Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Legt der Arbeitgeber bei einer Lohnsteuerprüfung und nachher trotz Aufforderung keine Unterlagen zur Feststellung der Höhe der nach Auffassung des Prüfers lohnsteuerpflichtigen Zuwendungen vor, so kann dies die Finanzverwaltung bei einer Ermessensentscheidung nach § 251 AO angemessen berücksichtigen und die Aussetzung der Vollziehung eines auf Grund der Prüfung ergangenen Lohnsteuerhaftungsbescheids ablehnen, bei dem die Höhe der Zuwendungen griffweise geschätzt wurde.
Normenkette
AO §§ 217, 251 S. 2; LStDV § 46
Tatbestand
Die Bgin., eine Fluggesellschaft, gewährt ihren Arbeitnehmern, die mindestens ein Jahr bei ihr tätig sind, verbilligte Flugreisen für 10 v. H. des tariflichen Linienpreises. Das Finanzamt sah in dieser Vergünstigung die Zuwendung von geldwerten Vorteilen. Bei der Lohnsteuernachforderung legte es als Wert dieser Sachbezüge den Unterschied zwischen dem von den Arbeitnehmern gezahlten Betrag und dem Selbstkostenpreis der Bgin. zugrunde. Als Selbstkostenpreis setzte es die Hälfte des Linienpreises der billigsten Flugklasse an. Da Unterlagen über die Art und die Zahl der verbilligten Flüge nicht vorlagen, nahm das Finanzamt den Wert der jedem Arbeitnehmer zugewendeten Vorteile mit jährlich 500 DM an. Die darauf entfallende Lohnsteuer schätzte es unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Jahresarbeitslohns von 5.000 DM bis 6.000 DM. Mit Lohnsteuerhaftungsbescheid vom 25. Juli 1960 forderte es für die Jahre 1952 bis 1959 = 50.404,20 DM Lohnsteuer, Abgabe Notopfer Berlin und Kirchensteuer nach. Die Bgin. legte hiergegen Einspruch ein und beantragte auch, die Vollziehung nach § 251 AO auszusetzen. Der Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen; über die dagegen eingelegte Berufung ist noch keine Entscheidung ergangen. Die Vollziehung setzte das Finanzamt mit der Verfügung vom 2. September 1960 für die Hälfte des angeforderten Betrags, also für 25.202,10 DM aus.
Die gegen die Aussetzungsverfügung eingelegte Beschwerde wurde von der Oberfinanzdirektion als unbegründet zurückgewiesen.
Das Finanzgericht setzte dagegen für den ganzen streitigen Betrag von 50.404,20 DM die Vollziehung aus. Zur Begründung führte es aus, die Oberfinanzdirektion habe den Einwendungen der Bgin. gegen den Haftungsbescheid zu Unrecht keine Erfolgsaussichten beigemessen. Der Einwand der Verjährung sei zwar nicht begründet. Es sei der Bgin. auch nicht darin zu folgen, daß die ihren Arbeitnehmern gewährte Vergünstigung bloße Annehmlichkeiten seien. Bei der Bewertung der Sachbezüge lege die Oberfinanzdirektion aber zu Unrecht den Unterschied zwischen dem üblichen Mittelpreis und dem von den Arbeitnehmern gezahlten Betrag zugrunde. Es sei nur der Wert anzusetzen, den die Arbeitnehmer bei ihren Einkommensverhältnissen einer Flugreise beigemessen hätten. Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 500 DM monatlich benutzten jedoch normalerweise kein Flugzeug für ihre Urlaubsreisen. Als Bereicherung der Arbeitnehmer komme daher nur der Betrag in Betracht, den sie üblicherweise als Fahrtkosten für Urlaubs- und Ferienreisen erspart hätten. Die Oberfinanzdirektion habe dies bei ihrer Beschwerdeentscheidung nicht beachtet. Es sei infolgedessen von der Oberfinanzdirektion bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels der Bgin. nicht berücksichtigt worden, daß die von den Arbeitnehmern gezahlten 10 v. H. des tariflichen Linienpreises möglicherweise nicht höher seien als die von ihnen üblicherweise vorgesehenen Fahrtkosten für eine Urlaubsreise. Die Oberfinanzdirektion habe außerdem beachten müssen, daß die Flugverbilligung nur den Arbeitnehmern selbst, nicht aber ihren Angehörigen zugute gekommen sei und daß die Arbeitnehmer unter Umständen unvorhergesehene Mehrkosten gehabt hätten, weil sie vor vollzahlenden Fluggästen hätten zurücktreten und deshalb Reiseverzögerungen hätten in Kauf nehmen müssen. Bei richtiger Anwendung ihres Ermessens hätte daher die Oberfinanzdirektion dem Rechtsmittel der Bgin. wohlbegründete Aussichten auf Erfolg zubilligen müssen, wenn sich auch noch nicht habe voraussehen lassen, ob das Rechtsmittel in vollem Umfang Erfolg haben werde. Unter diesen Umständen sei die Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich des ganzen Lohnsteuerhaftungsbescheids gerechtfertigt.
