Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO bei Streitwertschätzung unzulässig
Leitsatz (NV)
Die Bestimmung des Verfahrens nach billigem Ermessen (hier: Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung) ist in den Fällen ausgeschlossen, in denen der Wert des Streitgegenstandes nicht zuverlässig nach einer konkreten Geldleistung bestimmt werden kann, sondern zu schätzen ist.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 1-2, § 94a
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhoben am 5. Januar 1998 beim Finanzgericht (FG) Untätigkeitsklage mit dem Antrag, den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) zu verpflichten, über einen Antrag auf Erlass eines Schenkungsteuerbescheides zu entscheiden.
Das FG hat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Klage als unzulässig abgewiesen und ausgeführt, die Kläger seien durch die Untätigkeit des FA nicht beschwert. Die Entscheidung ergehe gemäß § 94a der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung, da der Streitwert den Betrag von 1 000 DM nicht übersteige. Die Kläger begehrten lediglich eine Entscheidung des FA über ihren Antrag auf Veranlagung zur Schenkungsteuer, nicht den Erlass eines bestimmten Schenkungsteuerbescheides. Der Streitwert werde deshalb nach dem Ermessen des Gerichts auf 1 000 DM festgesetzt.
Mit der auf die Beschwerde der Kläger vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision machen die Kläger neben umfangreichen materiell-rechtlichen Einwendungen u.a. geltend, das FG habe trotz fehlenden Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil aufzuheben und nach den in der 1. Instanz gestellten Schlussanträgen zu erkennen; hilfsweise die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG Berlin zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Das FA hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil die Kläger nicht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben (§ 90 Abs. 2 FGO) und auch die Voraussetzungen des § 94a FGO, unter denen ausnahmsweise auch ohne ausdrücklichen Verzicht der Beteiligten über eine Klage im schriftlichen Verfahren entschieden werden kann, nicht vorlagen.
Nach § 94a FGO kann das Gericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen, d.h. auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn der Streitwert bei einer Klage, die eine Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 1 000 DM nicht übersteigt. Die Bestimmung des Verfahrens nach billigem Ermessen ist danach in den Fällen ausgeschlossen, in denen der Wert des Streitgegenstandes nicht zuverlässig nach einer konkreten Geldleistung bestimmt werden kann, sondern die notwendige Schätzung des Streitwerts zu Unsicherheiten über die Voraussetzungen des vereinfachten Verfahrens führen würde (vgl. Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 94a FGO Rdnr. 4; BFH-Beschluss vom 21. Januar 2000 II B 15/99, BFH/NV 2000, 864).
Das FG ist im Streitfall davon ausgegangen, die Kläger hätten nicht die Veranlagung zu einer konkreten Schenkungsteuer, d.h. den Erlass eines bestimmten auf eine Geldleistung gerichteten Steuerbescheids, sondern lediglich eine Entscheidung des FA in der Sache (über ihren Antrag) begehrt. Unter dieser Voraussetzung durfte es gemäß § 94a FGO nicht nach billigem Ermessen entscheiden, weil die Klage keine Geldleistung bzw. keinen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betraf.
Entscheidet das FG ―wie im Streitfall― ohne mündliche Verhandlung, obwohl dies gesetzlich nicht zulässig war, so liegt hierin sowohl ein Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, weil die Prozessbeteiligten im Verfahren nicht wirksam vertreten waren (BFH-Beschluss vom 9. Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679; BFH-Urteile vom 18. Juli 1990 I R 10/90, BFH/NV 1991, 251; vom 9. August 1996 VI R 37/96, BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77, m.w.N; Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 119 Anm. 19), als auch eine Verweigerung des Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes; § 119 Nr. 3 FGO; BFH-Urteil vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425).
Da der BFH als Revisionsgericht grundsätzlich auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt ist, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Streitsache ohne Entscheidung in der Sache an das FG zurückzuverweisen (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1992 VI R 162/88, BFHE 169, 507, BStBl II 1993, 306 a.E.).
Fundstellen
Haufe-Index 613839 |
BFH/NV 2001, 1410 |