Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Aufklärungsbefugnis bei Ermessensentscheidungen
Leitsatz (amtlich)
Das FG ist bei einer Klage auf Verpflichtung des FA zum Erlaß von Säumniszuschlägen in bestimmter Höhe befugt, den Sachverhalt aufzuklären, um entscheiden zu können, ob allein die Gewährung des beantragten Erlasses ermessensfehlerfrei ist (Ermessensreduzierung auf Null).
Orientierungssatz
1. Der Erlaß von Säumniszuschlägen setzt nicht in jedem Fall das Vorhandensein von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Steuerpflichtigen voraus; er kann auch angezeigt sein, wenn die --eingehend zu ermittelnde und zu würdigende-- wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungspflicht ergibt, daß hinsichtlich der Steueransprüche eine Erlaßsituation oder Stundungssituation vorgelegen hat. Säumniszuschläge hätten in dieser Situation ihren Sinn als Druckmittel zur Zahlung des gesamten fälligen Steuerbetrages verloren.
2. Die OFD kann ihre Pflicht zur Ermittlung aller für den Einzelfall bedeutsamen Tatsachen von Amts wegen im Beschwerdeverfahren wegen Ablehnung des Erlasses von Säumniszuschlägen dann nicht begrenzen, wenn sich die Aufklärung weiterer, über die Schilderung in der Antragsbegründung hinausgehender --auch für den Steuerpflichtigen günstiger-- Umstände aufdrängt, sei es nach Lage der Akten oder aus anderen Erkenntnissen.
Normenkette
FGO § 40 Abs. 1, § 102; AO 1977 § 240 Abs. 1, §§ 227, 88
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) beantragte am 12.Oktober 1979 Erlaß von 32 158 DM Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer 1974, 1975 und 1977 von insgesamt 62 778,82 DM mit der Begründung, sie sei ohne eigenes Verschulden in den vergangenen Jahren nicht in der Lage gewesen, die Steuerrückstände zu tilgen. Außerdem führte sie unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22.April 1975 VII R 54/72 (BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727) aus, die Erhebung von Säumniszuschlägen bei Steuerpflichtigen, die objektiv zur Zahlung der Steuerschuld nicht in der Lage seien, habe ihren Sinn verloren.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 26.November 1979 ab. Zur Begründung führte das FA u.a. aus, es hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Klägerin die Umsatzsteuern bei Fälligkeit nicht habe zahlen können. Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit seien bei ihr nicht gegeben, weil sie ihren Betrieb fortgeführt, Geschäfte geschlossen, Zahlungen geleistet und Zahlungen auch erhalten habe.
Die Beschwerde blieb erfolglos. Die Oberfinanzdirektion (OFD) führte in der Beschwerdeentscheidung vom 28.Oktober 1980 u.a. aus, die Voraussetzungen für den Erlaß von Säumniszuschlägen seien nicht gegeben, weil die Klägerin nicht zweifelsfrei überschuldet und zahlungsunfähig gewesen sei. Sie sei jedenfalls nicht zahlungsunfähig gewesen, denn aus ihren Jahresabschlüssen ergebe sich, daß sie Zahlungen für laufend anfallende Betriebsausgaben, u.a. monatliche Raten von 1 000 DM auf Steuerrückstände, gezahlt habe. Sonstige Gründe sachlicher Art, die einen Erlaß der Säumniszuschläge rechtfertigten, seien nicht vorgetragen worden. Anhaltspunkte hierfür ergäben sich auch nicht aus dem Inhalt der Steuerakten.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es begründete die Klageabweisung damit, daß das FA und die OFD die Voraussetzungen für einen Erlaß der bezeichneten Säumniszuschläge im Streitfall zutreffend verneint hätten. Die Klägerin sei nicht im Sinne des BFH-Urteils in BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727, auf das sie sich berufen hat, zahlungsunfähig gewesen. Sie habe selbst eingeräumt, daß sie ihre Geschäfte weitergeführt und laufend Zahlungen erhalten und geleistet habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 227 der Abgabenordnung (AO 1977). Sie beantragt, die Vorentscheidung, den Ablehnungsbescheid vom 26.November 1979 und die dazu ergangene Beschwerdeentscheidung vom 28.Oktober 1980 aufzuheben und das FA zu verpflichten, Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer für 1974, 1975 und 1977 von insgesamt 32 158 DM zu erlassen.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die Vorentscheidung verletzt § 102 FGO und § 227 AO 1977. Das FG ist bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ermessensentscheidung des FA über die Ablehnung des Antrags auf Erlaß von Säumniszuschlägen (§ 240 Abs.1 AO 1977) und der Beschwerdeentscheidung im Rahmen des § 102 FGO von einer zu engen Auslegung des § 227 AO 1977 ausgegangen.
