Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzustellung eines Umsatzsteuerbescheids
Leitsatz (NV)
1. Mit einer Feststellungsklage kann der Kläger die Feststellung begehren, daß ein Steuerbescheid nicht zugestellt worden ist.
2. Wohnung i. S. des Zustellungsrechts der ZPO sind Räume, die der Zustellungsempfänger z. Z. der Zustellung tatsächlich zum Wohnen und nicht nur als Aufenthalts- oder Arbeitsräume nutzt. Von dem Zustellungsempfänger bewohnte Räume behalten auch bei mehrmonatiger Abwesenheit aus beruflichen Gründen die Eigenschaft als Wohnung.
3. Eine Postzustellungsurkunde begründet auch im finanzgerichtlichen Verfahren den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.
Normenkette
FGO § 41 Abs. 1-2, § 96 Abs. 1, § 155; VwZG § 3 Abs. 1, 3; ZPO § 181 Abs. 1, § 418 Abs. 1-2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ließ gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) gerichtete Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 am 9. November 1973 in getrennten Sendungen durch die Post mit Postzustellungsurkunde (PZU) in A zustellen. Die Postzustellerin vermerkte auf der PZU, sie habe die Briefe der Ehefrau übergeben, da sie den Empfänger (Kläger) selbst in der Wohnung nicht angetroffen habe. Mit Schreiben vom 28. November 1973 sandte die Ehefrau des Klägers diese Briefe ungeöffnet an das FA mit der Bitte zurück, mit dem Kläger direkt in Verbindung zu treten, da dem FA seine Anschrift bekannt sein dürfte. Ferner teilte sie mit, ihr minderjähriger Sohn habe die Briefe entgegengenommen.
Das FA setzte die Ehefrau des Klägers am 30. November 1973 davon in Kenntnis, daß nach den PZU sie und nicht ihr Sohn die Briefe entgegengenommen habe und daß diese an ihren Ehemann gerichtete Steuerbescheide enthielten, die wirksam zugestellt worden seien. Das FA wies weiter darauf hin, daß die Umsatzsteuerfestsetzungen mit Ablauf der am 9. November 1973 begonnenen Rechtsbehelfsfrist unanfechtbar würden.
Am 10. Dezember 1973 schrieb die Ehefrau des Klägers an das FA, sie wisse nunmehr, daß in den von ihr zurückgesandten Briefen Steuerbescheide gegen ihren Ehemann, den Kläger, gewesen seien; deshalb lege sie für ihn den zulässigen Rechtsbehelf ein. Nachdem der Kläger seiner Ehefrau keine Vollmacht zur Einlegung des Einspruchs erteilt hatte, wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Die dagegen von dem Kläger erhobene Klage blieb erfolglos. Auf die Revision des Klägers hob der Bundesfinanzhof - BFH - (Urteil vom 15. September 1977 V R 122/74, nicht veröffentlicht - NV -) dieses Urteil auf und änderte die Einspruchsentscheidung des FA dahin ab, daß die Einsprüche wegen fehlender Bevollmächtigung als unzulässig verworfen würden.
Auf Bitten des Prozeßbevollmächtigten des Klägers übersandte ihm das FA Ablichtungen der Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 sowie der PZU über die Zustellung am 9. November 1973. Darauf legte der Kläger mit Schreiben vom 19. Februar 1979 Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 ein und vertrat die Ansicht, daß sie ihm mit der Übersendung der Kopien am 5. Februar 1979 bekanntgegeben worden seien. Das FA verwarf die Einsprüche durch Einspruchsentscheidung vom 1. September 1980. Es führte zur Begründung u. a. aus, die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 seien dem Kläger bereits am 9. November 1973 wirksam zugestellt worden. Am 5. Februar 1979 seien nur Fotokopien dieser Bescheide zur Kenntnisnahme übermittelt worden.
