Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine vorläufige Milchquotenzuteilung für Nichtvermarkter
Leitsatz (NV)
Lehnt das HZA bei Nichtvorlage einer entsprechenden Härtefallbescheinigung der zuständigen Landesstelle für einen Nichtvermarkter die Feststellung einer erhöhten Milchquote ab, so ist diese Entscheidung in ihrer Rechtmäßigkeit nicht ernstlich zweifelhaft und hat auch keine unbillige Härte zur Folge
Normenkette
FGO § 69; EWGV 857/84 Art. 4 Abs. 2 Buchst. c; MGVO § 9 Abs. 2; GG Art. 108 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) bewirtschaftet einen Hof, auf dem seit Jahrzehnten Milchwirtschaft betrieben wird. Die Molkerei, an die sie die von ihr erzeugte Milch abliefert, berechnete mit Schreiben vom 20. Juni 1984 eine Anlieferungs-Referenzmenge nach der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) in Höhe von 25 600 kg Milch jährlich. Dagegen legte die Antragstellerin Einspruch beim Antragsgegner und Beschwerdeführer (Hauptzollamt - HZA -) ein. Mit Bescheid vom 17. Oktober 1985 bescheinigte das Amt für Landwirtschaft, daß das Einkommen der Antragstellerin zu mehr als 50 % aus der Landwirtschaft stamme (§ 4 Abs. 3 Nr. 2, § 9 Abs. 2 Nr. 4 MGVO). Darüber hinaus wies die Regierung von . . . der Antragstellerin nach § 6 Abs. 8 MGVO eine zusätzliche Referenzmenge von 5 000 kg mit Bescheinigung vom 29. Oktober 1985 zu. Schließlich wurde der Antragstellerin mit Bescheinigung vom 18. Dezember 1985 mit Wirkung vom 15. September 1985 eine zusätzliche Referenzmenge von 33 300 kg übertragen, die auf der Zupacht eines Betriebes beruht. Daraufhin setzte das HZA die Referenzmenge durch Einspruchsentscheidung vom 28. April 1986 auf 65 900 kg fest. Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das HZA ab; die Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Die Antragstellerin beantragte beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung der Referenzmengenfeststellung mit der Maßgabe auszusetzen, daß bei ihr einstweilen von einer Referenzmenge von 106 500 kg auszugehen sei. Der Antrag hatte Erfolg. Das FG begründete seinen Beschluß im wesentlichen wie folgt:
Die Antragstellerin gehöre zu den Erzeugern, denen aufgrund Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 857/ 84 (VO Nr. 857/84) des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 90/13) zur erfolgreichen Umstrukturierung der Milcherzeugung eine zusätzliche Referenzmenge zugeteilt werden könne, da es sich bei dem Betrieb um einen Grünlandbetrieb handle, der dauerhaft nur zur Heuwirtschaft geeignet sei. Die Förderung des Betriebes nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84 sei um so mehr angezeigt, als sich die Situation der Antragstellerin nicht wesentlich von der eines Junglandwirtes unterscheide, die nach Art. 3 Nr. 2 VO Nr. 857/84 als ,,besondere Situation" anerkannt sei. Es sprächen gewichtige Gründe dafür, daß der Antragstellerin aufgrund der bei ihr vorliegenden Gegebenheiten im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84 nicht nur eine zusätzliche Referenzmenge zugeteilt werden könne, sondern daß sie bei einer EWG-vertrags- und grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift Anspruch auf die Zuteilung einer Referenzmenge in Höhe von zusätzlich 40 600 kg jährlich habe, die der Struktur ihres Betriebes angemessen sei. Die weitere Begründung dieses Beschlusses entspricht im wesentlichen der Begründung des Beschlusses des FG München vom 11. Juni 1986 III 47/85 (Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1986, 278), den der Senat mit Beschluß vom 17. Februar 1987 VII B 136/86 (BFH / NV 1987, 678) aufgehoben hat.
