Entscheidungsstichwort (Thema)
Anlieferungs-Referenzmenge Milch
Leitsatz (NV)
1. Für die Rücknahme einer rechtswidrigen Berechnung der Anlieferungs-Referenzmenge Milch (ARM) nach § 10 Abs. 1 MOG i. V. m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG ist das HZA zuständig.
2. Die Bescheinigung der zuständigen Landesstelle, mit der der Übergang einer Referenzmenge nach § 7 MGV bescheinigt wird, hat nur insoweit Bindungswirkung, als sie den Übertragungsvorgang bescheinigt, nicht jedoch hinsichtlich des Bestehens einer ARM für den übergehenden Betrieb (im Anschluß an BFH, Urteil vom 31. August 1993 VII R 142/92, BFH/NV 1994, 512).
3. Die Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG beginnt erst zu laufen, wenn der zuständige Amtswalter des HZA, nicht des Käufers, Kenntnis von den die Rechtswidrigkeit der ARM-Berechnung begründenden Tatsachen erhalten hat.
4. Die Entscheidung über die Rücknahme einer rechtswidrigen Berechnung der ARM durch das HZA ist keine Ermessens-, sondern eine gebundene, gerichtlich voll zu überprüfende Entscheidung (BFHE 164, 141, 146).
5. Sofern die Rücknahme der rechtswidrigen ARM-Berechnung Auswirkungen für die Vergangenheit hat, ist davon auszugehen, daß grundsätzlich der Schutz des Vertrauens des Begünstigten in den Bestand des Bescheides für die Vergangenheit Vorrang vor dem Schutz der öffentlichen Interessen hat.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1-2, §§ 93, 102; MOG §§ 8, 10 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 5; VwVfG § 48 Abs. 2, 4; MGV §§ 2, 4, 9 Abs. 2 Nr. 3, §§ 10-11
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Milcherzeuger. Er lieferte Milch an die Käuferin M. Diese berechnete ihm für den Zwölfmonatszeitraum ... eine Anlieferungs- Referenzmenge Milch (ARM) von ... kg.
Die Landwirtschaftskammer (LWK) bescheinigte dem Kläger im Dezember 1987, daß auf ihn mit Wirkung vom 1. Dezember 1987 infolge von Pacht eine Referenzmenge des Landwirts L übergegangen sei. Die übergegangene Referenzmenge berechnete die LWK unter Berücksichtigung des nach § 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MGV vorzunehmenden Abzugs mit ... kg. Aufgrund dieser Übertragungsbescheinigung berechnete M für den Kläger zum 1. Dezember 1987 eine erhöhte ARM.
M teilte dem beklagten und revisionsbeklagten Hauptzollamt (HZA) die Summe aller von ihr berechneten ARM sowie die Neuberechnung für den Kläger mit.
Bei M fanden im Auftrag des HZA Außenprüfungen der zuständigen Betriebsprüfungsstelle Zoll statt, in deren Verlauf sich der Verdacht ergab, daß die Berechnung der ARM der die M beliefernden Erzeuger manipuliert sein könnte. Im ... erhielt das HZA eine Liste mit den Milchanlieferungen aller Mitglieder der M für das Jahr ... Die daraufhin durchgeführte Überprüfung der von M berechneten ARM ergab, daß eine Anzahl von ARM durch Verantwortliche der M gezielt falsch berechnet worden waren. Hinsichtlich des Klägers wurde festgestellt, daß dieser im Jahre ... nur ... kg Milch an M geliefert hatte und daß dem L überhaupt keine ARM zugestanden hat, weil er schon Anfang ... tödlich verunglückt war und der Kläger den überwiegenden Teil der Betriebsflächen des L schon ... von der Witwe des L gepachtet hatte. Allerdings hatte die M der Witwe des L eine ARM berechnet. Hiervon hatte der Kläger nach eigenen Angaben erst ... erfahren und daraufhin von der LWK die Übertragungsbescheinigung erhalten. Das HZA widerrief die für L berechnete ARM gegenüber dessen Witwe; dieser Bescheid ist bestandskräftig.
Das HZA nahm die dem Kläger berechnete ARM zurück und setzte sie zum ... in Höhe von ... kg neu fest. Gleichzeitig nahm es auch die zum 1. Dezember 1987 erfolgte erhöhte Festsetzung der ARM zurück und setzte die ARM -- auch unter Berücksichtigung hier nicht streitiger Stillegung und Aussetzung von Teilen der Referenzmenge -- auf eine geringere Menge neu fest, weil es die Referenzmenge des abgebenden Erzeugers zwischenzeitlich auf 0 kg festgesetzt hatte und deshalb von diesem keine ARM auf den Kläger übergehen konnte.
