Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Willenserklärung
Leitsatz (NV)
Die Auslegung einer Willenserklärung darf nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für die sich keine Anhaltspunkte ergeben.
Normenkette
BGB § 133
Verfahrensgang
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) liegen nicht vor.
1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
Der Kläger trägt vor, in der Rechtsprechung und Literatur werde die Auffassung vertreten, ein erneuter (unzulässiger) Einspruch, der nach Ergehen eines Änderungsbescheids während des aufgrund eines ersten Einspruchs laufenden und noch nicht abgeschlossenen Einspruchsverfahrens eingelegt werde, sei in einen Antrag umzudeuten, das ursprüngliche Einspruchsverfahren fortzusetzen.
Sofern der Kläger mit diesem Vortrag geltend machen will, die Revision sei wegen dieser Rechtsfrage gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, ist dieses Begehren unbegründet. Diese Rechtsfrage hat keine grundsätzliche Bedeutung.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Willenserklärungen ausgelegt werden können. Dies kann auch dazu dienen, einen möglichst angemessenen Rechtsschutz zu gewähren (Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung; vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6. November 2002 XI R 85/00, BFH/NV 2003, 585, und vom 7. März 2007 I R 98/05, BFHE 217, 430, BStBl II 2008, 186). Die Auslegung einer solchen Willenserklärung (hier: der Einspruch des Klägers vom 17. November 2005) darf aber nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich --wie im Streitfall-- keine Anhaltspunkte ergeben (Senatsbeschluss vom 2. November 2004 X B 59/04, BFH/NV 2005, 209).
Auch eine Umdeutung der Erklärung in das Begehren, das ursprüngliche Einspruchsverfahren fortzusetzen, kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn die Verfahrenserklärung --wie hier-- von einem Angehörigen der rechts- oder steuerberatenden Berufe abgegeben wurde (BFH-Urteil vom 26. April 2006 II R 35/06, BFH/NV 2006, 1800). Ob Abweichendes dann zu gelten hat, wenn nur durch eine solche Umdeutung dem Gebot der Gewährung von effektivem Rechtsschutz entsprochen werden kann, muss der angerufene Senat hier nicht entscheiden. Denn das sachliche Begehren des Klägers (nämlich die Überprüfung, ob der Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags rechtmäßig ergangen ist) erfolgt im Rahmen der vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) im Hinblick auf den ursprünglichen Einspruch des Klägers noch zu erlassenden Einspruchsentscheidung (§ 365 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung --AO--). Diese kann wiederum ggf. in einem Klageverfahren überprüft werden.
2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
Der Kläger macht geltend, das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG) weiche von dem BFH-Urteil vom 4. November 1981 II R 119/79 (BFHE 134, 510, BStBl II 1982, 270) und dem BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2003 VI B 83/03 (BFH/NV 2004, 356) ab. Nach den Grundsätzen dieser Entscheidungen, werde ein Einspruchsverfahren, sofern nach Einlegung eines Einspruchs ein Abhilfebescheid ergehe, nur dann fortgesetzt, wenn dieser Bescheid dem bei Einlegung des Einspruchs gestellten Antrag nicht voll entspreche. Demgegenüber vertrete das FG die Rechtsauffassung, nach Ergehen eines Abhilfebescheids im Rahmen des Einspruchsverfahrens sei ein Einspruch stets unzulässig.
Eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO liegt vorliegend schon deshalb nicht vor, weil das FG den vom Kläger behaupteten Rechtssatz nicht aufgestellt hat. Das FG verweist in seinem Urteil (dort S. 3 Abs. 4 a.E.) auf die Kommentarstelle in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 365 AO Rz 30. Die dort gemachten Ausführungen beziehen sich auf den Fall, dass der während des Einspruchsverfahrens ergehende Änderungsbescheid nicht zu einer Erledigung des Einspruchsbegehrens führt. Aus diesem Zitat wird deutlich, dass sich die Ausführungen des FG zur Zulässigkeit des Einspruchs auch nur auf diesen Fall beziehen.
Ergänzend weist der erkennende Senat darauf hin, dass die Auffassung des FG, für den erneuten Einspruch fehle das Rechtsschutzbedürfnis im Einklang mit der BFH-Rechtsprechung steht (BFH-Beschluss vom 17. September 2004 I K 1/04, BFH/NV 2005, 362).
3. Das angefochtene Urteil ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen.
a) Ein Verfahrensfehler kann gegeben sein, wenn das FG entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet.