Das FG hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Das HZA begründet seine Beschwerde - der das FG nicht abgeholfen hat - wie folgt: Nach den Entscheidungen des Senats vom 17. Dezember 1985 VII B 116/85 (BFHE 145, 289) und vom 28. Oktober 1986 VII R 41/86 (BFHE 148, 84) dürfe in Härtefällen die Referenzmenge nur bei Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung der Landesstelle nach § 9 Abs. 2 MGVO heraufgesetzt werden. Im Streitfall sei eine solche Bescheinigung bisher nicht vorgelegt worden. Dem Begehren der Antragstellerin auf Zuteilung einer höheren als der zur Zeit festgesetzten Referenzmenge könne somit nicht entsprochen werden. Das HZA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und (sinngemäß) den Antrag abzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Zur Begründung führt sie im wesentlichen folgendes aus:
Die Auffassung des Senats im Urteil im BFHE 148, 84 werde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) nicht geteilt. Ablichtung des Urteils dieses Gerichts vom 25. Mai 1987 werde beigefügt. Die weitere Auffassung des Senats, die MGVO begründe keine Zuständigkeit der Landesverwaltungen, sei unrichtig. Ohne die Regelungen der MGVO hätte der Landesgesetzgeber ein Bescheinigungsverfahren nicht eingeführt. Aus § 9 Abs. 2 MGVO ergebe sich die generelle Zuständigkeit der Landesverwaltungen. Für eine solche Regelung habe der Verordnungsgeber keine Ermächtigung gehabt. Auch die Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei unrichtig, die Mitwirkung der Landesstellen im Bescheinigungsverfahren sei keine Finanzverwaltung i. S. des Art. 108 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Sei die Landesstelle zum Erlaß eines Grundlagenbescheides befugt, der Besteuerungsgrundlagen feststelle, so sei die Erteilung der Bescheinigung nicht lediglich eine Mitwirkung im Vorfeld der Abgabenerhebung.
Mit Schriftsatz vom 4. September 1987 legte die Antragstellerin Ablichtung eines Schreibens des Vorsitzenden des 3. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. August 1987 vor in einer Streitsache, in der es offenbar um das Verpflichtungsbegehren eines Milcherzeugers gegen den Freistaat Bayern auf Ausstellung einer Bescheinigung zum Erhalt einer höheren Milchquote geht. In diesem Schreiben wird die Frage aufgeworfen, ob die Regelung der §§ 9 Abs. 2, 10 Abs. 3 Satz 2 MGVO ,,über das den zuständigen Landesstellen übertragene Bescheinigungsverfahren " von der Ermächtigung in § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen vom 31. August 1972 (MOG 1972) gedeckt sei; sei das nicht der Fall, so richte sich das Verpflichtungsbegehren gegen eine unzuständige Stelle und könne schon aus diesem Grund keinen Erfolg haben.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung des Antrags.
Zu Unrecht hat das FG die Voraussetzungen des § 69 Abs. 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für gegeben erachtet. An der Rechtmäßigkeit des Feststellungsbescheids des HZA bestehen weder ernstliche Zweifel noch haben die Bescheide eine unbillige Härte zur Folge. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 148, 84, in dem er sich auch mit den Argumenten der Vorentscheidung auseinandergesetzt hat.
In dem von der Antragstellerin zitierten Urteil vom 25. Mai 1987 (nicht veröffentlicht) hat der BayVGH die Auffassung vertreten, das Bescheinigungserfordernis nach § 9 MGVO sei auf bestimmte ausdrückliche und abschließende Regelungen des Gemeinschaftsrechts beschränkt; soweit gerügt werde, es fehle an einer allgemeinen Härteklausel, müsse das zuerst vor den Finanzbehörden geltend gemacht und danach ggf. die Hilfe der FG beansprucht werden. Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Wie er in seinem Urteil in BFHE 148, 84, 87 näher begründet hat, gilt das Bescheinigungserfordernis nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO für jede gemeinschaftsrechtliche Härtefallregelung, d. h. auch für eine etwaige ungeschriebene, durch Auslegung dem Recht zu entnehmende und über die Gerichte unter Berufung auf Verfassungsrecht zu erstreitende Regelung, die für ein außergewöhnliches Ereignis eine besondere Referenzmengenzuteilung vorsieht. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch der Umstand, daß die VO Nr. 857/84 - die zu den in §§ 1, 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO genannten Rechtsakten gehört - selbst die aufgezählten Härtefälle nicht als abschließend betrachtet; denn nach Art. 3 Unterabsatz 3 dieser Verordnung kann ,,die Aufzählung der Situationen nach Unterabsatz 2 . . . nach dem Verfahren des Art. 30 der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 . . . ergänzt werden". Diese Auslegung des § 9 Abs. 2 Nr. 1 MGVO ist auch aus den in dem Urteil in BFHE 148, 84, 87 genannten Gründen sinnvoll; denn falls von der Existenz eines ungeschriebenen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Härtefalltatbestandes auszugehen wäre, müßte dieser mit Sicherheit gewisse agrarspezifische Einschränkungen und Kautelen enthalten, deren Vorliegen zweckmäßigerweise von den sachverständigen örtlichen Landesbehörden bescheinigt werden sollte. Da dem so ist, kann hier dahingestellt bleiben, ob sich die Antragstellerin überhaupt auf die Existenz eines solchen allgemeinen Härtefalltatbestandes beruft oder ob sie nur rügt - wofür die Ausführungen des FG sprechen -, daß der spezielle Tatbestand des Art. 4 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 857/84 auf ihren Fall nicht angewendet worden ist.