Die dagegen gerichtete Klage blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hielt die Klage zwar für zulässig mit der Begründung, das Einspruchsverfahren sei gegenüber dem Beschwerdeverfahren das richtige Vorverfahren gewesen. Die Klage sei aber unbegründet, weil der -- richtigerweise -- auf § 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen (MOG) i. V. m. § 48 Abs. 2 und 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) gestützte Rücknahmebescheid des HZA rechtmäßig gewesen sei. Die Feststellung der ARM sei ein den Kläger begünstigender Verwaltungsakt des HZA. Dieser sei rechtswidrig gewesen, soweit dem Kläger von M zum 1. Dezember 1987 aufgrund der Übertragungsbescheinigung der LWK eine höhere ARM berechnet worden sei (vgl. dazu Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1992, 750).
Die Rücknahme der rechtswidrigen Berechnung der ARM liege nach § 10 Abs. 1 MOG, § 48 VwVfG im Ermessen des HZA. Dieses habe bei seiner Entscheidung sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten. Die vom HZA vorgenommene Abwägung der Interessen, die zu einem völligen Überwiegen der öffentlichen Interessen gekommen sei, lasse keinen Rechtsfehler erkennen.
Bei seiner Ermessensausübung habe das HZA den begünstigenden Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen dürfen. Denn ohne eine derartige Rücknahme sei eine im Interesse der gleichmäßigen Abgabenerhebung zwingend notwendige Nacherhebung der Milch- Garantiemengen-Abgabe aufgrund nunmehr niedrigerer ARM ausgeschlossen.
Die ARM sei ferner innerhalb der durch § 48 Abs. 4 VwVfG gesetzten Frist zurückgenommen worden. Für die Berechnung dieser Frist komme es nur auf die Kenntnis der Rechtswidrigkeit der ARM-Berechnung durch das HZA an. Etwaige Kenntnisse anderer Stellen (Betriebsprüfungsstelle Zoll oder Zollfahndung) seien unbeachtlich. Auch komme es nicht auf die Kenntnis der Mitarbeiter der M an, weil M nicht die Eigenschaft eines beliehenen Unternehmers habe.
Mit seiner Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend, materiell-rechtlich seien die Vorschriften der §§ 9 Abs. 2, 10 MGV sowie des § 10 MOG i. V. m. § 48 Abs. 2 bis 5 VwVfG verletzt worden. Das FG habe zu Unrecht die Beliehenen- und Behördeneigenschaft der M nicht anerkannt, habe die Bindungswirkung der Übertragungsbescheinigung der LWK verkannt und habe den Vertrauensschutz gemäß § 48 Abs. 2 VwVfG nicht als Ergebnis einer gesetzlichen Abwägung, sondern als eine in das Ermessen der Behörde gestellte Billigkeitsabwägung angesehen. M sei als beliehene Unternehmerin Behörde; es komme daher auf die Kenntnis ihrer Mitarbeiter für die Wahrung der durch § 48 Abs. 4 VwVfG gesetzten Frist an.
Bei der vom Gericht voll zu überprüfenden Frage, ob Vertrauensschutz zu gewähren sei, müsse der Vortrag des Klägers im Klageverfahren berücksichtigt werden, wonach er auf den Bestand der ARM vertraut und die gewährten Leistungen verbraucht habe. ...
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Die Vorinstanz ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, daß nach § 10 Abs. 1 MOG i. V. m. § 48 Abs. 2 VwVfG die Rücknahme der rechtswidrigen ARM-Berechnung im Ermessen der zuständigen Behörde liege und deshalb die Entscheidung der Behörde nur im Rahmen des § 102 FGO zu überprüfen sei. Das FG hätte die Entscheidung des HZA in vollem Umfang überprüfen und die dafür erforderlichen Feststellungen treffen müssen.
1. Der Senat teilt die Auffassung des FG, daß im Streitfall das Einspruchsverfahren das zutreffende Vorverfahren gegen den Rücknahmebescheid des HZA war. Dies ergibt sich, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, aus § 34 Abs. 1 Satz 5 MOG und in sinngemäßer Anwendung der Vorschriften der §§ 347 bis 368 der Abgabenordnung (AO 1977).