Am 30. September 1980 erhob der Kläger Klage und begehrte die Feststellung, daß ihm die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 nicht zugestellt worden seien.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG begründete seine Entscheidung damit, daß dem Kläger die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 am 9. November 1973 durch Ersatzzustellung wirksam bekanntgegeben worden seien.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 3 Abs. 3, § 9 Abs. 1, § 11 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), §§ 180, 181 der Zivilprozeßordnung (ZPO), § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Er führt zur Begründung u. a. aus:
Das FG habe angenommen, er, der Kläger, habe mehrere Wohnungen bewohnt. Dabei habe er dem FA ausdrücklich schriftlich mitgeteilt, daß er seinen Wohnsitz in A im Zeitpunkt der versuchten Ersatzzustellung der Steuerbescheide aufgegeben und ab August 1972 seinen steuerlichen Wohnsitz i. S. von Art. 4 des OECD-Musterabkommens (OECD-MustAbk) nach Liechtenstein verlegt habe. Dort habe er sich auch ständig aufgehalten und die Wohnung seiner Familie nur gelegentlich, nicht einmal periodisch besucht. Das FG habe die erhobenen Beweise unter Verletzung von Denkgesetzen und Erfahrungssätzen gewürdigt. Er, der Kläger, habe die Beweiswirkung der PZU im finanzgerichtlichen Verfahren entkräftet.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung festzustellen, daß ihm die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 nicht zugestellt worden seien.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Der Kläger durfte die seiner Meinung nach nicht vorhandene Zustellung der Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 durch Feststellungsklage (§ 41 Abs. 1 FGO) geltend machen (BFH-Urteil vom 25. Mai 1976 VIII R 66/74, BFHE 119, 36, BStBl II 1976, 606, 607 unter III 1 zur Unwirksamkeit von Steuerbescheiden wegen fehlerhafter Zustellung). Er hatte ein berechtigtes Interesse an der beantragten Feststellung, weil er damit den Rechtsschein der wirksamen Bekanntgabe der Steuerbescheide beseitigen wollte. Dieses Interesse ist nicht durch die Übersendung von Fotokopien der Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 am 5. Februar 1979 entfallen. Dabei handelte es sich nicht um eine Bekanntgabe i. S. von § 91 der Reichsabgabenordnung (AO). Das FA wollte dem Kläger auf Bitten seines Prozeßbevollmächtigten durch Fotokopien nur den Inhalt der am 9. November 1973 bekanntgegebenen Umsatzsteuerbescheide zur Kenntnis bringen.
2. Zutreffend hat das FG entschieden, daß dem Kläger die Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 am 9. November 1973 mittels Zustellung durch die Post mit PZU durch Übergabe der Sendungen in der Wohnung in A an seine Ehefrau (§ 3 Abs. 3 VwZG, § 181 Abs. 1 1. Alternative ZPO) bekanntgegeben worden sind (§ 91 Abs. 1 AO).
Bekanntgabe von Verfügungen der Finanzbehörde durch Zustellung ist nach § 91 Abs. 1 Satz 3 AO nur erforderlich, wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist. Steuerbescheide sind nach § 211 Abs. 3 AO verschlossen zuzustellen. Die Art der Zustellung bestimmt das VwZG. Danach kann die Finanzbehörde, wenn sie von der vereinfachten Bekanntgabe nach § 17 VwZG absieht, durch die Post mit PZU (§ 3 Abs. 1 VwZG) unter Beachtung der in § 3 Abs. 3 VwZG bezeichneten Vorschriften der ZPO zustellen. Die Förmlichkeiten der im Streitfall vorhandenen Ersatzzustellungen der Umsatzsteuerbescheide für 1968 und 1969 in der Wohnung des Zustellungsempfängers an ein erwachsenes Familienmitglied sind eingehalten (§ 3 Abs. 3 VwZG, § 181 Abs. 1 1. Alternative ZPO).
