Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Bindung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid
Leitsatz (NV)
Ist die Änderung eines Grundlagenbescheids zu erwarten, bietet § 155 Abs. 2 AO 1977 keine Rechtsgrundlage dafür, bereits im Vorgriff auf diese Änderung den Folgebescheid zu ändern; denn der ursprüngliche, wenn auch unrichtige Grundlagenbescheid ist für den Folgebescheid solange bindend, als er noch nicht ersetzt wurde.
Normenkette
AO 1977 § 155 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind zur Vermögensteuer zusammen veranlagte Eheleute. Die Klägerin war am Hauptveranlagungsstichtag 1. Januar 1972 Eigentümerin eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs in der Gemarkung W. Davon übertrug sie durch notariell beurkundeten Vertrag vom Januar 1969 Grundstücksflächen von ... Morgen für rd. ... DM an ein Kiesunternehmen. Die Gegenleistung war in sechs Teilbeträgen bis zum 6. Jahr nach der Eintragung der Auflassungsvormerkung zu entrichten. Der Vertrag ist als "Kaufvertrag", das Entgelt als "Kaufpreis" bezeichnet. In einem weiteren notariellen Vertrag vom selben Tag verpflichtete sich das Kiesunternehmen, das Grundstück nach beendeter Auskiesung an die Klägerin zurückzuübertragen, und die Klägerin, das Grundstück zurückzuerwerben.
Im Jahre 1971 erließ das für die Einheitsbewertung zuständige Lagefinanzamt einen Wertfortschreibungsbescheid auf den 1. Januar 1969, durch den der Einheitswert für den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb der Klägerin in W von bisher ... DM wegen Veräußerung des größten Teils der Flächen an das Kiesunternehmen herabgesetzt wurde. Dementsprechend gaben die Kläger in ihrer Vermögenserklärung auf den 1. Januar 1972 das land- und forstwirtschaftliche Vermögen nur noch mit ... DM an; davon entfielen auf den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb in W ... DM. Forderungen gegen das Kiesunternehmen wurden nicht erklärt.
Im Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1972 folgte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) insoweit den Angaben der Kläger. Anläßlich einer Außenprüfung bei dem Kiesunternehmen im Jahre 1982 erfuhr das FA von den beiden notariellen Verträgen. Es vertrat daraufhin die Auffassung, die Klägerin habe aufgrund dieser Verträge das Grundstück nicht verkauft, sondern verpachtet und habe deshalb Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Das FA änderte dementsprechend die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1970 bis 1975. Außerdem änderte das FA durch Bescheid vom 27. Dezember 1982 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) die bisherige Vermögensteuerveranlagung auf den 1. Januar 1972 und erhöhte die Vermögensteuer von bisher ... DM auf ... DM. Dabei setzte es beim sonstigen Vemögen den Gegenwartswert der Kapitalforderungen der Klägerin gegen das Kiesunternehmen mit insgesamt ... DM an und erhöhte außerdem -- ohne daß zuvor ein entsprechender Einheitswertbescheid für den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb der Klägerin in W ergangen war -- den Ansatz des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens um ... DM. Dazu heißt es in der Anlage zu dem Änderungsbescheid vom 27. Dezember 1982, daß der Veräußerung vom Januar 1969 wirtschaftlich betrachtet die Veräußerung des Substanzausbeuterechts zugrunde liege; nach den Grundsätzen des wirtschaftlichen Eigentums sei daher der Grundbesitz der Klägerin als land- und forstwirtschaftliches Vermögen mit ... DM zuzurechnen.
Die Kläger erhoben sowohl gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide 1970 bis 1975 als auch gegen den geänderten Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1972 Klagen, die das Finanzgericht (FG) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verband. Das FG gab den Klagen mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 1988, 307 veröffentlichten Urteil in bezug auf die Einkommensteuer in vollem Umfang und in bezug auf die im vorliegenden Verfahren streitige Vermögensteuer teilweise statt.
Zur Vermögensteuer führte das FG aus, der angefochtene Bescheid vom 27. Dezember 1982 sei insoweit rechtswidrig, als das FA der Klägerin die durch den Vertrag vom Januar 1969 übertragenen Grundstücksflächen als land- und forstwirtschaftliches Vermögen -- "ohne Rücksicht auf die Frage, ob nicht vorher eine Zurechnungsfortschreibung hätte getroffen werden müssen" -- zugerechnet habe. Die Vermögensteuer auf den 1. Januar 1972 sei daher wegen der Verminderung des Gesamtvermögens um den für das land- und forstwirtschaftliche Vermögen angesetzten Betrag in Höhe von ... DM auf ... DM zu ermäßigen.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der IX. Senat, bei dem die Revision zunächst allein anhängig war, hat die Vorentscheidung bezüglich der Einkommensteuer 1970 bis 1975 mit Urteil vom 24. November 1992 IX R 30/88 (BFHE 170, 71, BStBl II 1993, 296) aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen. Der IX. Senat hat außerdem das Verfahren wegen Vermögensteuer auf den 1. Januar 1972 abgetrennt und an den erkennenden Senat verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Zutreffend hat das FG entschieden, daß der angefochtene Vermögensteuerbescheid vom 27. Dezember 1982 insoweit rechtswidrig ist, als in ihm (zusätzliches) land- und forstwirtschaftliches Vermögen in Höhe von ... DM erfaßt wurde.
