Leitsatz (amtlich)
Es ist nicht ermessensmißbräuchlich, einen Billigkeitsantrag nach § 131 AO abzulehnen, der mehr als zwei Jahre nach Entstehung der betreffenden abgabenrechtlichen Schulden gestellt worden ist, wenn die Säumnis vom Antragsteller zu vertreten ist. Das gilt auch dann, wenn bei rechtzeitiger Antragstellung dem Antrag hätte stattgegeben werden müssen (Anschluß an BFH-Urteil vom 27. März 1958 Vz 181/57 V, BFHE 66, 647, BStBl III 1958, 248).
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
I.
Im November 1972 beantragte der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt – HZA –) Erstattung der in den letzten Betriebsjahren entrichteten Stundungszinsen, Säumniszuschläge, Vollstreckungskosten und anderen Nebenkosten, ohne die Höhe der Beträge zu nennen. Nach Rückfrage beim Kläger und Zuziehung der Unterlagen ging das HZA davon aus, daß sich der Antrag auf X DM Säumniszuschläge und Y DM Stundungszinsen bezog, die in den Jahren 1967 und 1968 entstanden waren. Es lehnte den Antrag unter Hinweis auf die Richtlinien des Bundesministers der Finanzen für die Anwendung des § 131 der Reichsabgabenordnung auf dem Gebiet der Zölle und Verbrauchsteuern vom 7. Dezember 1953 – Billigkeitsrichtlinien 1953 – (BZBl 1953, 810) ab. Danach seien Erlaßanträge innerhalb einer Frist von zwei Jahren nach Entstehung des Steuertatbestandes zu stellen, sofern nicht besondere Gründe vorlägen, die die Angelegenheit als besonders gelagerten Fall erscheinen ließen. Ein besonders gelagerter Fall liege nicht vor.
Die Beschwerde blieb ohne Erfolg.
Mit der Klage beantragte der Kläger, das HZA für verpflichtet zu erklären, die in der Beschwerdeentscheidung genannten Beträge zu erstatten. Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Ablehnung der Erstattung aus Billigkeitsgründen unter Hinweis auf die Zweijahresfrist der Billigkeitsrichtlinien 1953 sei nicht ermessensfehlerhaft (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 27. März 1958 Vz 181/57 U, BFHE 66, 647, BStBl III 1958, 248). Es liege auch kein Ermessensverstoß darin, daß der Streitfall nicht als besonderer Ausnahmefall angesehen worden sei.
Mit der Revision trägt der Kläger vor, das FG hätte nicht auf die Zweijahresfrist abstellen dürfen, da ein besonders gearteter Fall vorgelegen habe, HZA und OFD hätten in mehreren Fällen seine, des Klägers, Billigkeitsanträge abgelehnt. Er habe dadurch das Vertrauen darauf verloren, daß seine Anträge unvoreingenommen geprüft würden. Er habe davon ausgehen können und müssen, daß auch ein weiterer Billigkeitsantrag abgelehnt werden würde.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO können im Einzelfall Steuern und sonstige Geldleistungen ganz oder zum Teil erlassen, erstattet oder angerechnet werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu den sonstigen Geldleistungen i. S. dieser Vorschrift gehören auch Stundungszinsen und Säumniszuschläge. Durch den Beschluß vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101 BStBl II 1972, 603) hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes erkannt, daß die Entscheidungen der Behörde, ob die Einziehung der Steuer oder der sonstigen Geldleistungen nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist, von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen ist. Zu Recht ist das FG zum Ergebnis gelangt, daß die Ablehnung des beantragten Billigkeitserweises durch die Verwaltung Ermessensfehler nicht erkennen läßt.
HZA und OFD haben die beantragte Erstattung unter Hinweis auf den Ersten Teil, Nr. 2, der Billigkeitsrichtlinien 1953 abgelehnt. Danach muß der Antrag der Beteiligten „innerhalb von zwei Jahren … nach Entstehung der Steuerschuld gestellt worden sein. Antrage, die nach Ablauf der Frist gestellt werden, sind in der Regel abzulehnen. Es bleibt der OFD jedoch überlassen, derartige Anträge in besonders gearteten Fällen dem BdF zur Entscheidung vorzulegen.” Diese Richtlinien sind Verwaltungsanweisungen i. S. des § 131 Abs. 2 AO, welche die Gerichte nicht binden. Es ist daher zu prüfen, ob die Ablehnung des vom Kläger beantragten Billigkeitserweises unter Berufung auf den Ablauf der in den Billigkeitsrichtlinien 1953 genannten Zweijahresfrist ermessensmißbräuchlich war.
