskosten für das Grundstück seien in den Einkommensteuererklärungen für 1991 und 1992 als negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb erklärt und der gesamte Grund und Boden sowie das im Bau befindliche Gebäude seien in der Einnahme-Überschuss-Rechnung für 1992 als Betriebsvermögen ausgewiesen worden. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Erwägungen das FG den erstmals in dieser deutlichen Weise unterbreiteten Vortrag des Klägers zur buchmäßigen Behandlung des Grundstücks als offenbar unbeachtlich beurteilt hat und auch keine Veranlassung gesehen hat, im Wege der Amtsermittlung diesen Sachverhalt gegebenenfalls entsprechend aufzuklären.
Ergibt sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt zum großen Teil aus den Steuerakten, so wird die Sachaufklärungspflicht des FG auch nicht durch eine eventuelle Verletzung der Mitwirkungspflicht der Beteiligten gemindert (BFH-Urteil vom 30. Juli 2003 X R 28/99, BFH/NV 2004, 201). Vielmehr hat das Gericht von Amts wegen den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten und unter Heranziehung aller ihm bekannten bzw. erkennbaren Tatsachen umfassend zu würdigen.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat sich zwar ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 17. Januar 2003 nur die Rücknahme der Klage bis zum 24. Januar 2003 vorbehalten. Das FG hatte im Übrigen auch kein Schriftsatzrecht nachgelassen. Ebenso wenig hatte der Kläger im Schriftsatz vom 23. Januar 2003 die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ausdrücklich beantragt. Gleichwohl hatte das FG von Amts wegen entweder durch gesonderten Beschluss oder im Urteil darüber zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 195, 9, BStBl II 2001, 726), ob es aufgrund dieses Schriftsatzes die mündliche Verhandlung wiedereröffnen sollte oder warum es eine solche Wiedereröffnung nicht für geboten hielt (BFH-Urteile vom 29. November 1990 IV R 30/90, BFH/NV 1991, 531; vom 29. November 1985 VI R 13/82, BFHE 145, 125, BStBl II 1986, 187, unter 2. der Gründe).
Im Streitfall ist der Verfahrensverstoß auch nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der sog. Ergebnisrichtigkeit entsprechend § 126 Abs. 4 FGO unbeachtlich.
§ 126 Abs. 4 FGO ist auch im Beschwerdeverfahren entsprechend anwendbar (BFH-Beschluss vom 20. November 2003 VII B 124/03, BFH/NV 2004, 362).
Kommt es nämlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auf die nachträglich vorgebrachten Tatsachen an, so kann das Rechtsmittel, auch wenn die Entscheidungsgründe eine Verletzung des geltenden Rechts ergeben, sich die Entscheidung aber im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig darstellt, zurückzuweisen sein. Zwar ist § 126 Abs. 4 FGO grundsätzlich auf Verfahrensmängel, die absolute Revisionsgründe i.S. des § 119 FGO enthalten, nicht anzuwenden. Jedoch gilt für die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO) dann eine Ausnahme, wenn sich die Verletzung nur auf einzelne tatsächliche Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommen kann.
Dies lässt sich indes für den Streitfall nicht annehmen.
Der BFH hat mit Urteil vom 2. Oktober 2003 IV R 13/03 (BFHE 203, 373, BFH/NV 2004, 132) unter Änderung der bisherigen Rechtsprechung die Bildung gewillkürten Betriebsvermögens auch bei einer Gewinnermittlung durch Einnahme-Überschuss-Rechnung zugelassen. Dafür ist zwar im Zeitpunkt des Erwerbs oder bei Einlage ein Zuordnungsakt notwendig, durch den die Widmung unmissverständlich dokumentiert wird. Indes muss dies nicht durch Aufnahme in ein betriebliches Bestandsverzeichnis geschehen, sondern kann sich auch schon aus den Geschäftsaufzeichnungen ergeben.
2. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruhen auf § 116 Abs. 6 FGO.
Fundstellen