a) Wird bei einer Zustellung durch die Post mit PZU die Person, der zugestellt werden soll, in ihrer Wohnung nicht angetroffen, so kann die Zustellung in der Wohnung an einen zu der Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen erfolgen (§ 181 Abs. 1, 1. Alternative ZPO). Für die Auslegung des Begriffs ,,Wohnung" ist nicht - wie der Kläger meint - Art. 4 des OECD-MustAbk heranzuziehen. Darin wird für die Befugnis, Rechte aus einem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) geltend zu machen, auf den steuerlichen (abkommensrechtlichen) Wohnsitz und auf den gewöhnlichen Aufenthalt von natürlichen Personen abgestellt (vgl. auch Vogel, DBA-Kommentar, Art. 4 Rdnr. 8, 9). Auf den Wohnsitz kommt es jedoch - entgegen der Ansicht des Klägers - nach den Zustellungsvorschriften des VwZG und der ZPO ebensowenig an, wie auf den Ort, an dem der Zustellungsempfänger polizeilich gemeldet ist (BFH-Urteil vom 26. November 1975 I R 157/73, BFHE 117, 344, BStBl II 1976, 137 unter 3; Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 24. November 1977 III ZR 1/76, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1978, 1858). ,,Wohnung" im Sinne des Zustellungsrechts der ZPO (§§ 181, 182) sind die Räume, die der Zustellungsempfänger zur Zeit der Zustellung tatsächlich zum Wohnen und nicht nur als Aufenthalts- oder Arbeitsräume nutzt (vgl. BFH-Urteile vom 20. Oktober 1987 VII R 19/87, BFHE 151, 24, BStBl II 1988, 97; vom 4. Juni 1987 V R 131/86, BFHE 150, 305, BStBl II 1988, 392 unter 2 a; vom 18. Februar 1986 VIII R 257/83, BFH/NV 1986, 711 unter I 2). Dies ist der Fall, wenn er in den Räumen lebt, insbesondere wenn er dort schläft. Nicht jede vorübergehende Abwesenheit, auch wenn sie länger dauert, hebt die Eigenschaft als ,,Wohnung" im Sinne der Zustellungsvorschriften auf (vgl. BGH-Urteile vom 24. November 1977 III ZR 1/76, NJW 1978, 1858; vom 12. Juli 1984 IV b ZB 71/84, NJW 1985, 2195). Nach den Zustellungsvorschriften behalten tatsächlich von dem Zustellungsempfänger bewohnte Räume auch bei mehrmonatiger Abwesenheit aus beruflichen Gründen (vgl. Urteil in BFHE 150, 305, BStBl II 1988, 392) die Eigenschaft als Wohnung, wenn die Rückkehr zu erwarten ist (vgl. BGH-Urteil vom 18. September 1957 V ZR 209/55, Lindenmaier/Möhring (LM), Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, § 328 BGB Nr. 15).
Das FG ist von diesen Grundsätzen nicht abgewichen. Seine Würdigung, daß der Kläger im Zustellungszeitpunkt eine ,,Wohnung" in A innehatte, bindet das Revisionsgericht (§ 118 Abs. 2 FGO). Es handelt sich um eine Tatfrage (Urteil in BFHE 150, 305, BStBl II 1988, 392, m.w.N.). Die Würdigung ist möglich und verstößt nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze.
Das FG durfte annehmen, daß der Kläger trotz seiner geschäftlichen Tätigkeit in Liechtenstein im Zeitpunkt der Zustellung am 9. November 1973 weiterhin eine Wohnung in A innehatte. Dort lebte seine Familie. Er lebte nach der Beweisaufnahme nicht von seiner Ehefrau getrennt. Er kehrte ,,alle paar Wochen" nach A in die Wohnung zurück und lebte dort. Die häufige Abwesenheit war auf seine Geschäftstätigkeit zurückzuführen.
b) Auch die Würdigung des FG, daß die Postzustellerin die Briefe mit den Umsatzsteuerbescheiden für 1968 und 1969 am 9. November 1973 der Ehefrau des Klägers - einem zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen i. S. von § 181 Abs. 1 1. Alternative ZPO - übergeben hat, bindet das Revisionsgericht (§ 118 Abs. 2 FGO). Das FG hat bei dieser möglichen Würdigung weder Verfahrensrecht verletzt noch gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen.