Der Kläger trägt vor, das FG habe ihm mit Schreiben vom 23. April 2008 mitgeteilt, der ursprüngliche Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags sei deshalb bestandskräftig geworden, weil hiergegen nicht rechtzeitig Einspruch eingelegt worden sei. Hierbei habe das FG übersehen, dass dieser Einspruch nicht wie im Schreiben des FG angegeben am 5. September 2006, sondern bereits am 5. September 2005 eingegangen sei. Diesen Fehler habe das FG "bei der Fertigstellung des Urteils" bemerkt, es habe sich aber "gezwungen gesehen, das in dem Schreiben vom 23. April 2008 aufgezeigte Ergebnis der Klageabweisung tatsächlich zu präsentieren".
Mit diesem Vortrag zeigt der Kläger nicht in schlüssiger Weise einen Verfahrensfehler auf. Finanzgerichtliche Schreiben, die vor der abschließenden Entscheidung ergehen, binden das FG nicht. Das FG hat daher zutreffend erneut geprüft, ob der ursprüngliche Einspruch rechtzeitig eingelegt wurde. Hierbei hat es ersichtlich festgestellt, dass die Frist zur Einlegung des ursprünglichen Einspruchs (erst) am 5. September 2005 endete, weil dieser Tag ein Montag war (§ 108 Abs. 3 AO). Diese Erkenntnis eröffnete den Raum für die weitere Überlegung, ob aus diesem Grund der während dieses Einspruchsverfahrens ergangene Änderungsbescheid gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO automatisch Gegenstand des Einspruchsverfahrens wurde (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 365 AO Rz 25) und daher ein weiterer Einspruch wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis unzulässig war.
b) Auch mit dem weiteren Vortrag, er sei nicht förmlich zu dem vom FG anberaumten Erörterungstermin geladen worden, die mit einfachem Brief erfolgte Ladung habe nur das Büro seines Prozessbevollmächtigen, aber nicht diesen persönlich erreicht, zeigt der Kläger nicht in schlüssiger Weise einen Verfahrensfehler auf. Denn die Ladung zu einem Erörterungstermin kann formlos erfolgen (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 79 Rz 5).
c) Soweit der Vortrag des Klägers, ihm sei nicht in ausreichender Weise rechtliches Gehör gewährt worden, in dem Sinne gemeint ist, die Entscheidung des FG enthalte eine unzulässige Überraschungsentscheidung, wird hierdurch ebenfalls nicht in der erforderlichen Weise ein Verfahrensfehler aufgezeigt.
Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und gegen § 96 Abs. 2 FGO liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1991 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188; BFH-Beschluss vom 15. März 2002 X B 175/01, BFH/NV 2002, 944). Auf nahe liegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht das FG aber jedenfalls dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn der Kläger wie im vorliegenden Streitfall sachkundig vertreten war (BFH-Beschluss vom 20. August 1998 XI B 110/95, BFH/NV 1999, 329).
Der angerufene Senat lässt im Streitfall dahingestellt, ob eine solche Überraschungsentscheidung vorliegt, weil das FA in der angefochtenen Einspruchsentscheidung und auch in der Klageerwiderung von der Zulässigkeit des (erneuten) Einspruchs ausgegangen und kein gegenteiliger rechtlicher Hinweis seitens des FG erfolgt ist. Es fehlt nämlich vorliegend daran, dass der Kläger nicht dargelegt hat, was er zusätzlich vorgetragen hätte, und dass es unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des FG von Bedeutung gewesen wäre, wenn ihm seitens des FG zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung ein entsprechender rechtlicher Hinweis erteilt worden wäre (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz 14, m.w.N. aus der Rechtsprechung).
4. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
Eine solche greifbare Gesetzeswidrigkeit kann in der Regel nur bejaht werden, wenn die angefochtene Entscheidung jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehrt oder auf einer Gesetzesauslegung beruht, die offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widerspricht, und aus diesem Grund bei verständiger Würdigung das Urteil als unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt als vertretbar oder es gar als willkürlich erscheint (Senatsbeschluss vom 1. April 2008 X B 154/04, BFH/NV 2008, 1116).
Solche Mängel liegen hier ersichtlich nicht vor. Insbesondere zeigt der Vortrag des Klägers, das angefochtene Urteil enthalte ein Fehlzitat, einen solchen Mangel nicht auf. Klarstellend weist der angerufene Senat darauf hin, dass es sich um ein bloßes Schreibversehen handelt (Tipke/Kruse, a.a.O., § 365 Rz 3 statt dort Rz 30), das deshalb ohne Weiteres erkennbar war, weil in dem Urteil kurz danach (S. 3 Abs. 4 a.E.) das zutreffende Zitat wiedergegeben wurde.
Fundstellen