Entscheidungsstichwort (Thema)
Bloße Vermutung einer Scheinadresse rechtfertigt keine öffentliche Zustellung; Heilung einer unwirksamen öffentlichen Zustellung durch Übersendung einer Fotokopie
Leitsatz (amtlich)
1. Die bloße Vermutung, dass eine Adresse, an die sich der Zustellungsempfänger bei der Meldebehörde abgemeldet hat, eine Scheinadresse ist, rechtfertigt eine öffentliche Zustellung nicht. Erforderlich sind vielmehr Tatsachen, die es von vornherein als ausgeschlossen erscheinen lassen, dass der Zustellungsempfänger unter der von ihm genannten Anschrift wohnt.
2. Die unwirksame öffentliche Zustellung eines Bescheides kann durch die Übersendung einer Fotokopie geheilt werden.
Normenkette
VwZG § 9 Abs. 1-2, § 14 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Buchst. a, c; AO 1977 § 122 Abs. 1 S. 3
Verfahrensgang
FG Münster (EFG 1999, 1060; LEXinform-Nr. 0552470) |
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) hat den Kläger und Revisionskläger (Kläger) u.a. für Lohnsteuerrückstände der GmbH, deren Geschäftsführer er war, in Haftung genommen. Nachdem zwei Zustellungsversuche an eine Anschrift in A erfolglos geblieben und die Postzustellungsurkunden jeweils mit dem Vermerk "unbekannt verzogen" zurückgekommen waren, teilte das Einwohnermeldeamt dem FA auf eine telefonische Anfrage hin mit, dass sich der Kläger nach P, Polen abgemeldet habe. Bei der Anschrift handele es sich vermutlich um eine Scheinadresse, da sich schon mehrere Personen unter Angabe dieser Anschrift abgemeldet hätten.
Das FA verfügte daraufhin im Februar 1993 die Zustellung des Haftungsbescheids durch öffentliche Bekanntmachung. Auf Anforderung der Kläger-Vertreter übersandte das FA diesen am 27. September 1993 eine Kopie des fraglichen Haftungsbescheides. Mit Schreiben vom 30. September 1993 legte der Kläger Einspruch gegen den Haftungsbescheid ein. Er machte geltend, die öffentliche Zustellung sei unwirksam gewesen, da er sich ordnungsgemäß nach Polen abgemeldet habe. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Die dagegen erhobene Klage blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) vertrat in seinem Urteil, dessen Leitsatz in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1060 veröffentlicht ist, die Ansicht, dass das FA ohne Erfolg alles nach der Sachlage Gebotene unternommen habe, um den Aufenthalt des Klägers in Erfahrung zu bringen. Die Zustellung des Haftungsbescheides durch öffentliche Bekanntmachung sei demnach zu Recht erfolgt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von dem erkennenden Senat zugelassene Revision des Klägers, die im Wesentlichen damit begründet wird, dass sich das FA für eine öffentliche Zustellung nicht auf Vermutungen eines Mitarbeiters des Einwohnermeldeamtes hätte verlassen dürfen, sondern eine Auslandszustellung unter der vom Kläger angegebenen Adresse hätte vornehmen müssen.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es trägt vor, die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung des Haftungsbescheides hätten vorgelegen. Eine öffentliche Zustellung sei jedenfalls dann zulässig, wenn eine umständliche und zeitraubende Zustellung in das Ausland nach Ansicht eines verständigen und objektiven Beobachters lediglich als Formalismus erscheine, weil dieser angenommene Beobachter aufgrund der konkreten Verhältnisse des Einzelfalles den Eindruck gewinnen müsse, dass es sich bei der ausländischen Abmeldeanschrift ―wie im Streitfall― um eine Scheinadresse handele. Es sei für einen verständigen und besonnenen Beobachter unter Berücksichtigung statistischer Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkte schlechterdings nicht vorstellbar, dass sich mehrere Personen aus einer relativ kleinen Stadt wie A (80 000 Einwohner) unabhängig voneinander an eine ganz bestimmte Wohnadresse in P abgemeldet haben sollten. Hinzu komme noch, dass diese Abmeldungen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes erfolgt sein müssten, denn ansonsten wäre dieser Umstand dem zuständigen Beamten des Meldeamtes bestimmt nicht aufgefallen. Außerdem erwecke auch die Tatsache, dass die Zustellungen im Einfamilienhaus des Klägers ―in dem sich die Ehefrau aufgehalten habe― mit dem Vermerk "unzustellbar" endeten, den Eindruck, dass die Abmeldung nach Polen nur zum Schein erfolgt sei. Zudem seien Zustellungen nach Polen besonders zeitraubend und beschwerlich gewesen.