Die Oberfinanzdirektion rügt mit ihrer Rb. unrichtige Anwendung des § 251 AO. Das Finanzgericht habe zu Unrecht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde gesetzt. Es habe diese ungewöhnliche Maßnahme damit zu begründen versucht, daß nur eine Entscheidung möglich gewesen sei. Es könne dahingestellt bleiben, ob nicht bereits der besondere Charakter des summarischen Verfahrens nach § 251 Satz 2 AO grundsätzlich einer Sachentscheidung der Finanzgerichte entgegenstehe. Das Finanzgericht habe jedenfalls außer acht gelassen, daß sich die Ermessensausübung bei § 251 Satz 2 AO nicht nur auf die eigentliche Aussetzung, sondern auch auf deren Dauer, einen etwaigen Widerrufsvorbehalt und die Sicherheitsleistung beziehe. Eine Aussetzung habe keinesfalls ohne Vorbehalt des Widerrufs ergehen dürfen. Unrichtig sei auch die vom Finanzgericht ausgesprochene Aussetzung "bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache", da hierdurch die Aussetzung auch noch nach einer für die Bgin. ungünstigen Entscheidung des Finanzgerichts in der Hauptsache fortbestehe und die Bgin. zur Einlegung einer Rb. veranlassen könne. Da das Finanzgericht die Steuerpflicht der verbilligten Flugreisen dem Grunde nach bejahe und mindestens teilweise auch die Lohnsteuerpflicht der Arbeitnehmer anerkenne, sei die vollständige Aussetzung nicht anhängig gewesen, zumal die Bgin. bereits 8.000 DM auf die streitige Lohnsteuer bezahlt habe. Dem Finanzgericht sei auch nicht zu folgen, soweit es sich sachlich zu dem Erfolgsaussichten der Bgin. geäußert habe. Wenn man bei der Schätzung der nachgeforderten Lohnsteuer von einem Monatsverdienst der Arbeitnehmer von 500 DM ausgegangen sei, so sei das lediglich als Schätzungsgrundlage zu werten, könne aber nicht für die Beurteilung zugrunde gelegt werden, ob die Arbeitnehmer ohne die ihnen gewährte Preisvergünstigung die Flugreise unternommen hätten. Das Finanzgericht habe überhaupt der Prüfung der subjektiven Bereicherung der Arbeitnehmer zu großes Gewicht beigemessen. Dieser Gesichtspunkt könne jedenfalls den objektiven Wert der Sachbezüge nicht auf 0 DM mindern. Schließlich habe das Finanzgericht nicht beachtet, daß die Bgin. bis zur Beschwerdeentscheidung trotz Aufforderung keine ausreichenden Unterlagen über die Zahl und den Wert der in Anspruch genommenen Flugreisen vorgelegt habe, so daß die Oberfinanzdirektion bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels auf eine Schätzung angewiesen gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Nach § 251 Satz 2 AO kann das Finanzamt die Vollziehung eines Steuerbescheids aussetzen. Die Entscheidung darüber steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Gegen die Ablehnung kann der Steuerpflichtige Beschwerde bei der Oberfinanzdirektion einlegen (ß 237 AO) und gegen deren Entscheidung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - GG - (jetzt nach § 237 Abs. 2 AO in der Fassung des Steueränderungsgesetzes - StändG - 1961) Berufung an das Finanzgericht, dessen Urteil mit der Rb. an den Bundesfinanzhof angefochten werden kann (siehe Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277).
Die Finanzgerichte haben nach diesem Gutachten lediglich nachzuprüfen, ob die Verwaltungsbehörde sich bei ihrer Entscheidung im Rahmen ihres pflichtmäßigen Ermessens gehalten hat. Sie können grundsätzlich bei Feststellung einer unrichtigen Anwendung des Ermessens nur die Entscheidung der Oberfinanzdirektion aufheben. In der Sache selbst können sie nur ausnahmsweise selbst entscheiden und dabei ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, wenn nach Aufhebung der Beschwerdeentscheidung nur eine Entscheidung möglich ist (siehe Urteile des Bundesfinanzhofs IV 229/60 U vom 20. April 1961, BStBl 1961 III S. 320, Slg. Bd. 73 S. 143; III 209/59 U vom 15. März 1963, BStBl 1963 III S. 277, Slg. Bd. 76 S. 761).