a) Dem FG kann zwar darin gefolgt werden, daß die Finanzbehörden bei der Bescheidung des Erlaßantrags annehmen durften, die Klägerin sei weder überschuldet noch zahlungsunfähig. Die diesbezüglichen Erwägungen des FA und der OFD enthalten --wie die Prüfung des FG zu Recht ergeben hat-- keine Hinweise auf Ermessensmißbrauch oder Ermessensfehlgebrauch. Soweit die Klägerin in der Revisionsbegründung rügt, daß ihre Überschuldung verkannt worden sei, trägt sie neue, im Revisionsverfahren nicht mehr zu berücksichtigende Tatsachen vor (§ 118 Abs.2 FGO).
b) Die Prüfung des FG, ob die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde über die Ablehnung eines Antrags auf Erlaß von Säumniszuschlägen ermessensfehlerhaft i.S. von § 102 FGO ist, durfte sich jedoch nicht --wie in der Vorentscheidung geschehen-- auf die Anwendung von Grundsätzen aus dem BFH-Urteil in BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727 beschränken. Zu prüfen war, ob die Ablehnung des Antrags, Säumniszuschläge zu erlassen, mit den im Zeitpunkt der Fälligkeit der Steueransprüche vorhandenen wirtschaftlichen Möglichkeiten des Steuerpflichtigen vereinbar ist, Steuern rechtzeitig zu bezahlen. Maßgebend ist hierfür, ob für die Ablehnungsentscheidung alle für den Einzelfall bedeutsamen Tatsachen ermittelt und gewürdigt worden sind und ob die Beurteilung der Finanzbehörde vertretbar ist, daß Säumniszuschläge ihren Zweck hätten erfüllen können, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Bezahlung von Steuerrückständen zu veranlassen (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 8.Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262 unter C II 1, m.w.N). Die im BFH-Urteil in BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727 für die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung aufgestellten Leitlinien sind nicht abschließend zu verstehen. Sie schließen nicht aus, daß Säumniszuschläge aus anderen Gründen erlassen werden müssen, wenn der mit ihrer Entstehung gesetzlich verfolgte Zweck nicht erreichbar war (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 23.Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489).
c) Der Erlaß von Säumniszuschlägen setzt nicht in jedem Fall das Vorhandensein von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Steuerpflichtigen voraus. Er kann auch dann angezeigt sein, wenn die --eingehend zu ermittelnde und zu würdigende-- wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungspflicht ergibt, daß hinsichtlich der Steueransprüche eine Erlaß- oder Stundungssituation vorgelegen hat. Dabei haben Umsatzsteuerrückstände gegenüber anderen Verbindlichkeiten keinen Vorrang (vgl. dazu BFH in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Das FG hat seine Ermessensüberprüfung nicht in diesem Sinne durchgeführt; denn es hat nicht untersucht, ob bei der Ausübung des Entschließungsermessens durch die Finanzbehörden eine Stundungssituation oder die Situation eines Vollstreckungsaufschubs (vgl. BFH-Urteil vom 26.April 1988 VII R 127/85, BFH/NV 1989, 71) in Betracht gezogen worden ist. Nichts Gegenteiliges ergibt sich aufgrund der Bemerkung der OFD zur Frage der sachlichen Unbilligkeit des Inhalts, sonstige Gründe seien weder von der Klägerin vorgetragen worden noch aus den Steuerakten ersichtlich. Dieser pauschal gehaltene Hinweis kann dem FG nicht die Überzeugung vermittelt haben, daß die OFD dem naheliegenden Gesichtspunkt nachgegangen sei, ob nicht eine Erlaß- oder Stundungssituation vorgelegen habe, die den beantragten Erlaß von Säumniszuschlägen ganz oder teilweise rechtfertigen könnte (siehe auch unter II 2 a und b). Da mithin die Vorentscheidung auch nicht aus anderen Gründen Bestand haben kann (§ 126 Abs.4 FGO), ist sie aufzuheben.
2. Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO). Die vorhandenen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um über den Antrag der Klägerin, der nicht nur auf die Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen, sondern auf die Verpflichtung zum Erlaß von Säumniszuschlägen in bezifferter Höhe gerichtet ist, zu befinden. Zur Entscheidung über dieses Begehren wird die Sache an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
a) Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung hat das FG zu beachten, daß auch die OFD die Zurückweisung der Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Erlaß von Säumniszuschlägen durch das FA im wesentlichen nur mit der bei der Klägerin nicht gegebenen Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung begründet hat. Die OFD hat nicht nachvollziehbar geprüft, ob der beantragte Erlaß der Säumniszuschläge aus anderen Gründen in Betracht kam.