2. Das FG ist auch zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß die ARM-Berechnung, die M zum ... vorgenommen hat, nicht rechtswidrig war. Der Rücknahmebescheid wirkt sich insoweit auch nicht zuungunsten des Klägers aus. Denn das HZA hat die ARM zum ... in derselben Höhe wie vor ihm schon M festgesetzt. Gegen diesen Teil des Rücknahmebescheids ist die Klage auch bei sinnvoller Auslegung des Klagebegehrens nicht gerichtet. Sie betrifft vielmehr -- wie übrigens auch die Revision -- nur die Rücknahme der Erhöhung der ARM zum 1. Dezember 1987.
3. Rechtsfehlerfrei geht die Vorentscheidung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats davon aus, daß die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides nach § 10 Abs. 1 MOG i. V. m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG zu beurteilen ist (Senatsurteil vom 30. Oktober 1990 VII R 101/89, BFHE 162, 156).
a) Bei der Berechnung der ARM handelt es sich um einen Bescheid im Rahmen einer Mengenregelung i.S. von § 8 MOG, der im Falle seiner Rechtswidrigkeit nach § 10 Abs. 1 MOG zurückzunehmen ist (Senatsurteil vom 13. März 1990 VII R 47/88, BFHE 164, 141). Das HZA war für die Rücknahme der fehlerhaften ARM zuständig.
Der Senat hat mehrfach entschieden, daß es sich bei der Festsetzung der ARM um einen Verwaltungsakt des HZA handelt (zuletzt in BFHE 162, 156 m.w.N.). Im Streitfall braucht er auf die von der Vorinstanz erörterte und abgelehnte Gegenmeinung, die ARM werde nicht durch das HZA, sondern durch den Käufer (Molkerei) als beliehenen Unternehmer festgesetzt, nicht einzugehen. Denn es kommt hier auf die Entscheidung dieser Streitfrage letztlich nicht an. Das HZA ist -- gleichgültig, wem die Festsetzung zuzurechnen ist -- jedenfalls für die Rücknahme der Festsetzung zuständig. Selbst wenn die Festsetzung der ARM dem Käufer zuzurechnen wäre, könnte das HZA sie aufgrund seiner allgemeinen Zuständigkeit zur Durchführung der Verordnung nach § 2 MGV zurücknehmen.
Nach § 2 MGV sind grundsätzlich die zuständigen Stellen der Bundesfinanzverwaltung mit der Durchführung der Verordnung betraut. Von dieser allgemeinen Zuständigkeitsregelung besteht nur insoweit eine Ausnahme, als dies in der MGV ausdrücklich geregelt ist. Danach sind dem Käufer nur die in §§ 4, 10 und 11 MGV genannten Aufgaben übertragen worden, die u. a. in der Berechnung der ARM bestehen. Diese Berechnung ist zwar vom Käufer selbständig vorzunehmen, steht aber -- wie sich aus § 10 Abs. 3 MGV ergibt -- unter dem Vorbehalt einer Überprüfung durch das HZA.
Nur die Entscheidung des HZA kann mit einem Rechtsbehelf angefochten werden. Dies gilt nicht nur für die erstmalige Berechnung der ARM, sondern auch für die Neuberechnung der ARM, die der Käufer nach § 10 Abs. 1 MGV auf Antrag des Erzeugers oder aus einem sonstigen Grunde vornimmt. Daraus folgt, daß auch hinsichtlich der Neuberechnung der ARM, die zur Herabsetzung der ursprünglich berechneten ARM führt, erst das HZA nach § 10 Abs. 3 MGV eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung erläßt.
Das HZA allein ist daher letztlich auch für die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 MOG zuständig. § 10 Abs. 1 MGV in der nunmehr geltenden Fassung schreibt für die Neuberechnung der ARM aus sonstigem Grunde kein zweistufiges Verfahren in dem Sinne vor, daß die Neuberechnung zunächst vom Käufer vorzunehmen wäre. Vielmehr geht diese Regelung nur davon aus, daß auch der Käufer von sich aus -- ohne Antrag des Erzeugers -- eine Neuberechnung der ARM vornehmen kann. Ein selbständiges Tätigwerden des HZA, das sich zur Erfüllung seiner Aufgaben nur des Käufers -- gleichsam als seines Beauftragten -- bedient (Senatsurteil vom 22. April 1986 VII R 184/85, BFHE 146, 302, 305), ohne daß diesem dadurch die Bedeutung einer instanziellen Zuständigkeit eingeräumt wäre, wird dadurch nicht ausgeschlossen (vgl. Senatsurteile vom 13. Juli 1993 VII R 92/92, BFH/NV 1994, 137, und vom 31. August 1993 VII R 142/92, BFH/NV 1994, 512). Diese Regelung des Verhältnisses zwischen HZA und Käufer ist gerade im Hinblick auf die bei einer Rücknahme des Bescheides nach § 48 Abs. 2 VwVfG erforderliche Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Begünstigten geboten. Der Käufer wäre überfordert, müßte er eine solche Beurteilung vornehmen.