Schließlich hätten dem FA keine weiteren Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden. Insbesondere sei eine Befragung der Ehefrau nicht in Betracht gekommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht. Die Sache ist unter Aufhebung der Vorentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Der Einspruch des Klägers vom September 1993 gegen den Haftungsbescheid ist fristgerecht erfolgt, weil die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung im Februar 1993 unwirksam war. Der Haftungsbescheid ist erst mit der Heilung der Bekanntgabemängel im September 1993 wirksam geworden.
1. Die vom FA angeordnete öffentliche Zustellung des Haftungsbescheides (§ 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes ―VwZG―) ist unwirksam, weil weder die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG ―unbekannter Aufenthalt― noch des § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG ―Unausführbarkeit oder mangelnde Erfolgsaussicht bei gebotener Auslandszustellung― vorlagen.
a) Ein Schriftstück kann durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt werden, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist (§ 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG). Dies ist der Fall, wenn der Aufenthaltsort allgemein unbekannt ist. Es reicht nicht aus, dass nur die betreffende Behörde bzw. das zustellende Gericht die Anschrift nicht kennen. Ob diese Voraussetzung der öffentlichen Zustellung vorliegt, ist im Einzelfall sorgfältig zu prüfen (vgl. Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteil vom 18. März 1971 V R 25/67, BFHE 102, 20, BStBl II 1971, 555; BFH-Beschluss vom 17. Oktober 1985 IV B 67/85, BFH/NV 1986, 576; BFH-Urteil vom 26. Juni 1986 IV R 202/84, BFH/NV 1987, 98). Hierfür sind gründliche und sachdienliche Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts erforderlich (vgl. Bundesverwaltungsgericht ―BVerwG―, Beschluss vom 25. April 1994 1 B 69.94, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 340, § 15 VwZG Nr. 2; BVerwG-Urteil vom 18. April 1997 8 C 43.95, BVerwGE 104, 301), denn die Zustellungsvorschriften dienen auch der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Sie sollen gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Der Erfüllung der Zustellungsvoraussetzungen des § 15 VwZG kommt insbesondere deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil das öffentlich ausgehängte Schriftstück nach dem Ablauf einer bestimmten Frist als zugestellt "gilt" oder "anzusehen" ist (§ 15 Abs. 3 Satz 1 und 2 VwZG), dem Empfänger also nicht übergeben und regelmäßig auch inhaltlich nicht bekannt wird. Die Zustellungsfiktion ist verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist (Bundesverfassungsgericht ―BVerfG―, Beschluss vom 26. Oktober 1987 1 BvR 198/87, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1988, 2361). Sie ist nur als "letztes Mittel" der Bekanntgabe zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (BFH-Beschluss vom 10. Dezember 1991 VII B 25/91, BFH/NV 1992, 610, m.w.N.; Bundesgerichtshof ―BGH― Urteil vom 6. April 1992 II ZR 242/91, BGHZ 118, 45).
Das FA hat zwar Ermittlungen zum Aufenthaltsort des Klägers angestellt; die hieraus gewonnenen Erkenntnisse rechtfertigen jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass der Aufenthaltsort des Klägers "unbekannt" i.S. des § 15 VwZG war.
Dem FA war bekannt, dass sich der Kläger unter Angabe einer Adresse in Polen bei der Meldebehörde abgemeldet hatte. Damit war dem FA eine Anschrift des Klägers bekannt. Die bloße Vermutung des FA und der Meldebehörde, dass diese Anschrift eine Scheinadresse sei, rechtfertigt ―im Hinblick auf die schwerwiegenden Folgen― die öffentliche Zustellung eines Bescheides nicht.