Ein Anlaß zu dieser Prüfung hatte bestanden. Er ergibt sich aus dem Inhalt der vom FG in Bezug genommenen Beschwerdeentscheidung selbst. In dieser ist ausgeführt, daß die Klägerin ihre Steuerschulden durch monatliche Ratenzahlung von 1 000 DM abgetragen hat. Falls die Ratenzahlungen entweder ausdrücklich durch Stundung (§ 222 AO 1977) bzw. Vollstreckungsaufschub (§ 258 AO 1977) oder ohne einen besonderen begünstigenden Verwaltungsakt zugelassen worden sein sollten, um auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen Rücksicht zu nehmen, könnte die Anforderung von Säumniszuschlägen unangemessen sein. Wenn die geleisteten Raten den äußersten Grenzen der Zahlungsfähigkeit der Klägerin entsprochen haben sollten, könnte davon ausgegangen werden, daß Säumniszuschläge als Druckmittel zur Zahlung des gesamten fälligen Steuerbetrages ihren Sinn verloren hatten (vgl. BFH in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Ermessensgerecht könnte es unter diesen Umständen sein, Säumniszuschläge ganz oder teilweise zu erlassen.
b) Die Ausführungen in der Beschwerdeentscheidung darüber, daß die Klägerin keine sonstigen Gründe sachlicher Art vorgetragen habe, die einen Erlaß der Säumniszuschläge rechtfertigten, und daß sich diesbezügliche Anhaltspunkte auch nicht aus den Steuerakten ergäben, reichen nicht aus, um anzunehmen, daß die OFD die bezeichneten und weitere möglicherweise in Betracht kommenden Umstände in dem für die Entscheidung erheblichen Umfang ermittelt und in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise gewürdigt hat. Mit der wiedergegebenen pauschal gehaltenen Bemerkung kann die Finanzbehörde ihre Pflicht zur Ermittlung aller für den Einzelfall bedeutsamen Tatsachen von Amts wegen (§ 88 Abs.1, 2 AO 1977) und zur Darlegung bei der Entscheidung über einen Erlaßantrag jedenfalls dann nicht begrenzen, wenn sich die Aufklärung weiterer Umstände aufdrängen mußte. Zwar ergibt sich der Umfang des aufzuklärenden Sachverhalts bei einer Erlaßentscheidung zunächst vor allem aus der von dem Steuerpflichtigen in der Antragsbegründung gegebenen Schilderung (§ 90 Abs.1 AO 1977). Die Finanzbehörde muß jedoch von sich aus alle entscheidungserheblichen Tatsachen --auch die für den Steuerpflichtigen günstigen Umstände (§ 88 Abs.2 AO 1977)-- aufklären, derentwegen sich ihr nach Lage der Akten oder aus anderen Erkenntnissen die Erforderlichkeit von Nachforschungen aufdrängt. Da die OFD die Ratenzahlungen der Klägerin herangezogen hat, um darzulegen, daß die Klägerin nicht zahlungsunfähig war, hätte es nahegelegen zu ermitteln, ob und in welchem Umfang damit die Grenzen ihrer Zahlungsfähigkeit erreicht waren.
c) Der Senat sieht davon ab, neben der Vorentscheidung auch die Verwaltungsentscheidungen aufzuheben. Die Aufhebung der ermessensfehlerhaften Verwaltungsentscheidungen mit der Folge der Erforderlichkeit einer Neubescheidung (§ 101 Satz 2 FGO) des Erlaßantrags der Klägerin durch das FA wird im Streitfall dem Klageziel nicht gerecht, das auf Verpflichtung des FA zum Erlaß eines bezifferten Betrages gerichtet ist. Das FG hat bei einer Verpflichtungsklage mit dem bezeichneten Klageziel die Finanzbehörde zum Erlaß des begehrten Verwaltungsakts zu verpflichten, wenn der Kläger durch rechtswidrige Ablehnung in seinen Rechten verletzt wird und die Sache spruchreif ist (§ 101 Satz 1 FGO). Zum Erlaß einer Ermessensentscheidung der Finanzbehörde mit einem bestimmten Inhalt kann das FG verpflichten, wenn die vom FG vorzunehmende Sachverhaltsermittlung ergibt, daß nur der Erlaß eines Verwaltungsakts mit dem beantragten Inhalt ermessensfehlerfrei ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null; vgl. BFH-Urteil vom 3.Juni 1982 VI R 48/79, BFHE 136, 224, BStBl II 1982, 710, unter 2.b; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 102 Rz.2, m.w.N.; zur Herbeiführung der Spruchreife siehe: BFH-Urteil vom 1.Juli 1981 VII R 84/80, BFHE 134, 79, BStBl II 1981, 740, 745; Gräber/von Groll, a.a.O., § 102 Tz.14; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl., § 101 FGO Anm.3; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 101 FGO Tz.2 und § 120 FGO Tz.3).
Der vorliegenden Entscheidung steht das Urteil des BFH vom 8.Dezember 1983 IV R 170/81 (BFHE 139, 553, BStBl II 1984, 200, 202) nicht entgegen, weil in dem betreffenden Verfahren --anders als im Streitfall-- keine Verpflichtung zum Erlaß eines Verwaltungsakts mit beziffertem Inhalt begehrt worden war.
Fundstellen
Haufe-Index 62816 |
BFH/NV 1990, 4 |
BStBl II 1990, 179 |
BFHE 158, 306 |
BFHE 1990, 306 |
BB 1990, 56-56 (L1) |
DB 1990, 208 (S) |
HFR 1990, 189 (LT) |
StE 1990, 34 (K) |