Das FG ist aufgrund der Angaben der Postzustellerin in den PZU zu seiner Schlußfolgerung gelangt. Eine PZU begründet als ,,öffentliche Urkunde" i. S. des § 418 Abs. 1 ZPO, § 155 FGO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 2. Juni 1987 VII R 36/84, BFH/NV 1988, 170); somit den Beweis darüber, daß die Briefe der Ehefrau des Klägers ausgehändigt worden sind. Ein Gegenbeweis (§ 418 Abs. 2 ZPO) kann nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der PZU bezeugten Tatsachen geführt werden. Das FG hat beachtet, daß die Beweiswirkung der PZU nicht widerlegt ist, solange die Möglichkeit besteht, daß die PZU inhaltlich richtig ist (Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 25. März 1982 8 C 100/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Verwaltungszustellungsgesetz, § 3, Rechtsspruch 45, m.w.N.).
Diese Möglichkeit hat das FG ohne Verletzung von Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen ausgeschlossen. Die vom Kläger gerügte Außerachtlassung der allgemeinen Lebenserfahrung, daß Routinearbeiten nicht mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ausgeführt würden, begründet keinen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze (vgl. zu den Anforderungen und zur Bedeutung von allgemeinen Erfahrungssätzen: BGH-Beschluß vom 7. Juni 1982 4 StR 60/82, NJW 1982, 2455). Die vom Kläger wiedergegebene Lebenserfahrung enthält keine aus der Beobachtung und Verallgemeinerung von Einzelfällen gewonnene Einsicht mit schlechthin zwingenden Folgerungen, denen auch der Richter folgen müßte.
c) Die Würdigung des FG, daß die Ehefrau und nicht - wie behauptet - der minderjährige Sohn die Briefe mit den Umsatzsteuerbescheiden für 1968 und 1969 entgegengenommen habe, wird auch nicht durch zulässige und begründete Verfahrensrügen in Frage gestellt. Soweit der Kläger - ausdrücklich - Verletzung des § 96 Abs. 2 FGO (Verletzung rechtlichen Gehörs) und - dem Sinne nach - Verletzung des § 96 Abs. 1 FGO (Übergehen von Teilen des Akteninhalts) sowie des § 76 Abs. 1 FGO (Verletzung der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung) rügt, genügt sein Vorbringen nicht den Anforderungen des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO (vgl. zu den Anforderungen BFH-Urteil vom 5. November 1968 II R 118/67, BFHE 94, 116, BStBl II 1969, 84).
§ 96 Abs. 2 FGO hat das FG nach Ansicht des Klägers verletzt, weil es sein Urteil nicht auf die Aussage seiner Ehefrau, sondern auf unschlüssige Mutmaßungen gestützt habe. Der Kläger legt aber weder substantiiert dar (zu den Anforderungen vgl. BFH-Beschluß vom 16. Januar 1986 III B 71/84, BFHE 145, 497, BStBl II 1986, 409 unter 2), wodurch ihm das rechtliche Gehör versagt worden sei (§ 96 Abs. 2 FGO), noch gibt er genau an, welche Verfahrensergebnisse (§ 96 Abs. 1 FGO) das FG nicht berücksichtigt habe. Vielmehr wendet er sich lediglich gegen die Beweiswürdigung des FG, die außerhalb der oben aufgezeigten Grenzen der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen ist (vgl. Klein/Ruban, Der Zugang zum Bundesfinanzhof, Rdnr. 105, 106). Die übrigen Rügen von Verfahrensmängeln hält der Senat für nicht durchgreifend und sieht gemäß Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs von einer Begründung ab.
Fundstellen