Gibt der Zustellungsempfänger beim Einwohnermeldeamt eine (neue) Adresse an, hat das FA diese Anschrift bei der Zustellung von Bescheiden grundsätzlich zu berücksichtigen. Das FA muss im Allgemeinen einen Zustellversuch unter dieser Adresse ―auch wenn es sich um eine ausländische handelt― unternehmen, ehe es zu der Feststellung gelangen kann, dass der Aufenthaltsort des Zustellungsempfängers unbekannt ist. Auf einen Zustellversuch unter der (neuen) Anschrift des Empfängers kann nur verzichtet werden, wenn die Ermittlungen des FA Tatsachen hervorgebracht haben, die es von vornherein als ausgeschlossen erscheinen lassen, dass der Zustellungsempfänger unter der von ihm genannten Anschrift wohnt.
Ob in Fällen der öffentlichen Zustellung nach § 15 VwZG eine Wechselwirkung zwischen dem Verhalten des Empfängers einerseits und dem Umfang der notwendigen Ermittlungen der Behörde andererseits in der Form besteht, dass sich der Ermittlungsaufwand der Behörde nach dem Verhalten des Empfängers richtet und bei Anhaltspunkten für ein Verheimlichen des Aufenthaltsortes weniger intensiv zu ermitteln ist, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden (ebenso offen gelassen: Senatsurteil vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81).
Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass eine öffentliche Zustellung bereits dann angeordnet werden kann, wenn die Vermutung dafür spricht, dass die vom Zustellungsempfänger angegebene Anschrift eine Scheinadresse ist. Eine Zustellung an die von dem Adressaten angegebene Adresse kann nur dann unterbleiben, wenn ein Zustellversuch auf eine bloße Förmelei hinausliefe, weil er von vornherein als aussichtslos erscheint (vgl. BVerwGE 104, 301, 309). Nicht ausreichend sind dafür bloße Vermutungen und Zweifel an der Richtigkeit der Anschrift, die keinen eindeutigen Schluss erlauben, dass die vom Zustellungsempfänger bei der Meldebehörde hinterlassene Anschrift unrichtig ist bzw. dass es sich um eine Scheinadresse handelt.
Sowohl die Behauptung des FA, der Kläger habe sich mutmaßlich wegen der bevorstehenden Betriebsprüfung abgesetzt, als auch der Vortrag, es sei unwahrscheinlich, dass sich in einer kleinen Stadt verschiedene Personen an die gleiche Adresse abmelden würden, sind keine solchen Tatsachen, die den eindeutigen Schluss dahin gehend zulassen, dass es sich bei der Adresse in Polen um eine Scheinadresse gehandelt hat. Dieser Schluss ist nach den gegebenen Umständen nicht in einer Weise zwingend, die einen Zustellversuch oder weitere Ermittlungen als unnötig erscheinen lassen. Das FG hat ihn nicht in einer den erkennenden Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Weise gezogen, sondern nur für möglich und nahe liegend gehalten, dass die Adresse ("vermutlich") eine Scheinadresse sei. Es hätte sich jedoch angeboten, den Kläger (per einfachem Brief) gemäß § 123 der Abgabenordnung (AO 1977) aufzufordern, einen Zustellungsbevollmächtigten in der Bundesrepublik Deutschland zu bestellen. Sofern das Schreiben in Polen nicht zustellbar gewesen wäre, hätte sich die Vermutung des Einwohnermeldeamtes, es habe sich um eine Scheinadresse gehandelt, als zutreffend erweisen können. Auch eine Befragung der weiter unter der alten Anschrift wohnhaften Ehefrau des Klägers hätte nahe gelegen. Anders als das FG meint, wäre es zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Klägers auch nicht notwendig gewesen, der Ehefrau hierbei offen zu legen, dass der Kläger für Haftungsschulden in Anspruch genommen werden sollte.
b) Das Urteil des FG ist auch nicht im Ergebnis richtig (§ 126 Abs. 4 FGO). Nach § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG kann zwar trotz bekannten Aufenthaltsortes dann öffentlich zugestellt werden, wenn die Zustellung im Ausland nach § 14 VwZG unausführbar ist oder zumindest keinen Erfolg verspricht.
