Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Bewertung/Vermögen-/Erbschaft-/Schenkungsteuer Erbschaft/Schenkung und Steuern
Leitsatz (amtlich)
Bei der Vermögensteuer kann eine Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nach den Verhältnissen des einzelnen Falles auch dann zulässig sein, wenn die Mehrsteuer eines Kalenderjahres den Betrag von 100 DM nicht übersteigt.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; VStG § 12 Abs. 1
Tatbestand
Bei einer Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, es sei übersehen worden, ein Sparguthaben des Revisionsbeklagten in Höhe von 10.020 DM in der Vermögenserklärung auf den 1. Januar 1957 anzugeben. Der Revisionskläger (FA) berichtigte daraufhin den ursprünglichen, unanfechtbar gewordenen Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1967 gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO unter berücksichtigung dieses Sparguthabens. Dadurch erhöhte sich die Jahressteuerschuld von ursprünglich 360 DM auf 450 DM. Da innerhalb des Hauptveranlagungszeitraums 1957 eine Neuveranlagung nicht vorgenommen worden ist, betrug die Mehrsteuer auf Grund der Berichtigungsveranlagung insgesamt 270 DM. Der Revisionsbeklagte erkannte die Prüfungsfeststellung als richtig an, meinte jedoch, daß die festgestellte neue Tatsache nicht gewichtig genug sei, um eine Berichtigungsveranlagung zu rechtfertigen. Maßgebend für die Gewichtigkeit der neuen Tatsache sei der Mehrbetrag an Vermögensteuer eines Kalenderjahres und nicht der auf den gesamten Hauptveranlagungszeitraum entfallende Steuermehrbetrag.
Die Sprungberufung hatte Erfolg. Das FG schloß sich der Auffassung des Revisionsbeklagten an und führte in seinem in EFG 1964, 184 veröffentlichten Urteil aus: Der von der Rechtsprechung des BFH für die Umsatzsteuer und die Ertragsteuern anerkannte Grundsatz, daß eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO im allgemeinen unzulässig sei, wenn sich auf Grund einer neuen Tatsache eine Mehrsteuer von weniger als 100 DM ergebe, müsse auch für die Vermögensteuer gelten. Dabei komme es auf den Mehrbetrag an Vermögensteuer für ein Kalenderjahr an, weil innerhalb des Hauptveranlagungszeitraums jeder Jahresbetrag an Vermögensteuer gemäß § 3 Abs. 5 Nr. 2 StAnpG als selbständiger Steueranspruch entstehe und nach § 145 Abs. 1 AO einer eigenen Verjährung unterliege. Demgegenüber komme dem Hauptveranlagungszeitraum bei der Vermögensteuer nur verwaltungstechnische Bedeutung zu, was sich darin zeige, daß das VStG eine Neu- und Nachveranlagung innerhalb eines Hauptveranlagungszeitraums zulasse (§§ 13, 14 VStG) und § 12 Abs. 1 Satz 3 VStG in der Fassung des StändG 1961 die Bundesregierung ermächtige, mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung den Hauptveranlagungszeitraum um ein Jahr zu verkürzen oder zu verlängern. Die Zugrundelegung der sich für einen Hauptveranlagungszeitraum ergebenden Mehrsteuern führe im übrigen zu Ergebnissen, die mit der Rechtsgleichheit, der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und mit der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren seien. Alsdann könnte nämlich die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung von der Länge des Hauptveranlagungszeitraums abhängen. Es sei auch sachlich nicht gerechtfertigt, die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung davon abhängig zu machen, ob die Steuerfestsetzung für den ganzen Hauptveranlagungszeitraum gelte, oder - z. B. wegen einer Neuveranlagung innerhalb eines Hauptveranlagungszeitraums - nur für einen Teil davon.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Rb. rügt der Revisionskläger (FA) unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Er vertritt die Auffassung, für die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO komme es auf die "objektive" steuerliche Auswirkung der neuen Tatsache an. Da im Streitfall die neue Tatsache für den Hauptveranlagungszeitraum zu einer Mehrsteuer von 270 DM führe, stehe ihre Erheblichkeit außer Frage. Das FG habe der Entstehung und Verjährung des Vermögensteueranspruchs eine zu große Bedeutung beigemessen. Man dürfe nicht unberücksichtigt lassen, daß die Frage der Erheblichkeit einer neuen Tatsache für die Wertgrenzen bei Neuveranlagungen entscheidende Bedeutung habe. Es würde einen Verstoß gegen die Rechtsgleichheit und gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung bedeuten, wenn eine Neuveranlagung zur Vermögensteuer daran scheitern müßte, daß eine feststehende neue Tatsache bei Ermittlung der Wertgrenzen des § 13 VStG außer Betracht bliebe. Schließlich sei zweifelhaft, ob es bei der Vermögensteuer gerechtfertigt sei, die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung auszuschließen, wenn die Mehrsteuer weniger als 100 DM betrage. Diese Grenze sei allenfalls bei der Umsatzsteuer und bei den Ertragsteuern gerechtfertigt, weil dort die nicht vollständige Erklärung der Besteuerungsgrundlagen zu einer Verwerfung der Buchführung und zur Schätzung von Umsatz und Gewinn führen könnte. Diese Risiken bestünden für einen Steuerpflichtigen bei Nichterklärung von Vermögenswerten in der Vermögenserklärung nicht. Der Nachweis eines strafrechtlich erheblichen Verhaltens ließe sich in diesen Fällen kaum führen. Die Anwendung der bei der Umsatzsteuer und bei den Ertragsteuern für die Zulässigkeit einer Berichtigungsveranlagung von der Rechtsprechung aufgestellten unteren absoluten Grenze von 100 DM komme daher bei der Vermögensteuer praktisch der Einräumung eines Freibetrages gleich.