Zutreffend hat die Vorinstanz ausgeführt, daß dieser Sicht der Aufgabenverteilung zwischen HZA und Käufer nicht Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 (VO Nr. 857/94) des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften -- ABlEG -- Nr. L 90/13) entgegensteht, wonach die Abgabe bei jedem Erzeuger vom Käufer erhoben wird. Diese Regelung betrifft nur den Zahlungsvorgang, nicht aber enthält sie eine Zuständigkeitsverteilung zwischen HZA und Käufer. Eine solche könnte sie auch nicht enthalten. Denn angesichts des den Mitgliedstaaten verbliebenen Organisationsrechts bleibt es diesen überlassen, die für die Durchführung der Marktordnung zuständigen Stellen und den Umfang ihrer Zuständigkeit zu bestimmen (vgl. Gilsdorf/Sack in Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 43 Rz. 41). Dies ist für den Bereich der Milch-Garantiemengen- Regelung durch das MOG und die MGV geschehen.
b) Nicht zu beanstanden sind auch die Ausführungen des FG zur Rechtswidrigkeit der von M zugunsten des Klägers mit Wirkung vom 1. Dezember 1987 vorgenommenen Erhöhung der ARM. Die dagegen gerichteten Einwände des Klägers, das FG habe zu Unrecht die Bindungswirkung der ihm -- dem Kläger -- von der LWK erteilten Übertragungsbescheinigung verneint, greifen nicht durch. Denn die Bindungswirkung der Übertragungsbescheinigung kann nur soweit gehen, wie auch ihr Regelungsgehalt reicht. Soweit sie von einer ARM ausgeht, die von einer anderen Stelle berechnet worden ist, bezieht sich der Regelungsgehalt der Übertragungsbescheinigung hierauf nicht. Sie bescheinigt -- wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 31. August 1993 VII R 142/92, BFH/NV 1994, 512 entschieden hat -- vielmehr nur den Übertragungsvorgang und die sich daraus für die Höhe der Referenzmenge möglicherweise ergebenden Folgen, setzt aber voraus, daß für den übergehenden Betrieb eine ARM berechnet worden ist.
Das folgt schon aus der in § 2 MGV enthaltenen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesfinanzverwaltung und Landesstellen. Danach ist die Bundesfinanzverwaltung aufgrund ihrer allgemeinen Zuständigkeit zur Durchführung der MGV grundsätzlich für die Berechnung der ARM zuständig. Eine Zuständigkeitsregelung für Landesbehörden ist in dieser Verordnung nicht enthalten. Insoweit nimmt § 2 MGV nur auf die nach Landesrecht gegebene Zuständigkeit der Landesstellen für Entscheidungen über bestimmte Sachverhalte Bezug, hinsichtlich derer die in der MGV vorgesehenen Bescheinigungen ausgestellt werden. Ein solcher Sachverhalt ist bei der Bescheinigung nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGV der Übertragungsvorgang und sich etwa daraus ergebende Folgen für die Höhe der ARM, nicht aber die Berechnung einer ARM für den übergehenden Betrieb. Diese Berechnung obliegt nach §§ 2, 4 Abs. 1 i. V. m. § 10 MGV der Bundesfinanzverwaltung, die sich dabei auch des Käufers bedient (Senatsurteil in BFHE 146, 302, 305). Ist somit in bezug auf den übertragenen Betrieb keine ARM festgesetzt oder ist eine solche vom HZA bestandskräftig zurückgenommen worden, kann und soll sie nicht durch die Übertragungsbescheinigung geschaffen und auf den übernehmenden Milcherzeuger übertragen werden; die Übertragungsbescheinigung geht in diesem Fall ins Leere, weil die Voraussetzung, unter der sie erteilt worden ist, tatsächlich nicht besteht.