Der BFH hat bereits im oben zitierten Urteil Vz 181/57 U entschieden, daß das grundsätzlich nicht der Fall ist. Er sieht keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Die Zweijahresfrist der Richtlinien ist an die Vorschriften über die Verjährungsfristen und an die Ausschlußfristen für Erstattungsansprüche angelegt und übertragt den diesen Vorschriften zugrunde liegenden Gedanken der Rechtsverwirkung durch Säumigkeit auf das Gebiet der Billigkeitsentscheidungen. Wenn der Steuerberechtigte nach Ablauf einer bis zwei Jahre betragenden Frist seinen Anspruch nicht mehr geltend machen kann und wenn das gleiche für den Erstattungsberechtigten gilt, wenn ferner eine Berichtigung des Steuerbescheides zugunsten des Pflichtigen nach § 224 AO nur innerhalb der Verjährungsfrist vorzunehmen ist, kann es im allgemeinen nicht unbillig sein, wenn auch derjenige, der aus Billigkeitsgründen Erlaß oder Erstattung von Steuern begehrt, nach Ablauf dieser Frist in der Regel abschlägig beschieden wird.
Nach den Feststellungen des FG hat der Kläger den Antrag im November 1972 gestellt, also mehr als fünf Jahre nach Entstehung der Stundungszinsen und mehr als vier Jahre nach Entstehung der Säumniszuschläge.
Obwohl der Kläger den Antrag nach Ablauf der genannten Zweijahresfrist gestellt hat, wäre seine Ablehnung unter Berufung auf diese Frist dann ein Verstoß gegen Recht und Billigkeit und ermessensmißbräuchlich, wenn ein Ausnahmefall i. S. des Ersten Teils, Nr. 2 der Billigkeitsrichtlinien 1953 vorläge. Das wäre dann zu bejahen, wenn die Säumnis des Klägers nicht von ihm zu vertreten wäre. Zu Recht hat das FG entschieden, daß HZA und OFD ohne Ermessensverstoß vom Gegenteil ausgehen konnten. Der Umstand, daß der Kläger aufgrund seiner Erfahrungen mit früheren Billigkeitsanträgen mit einer Ablehnung eines Antrags für einen anderen Fall rechnen mußte war für den Kläger kein berechtigter Anlaß, seinen Antrag vier bzw. fünf Jahre zurückzustellen, zumal er wußte oder hätte wissen müssen, daß ihm Rechtsbehelfe gegen eine etwaige ablehnende Entscheidung der Verwaltung offengestanden hätten.
Das FG hat – ebenso wie die OFD in der Beschwerdeentscheidung – bei der Prüfung der Frage, ob ein Ausnahmefall i. S. der genannten Vorschriften der Billigkeitsrichtlinien 1953 vorliegt, darüber hinaus auch geprüft, ob bei rechtzeitiger Antragstellung der beantragte Billigkeitserweis hätte gewährt werden müssen. Eine so weitgehende Prüfung war jedoch nicht erforderlich. Der Gedanke der Rechtsverwirkung durch Säumigkeit, der – wie oben ausgeführt – der Zweijahresfrist zugrunde liegt, geht gerade davon aus, daß ein an sich bestehendes Recht durch verspätete Geltendmachung verwirkt werden kann Es verlöre auch jeden Sinn, ohne solche Frist vorzusehen, wenn im Falle ihrer Versäumung dennoch jeweils die sachliche Begründetheit des Antrages geprüft werden müßte. Bei verschuldeter Säumigkeit ist daher die Ablehnung eines Billigkeitserweises auch dann nicht ermessensmißbräuchlich, wenn bei rechtzeitiger Antragstellung dem Antrag hätte stattgegeben werden müssen.
Fundstellen