Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlaß von Säumniszuschlägen, die während der Einstellung der Vollstreckung entstanden sind
Leitsatz (NV)
1. Es widerspricht den Wertungen des Gesetzes nicht schlechthin, die während der Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 258 AO 1977 entstandenen Säumniszuschläge einzuziehen.
2. Soweit die für einen Vollstreckungsaufschub maßgebenden Billigkeitserwägungen ihren Grund nicht im Vollstreckungsverfahren selbst haben, sind sie auch bei der Ermessensentscheidung über den Erlaß von Säumniszuschlägen wegen sachlicher Unbilligkeit zu berücksichtigen.
Normenkette
AO 1977 § 227 Abs. 1, §§ 240, 258
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt seit dem Jahre 1971 eine Gaststätte. Ausweislich der Bilanzen betrugen die Gewinne aus Gewerbebetrieb in den Jahren 1971 bis 1979 zwischen 25 000 DM und 45 000 DM, während das Kapitalkonto infolge höherer Entnahmen ab 1972 ständig negativ war (zwischen ./. 2 400 DM und ./. 17 000 DM).
Die in diesen Jahren festgesetzten Einkommensteuern sowie einzelne vorangemeldete Lohn- und Umsatzsteuerbeträge wurden von der Klägerin nicht zu den jeweiligen Fälligkeitsterminen entrichtet. Im Juli 1977 bewilligte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) auf Antrag der Klägerin die Aussetzung der Vollstreckung.
Nach der ratenweisen Tilgung der Steuerschulden beantragte die Klägerin im Oktober 1980 den Erlaß der aufgrund der verspäteten Steuerzahlungen entstandenen Säumniszuschläge im Gesamtbetrag von 7 442 DM.
Das FA lehnte den Erlaß ab. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde als unbegründet zurückgewiesen. Die Klägerin sei zu keinem Zeitpunkt zahlungsunfähig gewesen. Ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen käme nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) jedoch nur in Betracht, wenn der Steuerpflichtige zweifelsfrei überschuldet und zahlungsunfähig sei.
Die Klage blieb ohne Erfolg.
Mit ihrer - vom BFH wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung sachlichen Rechts.
Werde Vollstreckungsaufschub gewährt, weil bereits die Vollstreckung unbillig gewesen sei, so sei auch die Erhebung von Säumniszuschlägen sachlich unbillig. Denn bei Einstellung der Vollstreckung könne die Klägerin durch die Festsetzung von Säumniszuschlägen nicht mehr zur pünktlichen Zahlung angehalten werden.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Ablehnungsbescheids vom 28. Oktober 1980 und der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 3. Dezember 1980 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts (FG) ist die Ablehnung des Erlaßantrages nicht frei von Ermessensfehlern.
1. Nach § 240 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) wie auch nach der vor dem 1. Januar 1977 geltenden Vorschrift des § 1 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG) sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird. Die Säumnis endet mit der Entrichtung der geschuldeten Steuer oder dadurch, daß die Fälligkeit der Steuer aufgehoben wird.
Der der Klägerin im Jahre 1977 gewährte Vollstreckungsaufschub hat das Entstehen der Säumniszuschläge nicht verhindert. Denn es handelt sich hierbei um eine ausschließlich auf das Vollstreckungsverfahren beschränkte Maßnahme, die die Steuerforderung unberührt läßt (BFH-Urteil vom 15. März 1979 IV R 174/78, BFHE 127, 311, BStBl II 1979, 429). Ob wegen des Vollstreckungsaufschubs die verwirkten Säumniszuschläge zu erlassen sind, ließ der IV. Senat in der vorgenannten Entscheidung ausdrücklich offen.
2. Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen rechnen auch die Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der Säumniszuschläge (§ 37 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 3 AO 1977).
Die Entscheidung über ein Erlaßbegehren ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden kann (Beschluß des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des den Erlaß ablehnenden Bescheides darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Ein derartiger Ermessensfehler ist unter anderem dann gegeben, wenn die Steuerbehörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht einwandfrei und erschöpfend ermittelt und dadurch bei ihrer Entscheidung rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte außer acht gelassen hat, die sie nach Sachlage hätte berücksichtigen müssen (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Die angefochtene Beschwerdeentscheidung genügt diesen Anforderungen nicht. Denn nach Sachlage hätte bei der Entscheidung über den Erlaßantrag der Klägerin auch der im Jahre 1977 gewährte Vollstreckungsaufschub berücksichtigt werden müssen. Die Beschwerdebehörde hat diesen Umstand jedoch nicht in ihre Ermessenserwägungen einbezogen, sondern lediglich geprüft, ob bei der Klägerin im fraglichen Zeitraum dauernde Zahlungsunfähigkeit bestanden hat.
3. Die einen Erlaß rechtfertigende Unbilligkeit der Einziehung von Säumniszuschlägen kann in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen begründet sein. Eine Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen setzt voraus, daß im Falle der Versagung des Erlasses die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet ist (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 43). Derartige Gründe sind von der Klägerin weder geltend gemacht noch erkennbar. Ob die dauernde Zahlungsunfähigkeit als persönlicher Billigkeitsgrund zu werten ist, wie die Klägerin vorträgt, bedarf keiner Entscheidung. Denn für den für das Vorliegen persönlicher Billigkeitsgründe maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung im Jahre 1980 ist die behauptete Zahlungsunfähigkeit in früheren Jahren ohne Bedeutung.
a) Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (vgl. Urteile des BFH vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727, und vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58). Dagegen rechtfertigen Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Steuervorschrift bewußt in Kauf genommen hat, den Erlaß aus Billigkeitsgründen nicht (BFH-Urteil vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127).
Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern und entstehen kraft Gesetzes bei unterbliebener Zahlung, ohne daß es auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen ankommt (Beschluß des Großen Senats des BFH vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262).
Ein Erlaßgrund wegen sachlicher Unbilligkeit besteht nach der Rechtsprechung des BFH insbesondere dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und die Ausübung eines Druckes zur Zahlung damit ihren Sinn verliert (Urteil in BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727). Im Urteil vom 8. März 1984 I R 44/80 (BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415) hat der erkennende Senat die Voraussetzungen dieser Erlaßsituation im einzelnen dargestellt.
Im Streitfall bestand nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der Senat gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), ein derartiger Erlaßgrund nicht.
b) Der Erlaß von Säumniszuschlägen kommt jedoch nicht nur im Falle der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen in Betracht. Wollte man allgemein das Vorliegen der Konkursgründe voraussetzen, so ergäben sich Anforderungen, die über die Voraussetzungen abgabenrechtlicher Billigkeitsmaßnahmen hinausgehen (BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Insbesondere im Falle eines Vollstreckungsaufschubs ist zu prüfen, ob nicht die hierfür maßgebenden Gründe auch die Einziehung der während der Einstellung der Vollstreckung entstandenen Säumniszuschläge als sachlich unbillig erscheinen lassen.
aa) Allerdings widerspricht es den Wertungen des Gesetzes nicht schlechthin, die während der Einstellung der Zwangsvollstreckung entstandenen Säumniszuschläge einzuziehen (so aber Tipke/Kruse, a. a. O., § 240 AO 1977 Tz. 22; Höllig, Der Betrieb - DB - 1979, 622).
Denn die in § 258 AO 1977 genannten Maßnahmen setzen nicht voraus, daß dem Vollstreckungsschuldner die rechtzeitige Zahlung der rückständigen Steuern unmöglich ist. Vollstreckungsschutz ist bereits bei einer vorübergehenden Notlage zu gewähren, die nicht die Einziehung der Forderung, sondern lediglich die Art und Weise sowie den Umfang oder den Zeitpunkt ihrer Vollstreckung als unbillig erscheinen läßt.
Die Vollstreckung kann auch deshalb einstweilen eingestellt werden, weil sie dem FA im Hinblick auf den möglichen Wegfall der Vollstreckungsvoraussetzungen des § 251 Abs. 1 AO 1977 und der daraus folgenden Einstellung der Vollstreckung (§ 257 Abs. 1 AO 1977) ungeachtet des § 257 Abs. 2 AO 1977 als unbillig erscheint. Billigkeitserwägungen können in einem solchen Fall lediglich die zeitweilige Schonung vor zwangsweiser Durchsetzung bestrittener Geldansprüche geboten erscheinen lassen, ohne daß dies die sonstigen Folgen nicht rechtzeitiger Zahlung berühren muß.
bb) Soweit die Billigkeitserwägungen, die zu einem Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO 1977 geführt haben, ihren Grund nicht im Vollstreckungsverfahren selbst haben, können diese Erwägungen auch für die Frage, ob Säumniszuschläge als Druckmittel geeignet sind, Bedeutung erlangen. Da Säumniszuschläge und Vollstreckungsverfahren in gleicher Weise der Durchsetzung von rückständigen Steuern dienen, wäre es unbillig, die Zahlung durch Säumniszuschläge zu erzwingen, wenn die Beitreibung wegen Fehlens der Mittel des Steuerpflichtigen ausgesetzt worden ist. In einem derartigen Fall kann nicht erwartet werden, daß der Steuerpflichtige durch die Säumniszuschläge zu höhern Zahlungen angehalten werden kann.
Es kann ferner nicht außer acht gelassen werden, daß in der Praxis bisweilen Maßnahmen des Vollstreckungsaufschubs statt nicht durchgeführter, aber möglich gewesener Billigkeitsmaßnahmen wie Erlaß oder Stundung eingesetzt werden, so daß es einer gesonderten Prüfung der bei Steuerfälligkeit und Gewährung des Vollstreckungsaufschubs bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen im Hinblick auf eine mögliche Erlaßsituation bedarf (Urteil in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489).
cc) Entgegen der Auffassung des FG muß ein Erlaß zu keiner ungerechtfertigten Bevorzugung der Klägerin gegenüber pünktlichen Steuerzahlern führen. Soweit die wirtschaftliche Situation der Klägerin während ihres Zahlungsverzugs nicht einen Erlaß oder eine zinslose Stundung (vgl. § 234 Abs. 2 AO 1977) als geboten erscheinen läßt, kann auch nur ein Teilerlaß der Säumniszuschläge als sachlich ermessensgerecht anzusehen sein. Ein Rückgriff auf die Zinsvorschrift des § 238 Abs. 1 AO 1977 ist hierzu nicht erforderlich.
4. Durch die Aufhebung des Ablehnungsbescheides und der Beschwerdeentscheidung wird der Verwaltungsbehörde die erneute Entscheidung über den Erlaßantrag unter Beachtung der vorstehenden Ermessensgesichtspunkte ermöglicht.
Die von der Klägerin begehrte Verpflichtung der Behörde zum Erlaß der Säumniszuschläge kann nicht ausgesprochen werden. Die Gerichte sind nicht befugt, ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens zu setzen. Eine Ermessenseinengung, die nur eine einzige Entscheidung als ermessensfehlerfrei erscheinen läßt, liegt im Streitfall nicht vor (vgl. BFH-Urteil vom 4. Juli 1972 VII R 103/69, BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806).
Fundstellen
Haufe-Index 414627 |
BFH/NV 1987, 684 |