Die vom Kläger in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, das FG habe seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung und zu sachgerechten Hinweisen (§§ 76 Abs. 1 und 2, 93 FGO) verletzt, weil es unterstellt habe, daß eine erneute Pacht, die allein einen Übergang einer Referenzmenge bewirken und nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGVO bescheinigt werden könnte, nicht vorlag, ist nicht stichhaltig. Auf die Frage, ob ein solcher Pachtvertrag bestand, kommt es in diesem Verfahren nicht an, weil schon eine Referenzmenge, die infolge eines solchen Pachtvertrages nach § 7 MGV hätte übertragen werden können, wegen ihrer bestandskräftigen Rücknahme durch das HZA nicht bestand.
c) Das FG hat auch rechtsfehlerfrei erkannt, daß die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM nicht wegen Versäumung der in § 48 Abs. 4 VwVfG vorgeschriebenen Frist für die Rücknahme des Bescheides rechtswidrig ist. Denn der Rücknahmebescheid ist innerhalb der vorgeschriebenen Jahresfrist ab Kenntnisnahme von den seine Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen ergangen.
Für die Kenntnisnahme kommt es auf die Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme im Einzelfall zuständigen Amtswalters an (vgl. Bundesverwaltungsgericht -- BVerwG --, Beschluß des Großen Senats vom 19. Dezember 1984 GrS 1 und 2.84, BVerwGE 70, 356, 364; BVerwG-Urteil vom 17. Februar 1993 11 C 47.92, Deutsches Verwaltungsblatt -- DVBl -- 1993, 727; Bundesfinanzhof -- BFH --, Urteil vom 28. April 1987 IX R 9/83, BFH/NV 1988, 151, 154; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 48 Rz. 99a m.w.N.). Dies ist im Streitfall nicht -- wie der Kläger meint -- M (bzw. deren Bearbeiter), sondern der beim HZA für die Rücknahme des Bescheides über die Berechnung der ARM zuständige Amtswalter, weil das HZA -- wie oben ausgeführt -- für die Rücknahme des Bescheids über die ARM nach § 10 Abs. 1 MOG zuständig war.
d) In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (Urteile in BFHE 162, 156 und vom 13. Juli 1993 VII R 92/92, NV) ist die Vorinstanz auch zutreffend davon ausgegangen, daß sich der Vertrauensschutz bei einer in Betracht kommenden Rücknahme des Bescheides über die Höhe der ARM nach § 48 Abs. 2 VwVfG richtet. Die Verfahrensbeteiligten haben dies im übrigen nicht in Frage gestellt.
4. Die Entscheidung darüber, ob die dem Kläger günstige Berechnung der ARM zurückzunehmen und zuungunsten des Klägers zu ändern ist, liegt jedoch nicht -- wie das FG angenommen hat -- im Ermessen des HZA. Denn § 10 Abs. 1 MOG, der in Fällen des Marktordnungsrechts anstelle von § 48 Abs. 1 VwVfG anzuwenden ist, läßt für eine Ermessensbetätigung keinen Raum. Vielmehr macht er der Behörde die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides im Rahmen des § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG zur Pflicht (BFHE 164, 141, 146). Demnach ist der Bescheid über die Berechnung der ARM zurückzunehmen, wenn der Rücknahme nicht ein nach § 48 Abs. 2 VwVfG gerechtfertigter Vertrauensschutz entgegensteht.
Ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG vorliegen, hängt ebenfalls nicht von einer Ermessensentscheidung der Behörde ab, sondern ist eine Rechtsfrage, deren Beurteilung durch die Behörde gerichtlich voll zu überprüfen ist (BFHE 164, 141, 146; vgl. auch BVerwG-Urteile vom 14. August 1986 3 C 9.85 in 451.90 Buchholz Nr. 66 EWG-Recht, und vom 6. Juni 1991 3 C 46.86, BVerwGE 88, 278, 283; Stelkens/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 48 Rz. 95). Da das FG diese Überprüfung nicht vorgenommen und insoweit (auch unter Berücksichtigung des Klagevorbringens) nicht alle erforderlichen Feststellungen hinsichtlich der für die Gewährung des Vertrauensschutzes in Betracht kommenden Tatsachen getroffen hat (§ 76 Abs. 1 FGO), kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben.
5. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
a) Für die hier in Rede stehende rückwirkende Rücknahme eines begünstigenden Bescheides ist, wenn -- was das FG festzustellen haben wird -- kein Fall des § 48 Abs. 2 Satz 3 (insbesondere Nr. 3) VwVfG vorliegt, davon auszugehen, daß grundsätzlich der Schutz des Vertrauens des Begünstigten in den Bestand des Bescheides für die Vergangenheit Vorrang vor dem Schutz der öffentlichen Interessen hat. Das ergibt sich im Gegenschluß aus § 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG. Denn dort ist ausdrücklich die regelmäßige Rücknahme eines Bescheides ex tunc nur für die Fälle des § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG vorgesehen. In allen übrigen Fällen dagegen kommt somit regelmäßig nur eine Rücknahme des Bescheides ex nunc in Betracht (vgl. BFHE 164, 141, 147 m. w. N.); die rückwirkende Rücknahme eines begünstigenden Bescheides ist nur ausnahmsweise gerechtfertigt. Mit dieser Maßgabe ist § 48 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwVfG auch auf den Streitfall anzuwenden.
Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften -- EuGH -- vom 26. April 1988 Rs. 316/86 (EuGHE 1988, 2213, 2239 f.; vgl. auch EuGH- Urteil vom 6. Mai 1982 Rsn. 146, 192 und 193/81, EuGHE 1982, 1503) steht dem nicht grundsätzlich entgegen. Denn der EuGH hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den hier einschlägigen § 48 Abs. 2 VwVfG auch entschieden, daß das Gemeinschaftsrecht bei Rückforderung von zu Unrecht gewährten Leistungen nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die auf einen Vertrauensschutz oder den Grundsatz des Wegfalls der ungerechtfertigten Bereicherung abstellen, soweit das Interesse der Gemeinschaft voll berücksichtigt wird (Urteil vom 21. September 1983 Rs. 205 bis 215/82, EuGHE 1983, 2633, 2666). Aus der Forderung, daß das Gemeinschaftsinteresse voll zu berücksichtigen ist, kann nicht gefolgert werden, daß das Gemeinschaftsinteresse immer Vorrang vor dem des Betroffenen haben müßte. Vielmehr ist unter den genannten Gesichtspunkten eine Abwägung zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen des Begünstigten -- mit dem Ergebnis, daß im Einzelfall das berechtigte Vertrauen des Begünstigten zu schützen ist -- durchaus möglich, weil andernfalls die Gewährung des vom EuGH anerkannten Vertrauensschutzes praktisch ausgeschlossen wäre. Die Zulässigkeit einer solchen Interessenabwägung hat der EuGH auch für Fälle anerkannt, in denen sich der Begünstigte ausnahmsweise auf Umstände berufen kann, aufgrund derer sein Vertrauen in die Richtigkeit der ARM-Berechnung zu schützen ist. Das nationale Gericht hat diese Umstände im Einzelfall zu würdigen (vgl. EuGH-Urteil vom 20. September 1990 Rs. C-5/89, EuGHE 1990, I-3453, 3457).
Diese Abwägung hat auch der Senat in seiner zuvor genannten Entscheidung (BFHE 164, 141, 145) vorgenommen. Dabei hat er dem Gemeinschaftsinteresse deshalb grundsätzlich den Vorrang vor dem des Begünstigten eingeräumt, weil es in jener Entscheidung um die Herabsetzung der ARM mit Wirkung im wesentlichen für die Zukunft ging. Soweit die Herabsetzung der berechneten ARM im Streitfall Auswirkungen für die Zukunft hat, sind diese Erwägungen des Senats auch hier zu berücksichtigen.
Soweit jedoch die ARM auch für die Vergangenheit (mit Wirkung vom 1. Dezember 1987) herabgesetzt worden ist, ist nach der in § 48 Abs. 2 VwVfG getroffenen Regelung -- wie bereits ausgeführt -- nicht grundsätzlich davon auszugehen, daß das Gemeinschaftsinteresse an der Wiederherstellung des gesetzlichen Zustands dem des Klägers vorgeht. Nach seinem Vorbringen im Revisionsverfahren scheint das HZA dem Kläger die diesem unrechtmäßig entstandenen Vorteile (gemeint ist wohl die Nichtzahlung der Milch-Garantiemengen-Abgabe) für die Vergangenheit belassen zu haben. Wäre dies der Fall, könnte das bedeuten, daß der Kläger für die Vergangenheit durch die Herabsetzung seiner ARM finanziell tatsächlich nicht belastet wird, und das Vertrauen in den formalen Bestand der ARM-Berechnung für die Vergangenheit nicht schutzwürdig i. S. des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ist.
Fundstellen
Haufe-Index 419446 |
BFH/NV 1995, 173 |