Die Auffassung des Senats, daß die Mitwirkung der Landesstellen im Rahmen der Milch-Garantiemengen-Regelung nicht Teilhabe an der Finanzverwaltung i. S. des Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG ist (vgl. BFHE 148, 84, 85), steht nicht im Widerspruch zu der in derselben Entscheidung begründeten Auffassung des Senats, die Bescheinigung der Landesstellen nach § 9 Abs. 2 MGVO sei als Grundlagenbescheid i. S. des § 171 Abs. 10 der Abgabenordnung (AO 1977) anzusehen (BFHE 148, 84, 88). Diese Bescheinigungen gehen nur auf Fragen ein, die inhaltlich spezifisch landwirtschaftlicher Natur sind und das Steuerrecht nur mittelbar berühren. Ihre Ausstellung kann daher genausowenig als Mitwirkung bei der Abgabenerhebung angesehen werden wie die Ausstellung der zahlreichen sonstigen Bescheinigungen nichtabgabenrechtlichen Inhalts durch andere als Steuerbehörden, die nach dem speziellen Steuerrecht bei der Steuererhebung eine Rolle spielen (vgl. die Aufzählung in BFHE 148, 84, 86 und z. B. BFH-Urteile vom 29. August 1986 III R 71/82, BFHE 147, 572, BStBl II 1986, 920, und vom 20. März 1987 III R 16/82, BFHE 149, 371, BStBl II 1987, 506). Die rechtliche Qualifikation dieser Bescheide als Grundlagenbescheide im Sinne der AO 1977 vermag daran nichts zu ändern (so im Ergebnis auch das Urteil des BayVGH vom 20. Februar 1987 9 B 85 A. 3134, Bayerische Verwaltungsblätter - BayVBl - 1987, 339, 340).
Die MGVO begründet auch keine Zuständigkeit der Landesverwaltungen. § 2 Abs. 1 Satz 2 MGVO (a. F.) läßt ausdrücklich die Zuständigkeit der Landesstellen unberührt. § 9 Abs. 2 MGVO spricht nur von der ,,zuständigen Landesstelle", ohne deren Zuständigkeit zu begründen. Ob sich die Zuständigkeit der Bayerischen Landeslandwirtschaftsbehörden für die Erteilung der Bescheinigungen nach § 9 Abs. 2 MGVO aus der Regelzuständigkeit der Landesbehörden nach Art. 83 GG herleiten läßt (so wohl BayVGH in BayVBl 1987, 339, 340) oder ob diese Behörden deswegen nicht zuständig sind, weil der Freistaat Bayern - anders als z. B. das Land Niedersachsen (vgl. Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1984, 173) - keine spezielle Zuständigkeitsregelung getroffen hat, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden. Denn auch wenn man davon auszugehen hätte, den Bayerischen Landeslandwirtschaftsstellen fehlte die Zuständigkeit für die Ausstellung der Bescheinigungen, änderte das nichts an der Gültigkeit der Regelung der MGVO, wonach die Vorlage einer Bescheinigung der zuständigen Landesstelle Voraussetzung für eine Erhöhung der Referenzmenge ist.
Auch eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger Härte ist im Gegensatz zur Auffassung des FG nicht möglich. Eine solche Aussetzung wäre nur zulässig, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht ausgeschlossen werden könnten (vgl. Senatsbeschluß vom 18. Februar 1986 VII B 114/85 BFHE 146, 1, 3 ff., mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Diese Voraussetzung ist hier aber, wie sich aus den obigen Ausführungen und dem Urteil in BFHE 148, 84 ergibt, nicht erfüllt.
Fundstellen
Haufe-Index 415358 |
BFH/NV 1988, 67 |