In dem durch den angefochtenen Bescheid vom 27. Dezember 1982 geänderten Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1972 wurde das land- und forstwirtschaftliche Vermögen -- wie von den Klägern erklärt -- mit ... DM angesetzt. Dabei wurde der land- und forstwirtschaftliche Betrieb der Klägerin in W entsprechend dem Einheitswertbescheid (Grundlagenbescheid) des zuständigen Lagefinanzamts mit einem Einheitswert von ... DM berücksichtigt. Davon abweichend wurde in dem angefochtenen Änderungsbescheid vom 27. Dezember 1982 der land- und forstwirtschaftliche Betrieb in W als land- und forstwirtschaftliches Vermögen mit einem "Einheitswert" von ... DM (= bisheriger Einheitswert in Höhe von ... DM zuzüglich eines Betrags von ... DM) erfaßt. Diese zusätzliche Erfassung des Erhöhungsbetrags von ... DM war rechtswidrig, da ein entsprechend geänderter Grundlagenbescheid (Einheitswertbescheid für den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb in W) durch das zuständige Lagefinanzamt nicht erlassen worden war.
a) Zwar kann nach § 155 Abs. 2 AO 1977 i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 (BGBl I 1980, 1545, BStBl I 1980, 589) ein Steuerbescheid (hier: Vermögensteuerbescheid) auch bereits dann erteilt werden, wenn ein Grundlagenbescheid (hier: Einheitswertbescheid) noch nicht erlassen wurde. Jedoch setzt die Anwendung des § 155 Abs. 2 AO 1977 nach herrschender Auffassung voraus, daß ein Grundlagenbescheid noch nicht ergangen ist, also überhaupt noch kein Grundlagenbescheid vorliegt (s. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 155 Anm. 4 m. w. N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 155 AO 1977 Tz. 9 m. w. N.; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 155 Rdnr. 38; Kohlhaas, Finanz-Rundschau -- FR -- 1984, 305). Ist dagegen bereits ein Grundlagenbescheid erlassen worden und steht -- etwa aufgrund der Feststellungen einer späteren Außenprüfung -- eine Änderung dieses Grundlagenbescheids zu erwarten, so bietet § 155 Abs. 2 AO 1977 keine Rechtsgrundlage dafür, im Vorgriff auf eine zu erwartende Änderung des Grundlagenbescheids den Steuerbescheid zu ändern. Dies folgt aus der Erwägung, daß der ursprüngliche (wenn auch unrichtige) Grundlagenbescheid für die darauf basierenden Folgebescheide solange bindend ist, als er Wirkungen zeitigt, also (noch) nicht durch einen entsprechenden Grundlagenbescheid ersetzt wurde (Kohlhaas, FR 1984, 305; Schwarz/Frotscher, a. a. O., § 155 Nr. 38). Daß § 155 Abs. 2 AO 1977 nur den Fall betrifft, in dem überhaupt noch kein Grundlagenbescheid vorliegt, belegen außerdem die Entstehungsgeschichte und der Zusammenhang mit dem gleichzeitig in das Gesetz eingefügten § 162 Abs. 3 AO 1977. Mit der Einfügung dieser beiden Vorschriften sollte den für den Erlaß der Folgebescheide zuständigen Finanzbehörden die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (vgl. Urteil vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579) zweifelhaft gewordene Möglichkeit erhalten bleiben, die in einem Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen -- wie es der Praxis entsprach -- schätzen zu können und die geschätzte Besteuerungsgrundlage auch schon vor Erlaß des Grundlagenbescheids in den Folgebescheid zu übernehmen. Dadurch sollte für die Fälle, in denen "ein an sich erforderlicher Grundlagenbescheid (z. B. über Verlustanteile, Einheitswerte etc.) noch nicht vorlag", erheblichen Verzögerungen bei der Steuerfestsetzung bzw. im Erstattungsverfahren begegnet werden (vgl. Gesetzesbegründung BTDrucks 8/3648). Diese Erwägungen treffen indessen auf diejenigen Sachverhalte, in denen bereits Grundlagenbescheide vorliegen, auch wenn deren Änderung zu erwarten ist, nicht zu.
b) Im Streitfall hat das zuständige Lagefinanzamt den Einheitswert für den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb in W durch Wertfortschreibungsbescheid auf den 1. Januar 1969 im Hinblick auf die vom FA angenommene Veräußerung des größten Teils der Flächen an das Kiesunternehmen herabgesetzt. Dieser Wertfortschreibungsbescheid (Grundlagenbescheid) war, da er bis zum Erlaß des angefochtenen Vermögensteueränderungsbescheids vom 27. Dezember 1982 weder durch einen Einheitswertänderungsbescheid auf den 1. Januar 1969 ersetzt, noch durch einen anderen Einheitswertbescheid (z. B. Wertfortschreibungsbescheid) auf einen der dem 1. Januar 1969 folgenden Stichtage bis zum 1. Januar 1972 mit Wirkung für die Zukunft abgelöst worden ist, in bezug auf die in ihm festgestellten Besteuerungsgrundlagen für den an gefochtenen Vermögensteueränderungsbescheid bindend.
Fundstellen
Haufe-Index 421159 |
BFH/NV 1996, 450 |