Eine Auslandszustellung verspricht dann keinen Erfolg, wenn sie an sich möglich wäre, ihre Durchführung aber etwa wegen Kriegs, Abbruchs der diplomatischen Beziehungen, Verweigerung der Rechtshilfe oder unzureichender Vornahme durch die örtlichen Behörden nicht zu erwarten ist (vgl. Allgemeine Verwaltungsvorschrift Nr. 19 zum VwZG vom 13. Dezember 1966, BStBl I 1966, 969). Das FG hat nicht festgestellt und es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine Auslandszustellung nicht erfolgversprechend war. Der Umstand, dass Zustellungen nach Polen über die diplomatischen Vertretungen durch Weiterleitung an das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in Polen ca. zwei Jahre in Anspruch nehmen können (vgl. Verfügung der Oberfinanzdirektion ―OFD― Bremen von 2. Februar 1999 Tz. 4.5, AO-Kartei BR § 122 AO), reicht nicht aus, um einen Bescheid nach § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG wirksam öffentlich zuzustellen.
Von der nach § 14 Abs. 1 VwZG vorgeschriebenen Zustellung ins Ausland mittels Ersuchen der zuständigen Behörde des fremden Staates oder der in diesem Staate befindlichen konsularischen oder diplomatischen Vertretungen des Bundes hat das FA folglich zu Unrecht abgesehen.
2. Danach ist das FG zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung gemäß § 15 Abs. 1 VwZG vorliegen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Haftungsbescheid nicht wirksam bekannt gegeben worden und folglich im Interesse der Rechtsklarheit aufzuheben ist, weil die Mängel der förmlichen Zustellung durch die Übersendung der Fotokopie an die Kläger-Vertreter gemäß § 9 Abs. 1 VwZG geheilt worden sind.
Nach dieser Vorschrift gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Ein Verstoß gegen § 15 VwZG schließt die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 1 VwZG nicht aus (vgl. BFH-Urteile vom 23. Februar 1994 X R 27/92, BFH/NV 1994, 768; in BFH/NV 1992, 81; vom 28. August 1990 VII R 59/89, BFH/NV 1991, 215; BVerwG in BVerwGE 104, 301). Das bedeutet, dass ein nach § 9 Abs. 1 VwZG heilbarer Mangel auch dann vorliegt, wenn die öffentliche Zustellung wegen einer Verletzung der Ermittlungspflicht der Behörde über den Aufenthalt des Empfängers unwirksam ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 15 VwZG Tz. 1).
Der Mangel wurde im Streitfall durch den tatsächlichen Zugang des Haftungsbescheides geheilt. "Empfangsberechtigter" ist grundsätzlich derjenige, an den die Zustellung des Bescheids nach dem Gesetz zu richten war (BFH-Urteil vom 25. Januar 1994 VIII R 45/92, BFHE 173, 213, 216, BStBl II 1994, 603, 605). Dies war der Kläger als Adressat des Bescheids. Ob und wann der Kläger den Haftungsbescheid erhalten hat, ist vom FG nicht festgestellt worden. Eine Heilung durch Zugang des Haftungsbescheides beim Kläger kommt vorliegend also nicht in Betracht.
Eine Heilung nach § 9 Abs. 1 VwZG ist aber dadurch eingetreten, dass das FA eine Bescheidkopie an die später vom Kläger bevollmächtigten Rechtsanwälte übergeben hat, die nach den für den Senat verbindlichen Feststellungen des FG als Bevollmächtigte des Klägers Empfangsberechtigte i.S. des § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 waren. Dass der Bescheid nicht an die Bevollmächtigten adressiert war, ist unbeachtlich. Eine Heilung nach § 9 Abs. 1 VwZG ist nach dem Rechtsgedanken des § 8 Abs. 1 Satz 2 VwZG auch für den Fall anzunehmen, dass der Bescheid nicht dem in ihm angeführten Adressaten, sondern dessen Zustellungsbevollmächtigten i.S. von § 8 Abs. 1 Satz 2 VwZG tatsächlich zugeht (BFH/NV 1992, 81).
Der Heilung steht außerdem nicht entgegen, dass der Zustellungsempfänger seinen Wohnsitz im Ausland hat. Gilt die Bekanntgabe des Bescheids durch die Übergabe an den inländischen Bevollmächtigten als bewirkt, so können die Bestimmungen über die Zustellung im Ausland nicht berührt sein (vgl. BGH-Urteil vom 22. November 1988 VI ZR 226/87, NJW 1989, 1154).