Entscheidungsgründe
Die Rb., welche nach der am 1. Januar 1966 in Kraft getretenen FGO als Revision zu behandeln ist (vgl. § 184 FGO), ist begründet.
Mit Recht ist die Vorinstanz davon ausgegangen, daß die Berichtigung eines unanfechtbar gewordenen Bescheides nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nur zulässig ist, wenn die neu bekanntgewordene Tatsache "von einigem Gewicht" ist (vgl. die Urteile des BFH V 180/59 U vom 8. Februar 1962, BFH 74, 610, BStBl III 1962, 225; I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282, BStBl III 1963, 100). Zu Unrecht vertritt das FG jedoch die Auffassung, daß diese Voraussetzung im Streitfall nicht gegeben sei. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Auffassung des Revisionsklägers zutrifft, für die Beurteilung der Gewichtigkeit der aufgedeckten neuen Tatsache sei der Mehrbetrag an Vermögensteuer für den gesamten Hauptveranlagungszeitraum 1957 zugrunde zu legen. Denn schon der Mehrbetrag an Vermögensteuer für das Kalenderjahr 1957 in Höhe von 90 DM rechtfertigt eine Berichtigungsveranlagung. Dieser Betrag entspricht einem Viertel der ursprünglich festgesetzten Vermögensteuerjahresschuld. Er entfällt auf ein steuerpflichtiges Vermögen von über 10.000 DM, eines Betrages, der den zum damaligen Stichtag für den Revisionsbeklagten anzusetzenden Vermögensteuerfreibetrag übersteigt (vgl. § 5 Abs. 1 VStG in der Fassung vor dem StändG 1961). Demgegenüber hält es der Senat für unerheblich, daß der Mehrbetrag an Vermögensteuer, der auf ein Jahr entfällt, 100 DM nicht übersteigt. Für die Vermögensteuer ist der in den vorgenannten Entscheidungen für die Umsatzsteuer und die Ertragsteuern aufgestellte Grundsatz nicht anwendbar, wonach Steuermehrbeträge bis zu 100 DM (vgl. Urteil des BFH V 180/59 U, a. a. O.) oder unter 100 DM (vgl. Urteil des BFH I 95 und 110/60 S, a. a. O.) im allgemeinen eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht zulassen. Die Umsatzsteuer und die Ertragsteuern einerseits und die Vermögensteuer andererseits sind insoweit nicht vergleichbar. Während jene Steuern nur für ein Jahr festgesetzt werden (vgl. § 11 UStG, § 25 EStG, § 20 KStG, § 16 in Verbindung mit den §§ 14, 10 GewStG), wirkt die Steuerfestsetzung bei der Vermögensteuer in der Regel für drei Kalenderjahre (§ 12 Abs. 1 VStG). Dieser Umstand kann für die Beurteilung, ob eine neue Tatsache bei der Vermögensteuer "von einigem Gewicht" ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Aus demselben Grund hat der Senat auch den Streitwert bei der Vermögensteuer in ständiger Rechtsprechung in der Regel nach dem zweifachen Betrag der strittigen Jahressteuerschuld bemessen (vgl. Urteil des BFH III 109/57 U vom 20. März 1959, BFH 69, 1, BStBl III 1959, 262).
Die Sache ist spruchreif. Da die Vorentscheidung zu Unrecht davon ausgegangen ist, die durch die Betriebsprüfung aufgedeckte neue Tatsache könne eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht rechtfertigen, war sie aufzuheben und die Sprungberufung des Revisionsbeklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 412618 |
BStBl III 1967, 578 |
BFHE 1967, 205 |
BFHE 89, 205 |