Das Finanzgericht hat im Streitfall diese Grundsätze nicht richtig angewandt. Die Vorentscheidung ist in erster Linie aufzuheben, weil das Finanzgericht nach Feststellung einer unrichtigen Anwendung des Ermessens durch die Oberfinanzdirektion nicht sachlich selbst entscheiden konnte. Dazu war es nach dem Gutachten Gr.S. D 1/51 S a. a. O. nicht berechtigt, da nach der Aufhebung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion nicht nur eine Entscheidung, sondern mehrere möglich waren. Die Oberfinanzdirektion weist mit Recht darauf hin, daß nach der Aufhebung ihrer Beschwerdeentscheidung verschiedene Beurteilungen in Betracht kamen. Außer der vom Finanzgericht für richtig gehaltenen Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich des ganzen nachgeforderten Lohnsteuerbetrags war eine Aussetzung für einen Teilbetrag, eine solche gegen Sicherheitsleistung, unter einem Widerrufsvorbehalt und schließlich unter Befristung bis zur Entscheidung des Finanzgerichts über die Berechtigung der Lohnsteuernachforderung hinsichtlich Grund und Höhe sehr wohl denkbar. Weil demnach nicht nur eine Entscheidung möglich war, durfte das Finanzgericht nach Aufhebung der Beschwerdeentscheidung nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen und selbst über die Aussetzung der Vollziehung entscheiden. Die Vorentscheidung war schon deshalb aufzuheben.
Sie ist aber auch nicht zu billigen, soweit das Finanzgericht eine unrichtige Ausübung des Ermessens durch die Oberfinanzdirektion angenommen hat. Inwieweit die sachlichen Einwendungen der Bgin. gegen den Haftungsbescheid Aussicht auf Erfolg versprechen, ist in diesem Rechtsstreit nicht zu prüfen, da bereits aus einem anderen Grund die Ermessensentscheidung der Oberfinanzdirektion nicht zu beanstanden ist. Die Bgin. hat dem Lohnsteuerprüfer und dem Finanzamt trotz Aufforderung keine Unterlagen vorgelegt, aus denen das Ausmaß der den Angestellten der Bgin. zugewendeten verbilligten Flüge und der Geldwert dieser Zuwendungen zu entnehmen oder doch wenigstens annähernd zu schätzen gewesen wären. Diese Unterlagen sind erst nach der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion eingereicht worden. Das Finanzamt und die Oberfinanzdirektion mußten unter diesen Umständen die Besteuerungsgrundlagen griffweise schätzen. Die Bgin. ist bis zu der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion ihrer Verpflichtung, gemäß § 171 AO bei der Aufklärung des für die Besteuerung wesentlichen Sachverhalts im Rahmen des Zumutbaren mitzuwirken, nicht nachgekommen. Bei der danach erforderlichen Schätzung der Besteuerungsgrundlagen hat das Finanzamt die in § 217 AO aufgestellten Grundsätze beachtet. Da es die jeder Schätzung innewohnende Fehlermöglichkeit durch die Aussetzung der Vollziehung für die Hälfte der im Haftungsbescheid angeforderten Lohnsteuer berücksichtigte, hatte es schon von sich aus dieser Unsicherheit ausreichend Rechnung getragen. Die Oberfinanzdirektion konnte jedenfalls ohne Rechtsverstoß der Auffassung sein, daß mit der Aussetzung der Vollziehung für die Hälfte die Erfolgsaussichten der Bgin. angemessen berücksichtigt seien. Daß die Bgin. nach dem Ergehen der Beschwerdeentscheidung die Unterlagen vorgelegt hat, muß im vorliegenden Rechtsbeschwerdeverfahren außer Betracht bleiben, da hier nur die Verhältnisse im Zeitpunkt der mit der Rb. angefochtenen Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion zugrunde zu legen sind. An dieser Beurteilung vermögen auch die Ausführungen der Bgin. im Schriftsatz vom 24. September 1963 und in der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 1959 nichts zu ändern. Es ist insbesondere nicht zu berücksichtigen, ob das Finanzamt auf Grund der nach dem Ergehen der Beschwerdeentscheidung vorgelegten Unterlagen den Haftungsbescheid hätte ermäßigen müssen.
Die Rb. ist schließlich auch nicht, wie die Bgin. annimmt, durch die etwa einen Monat nach dem Urteil des Finanzgerichts vom Finanzamt verfügte vollständige Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids in der Hauptsache erledigt worden. Die Ausführungen der Oberfinanzdirektion, diese Aussetzung habe das Finanzamt nur ausgesprochen, weil es geglaubt habe, hierzu nach dem Urteil des Finanzgerichts verpflichtet zu sein, ist glaubhaft, zumal die Oberfinanzdirektion an dem gleichen Tag, an dem das Finanzamt die völlige Aussetzung des Haftungsbescheids verfügte, gegen das Urteil des Finanzgerichts Rb. eingelegt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 411060 |
BStBl III 1964, 86 |
BFHE 1964, 220 |
BFHE 78, 220 |