Ferner ist unerheblich, dass lediglich eine Kopie des Haftungsbescheides übersandt worden ist. Der Zweck der Bekanntgabe ist nämlich erreicht, wenn dem Adressaten eine zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids verschafft wird. Diese Kenntnis vermittelt auch eine Fotokopie, wenn sie das Original vollständig wiedergibt (BFH-Urteile vom 19. Mai 1976 I R 154/75, BFHE 119, 219, 222, BStBl II 1976, 785, und in BFH/NV 1992, 81, 85; BVerwG-Urteile vom 15. Januar 1988 8 C 8.86, NJW 1988, 1612, und vom 9. Oktober 1998 4 B 98.98, Neue Zeitschrift für das Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1999, 183). Das ist hier der Fall, wie die zusammen mit der Klage vorgelegten Ablichtungen dieser Fotokopie belegen. Der Heilung steht nicht entgegen, dass die Kläger-Vertreter nicht das in den Akten verbliebene Exemplar mit der Originalunterschrift, sondern eine Fotokopie des Bescheides erhalten haben. In der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH/NV 1992, 81, 85; Urteil vom 4. Oktober 1989 V R 39/84, BFH/NV 1990, 409, 411) ist anerkannt, dass der Zugang einer Fotokopie, die als besondere Form der Abschrift die für den Adressaten bestimmte Ausfertigung nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt, eine fehlerhafte Zustellung heilen kann. Auch das BVerwG (BVerwGE 104, 301; NVwZ 1999, 183) hat eine Heilung der Zustellung durch tatsächlichen Zugang angenommen, wenn die Fotokopie dem Empfangsbevollmächtigten zur Kenntnis übersandt wird.
Im Rahmen der auf den tatsächlichen Erhalt des Schriftstücks abstellenden Heilung nach § 9 Abs. 1 VwZG ist auch ohne Bedeutung, dass ein Beamter, der von einer wirksamen öffentlichen Zustellung ausgeht, mit der Übersendung einer Ausfertigung an den Bevollmächtigten möglicherweise nicht die Vorstellung verknüpft, dass dadurch eine Bekanntgabe nach § 122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 bewirkt wird. Für eine Heilung nach § 9 Abs. 1 VwZG ist ausreichend, dass die Behörde zu einem früheren Zeitpunkt ihren Bekanntgabewillen dokumentiert hat. Der Haftungsbescheid und die Benachrichtigung gemäß § 15 Abs. 2 VwZG sind mit Wissen und Wollen des FA in der Absicht, Rechtsfolgen auszulösen, zur Post gegeben bzw. ausgehängt worden. Dies ergibt sich ohne weiteres aus den missglückten Zustellungs- und Bekanntgabeversuchen. Es ist nicht erforderlich, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird (vgl. BFH/NV 1991, 215, 216). Solange dieser durch die fehlerhafte Zustellung dokumentierte Bekanntgabewille nicht durch ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten zurückgenommen worden ist, wirkt er fort (vgl. BFH/NV 1992, 81, 85) und umfasst daher auch die spätere Übersendung einer vollständigen Fotokopie des Bescheides.
Die Anwendbarkeit des § 9 Abs. 1 VwZG wird auch nicht durch die in Abs. 2 dieser Bestimmung getroffene Regelung ausgeschlossen. Mit der Bekanntgabe des Haftungsbescheides hat keine Frist im Sinne dieser Regelung begonnen. Denn gegen den Haftungsbescheid ist der zulässige Rechtsbehelf der Einspruch (vgl. § 347 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). Die Möglichkeit einer Sprungklage kann bei der Entscheidung über die Frage, ob mit einer Bekanntgabe des Haftungsbescheides eine Frist nach § 9 Abs. 2 VwZG begonnen hat, außer Betracht bleiben (vgl. BFH-Beschluss vom 22. November 1976 GrS 1/76, BFHE 121, 9, BStBl II 1977, 247; BFH-Urteil vom 5. März 1985 VII R 156/82, BFHE 143, 220, BStBl II 1985, 597).
3. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Der Senat kann nicht durcherkennen, da die Sache nicht spruchreif ist. Von seinem Standpunkt aus zutreffend hat das FG die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids nicht geprüft. Dies ist bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung nachzuholen.
Fundstellen
Haufe-Index 424573 |
BFH/NV 2000, 1382 |
BStBl II 2000, 560 |
BFHE 192, 200 |
BFHE 2001, 200 |
BB 2000, 2034 |
DB 2000, 1948 |
DStRE 2000, 1109 |
HFR 2000, 872 |
StE 2000, 607 |