Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält im Ergebnis an der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Auslegung des § 131 AO und den sich daraus ergebenden Folgerungen für die steuergerichtliche Nachprüfung fest.
Normenkette
AO § 131
Gründe
Die Vorinstanz ist bei ihrer Entscheidung davon ausgegangen, daß es sich sowohl bei den einen Billigkeitserlaß ablehnenden Verfügungen des Hauptzollamts als auch bei der diese Verfügungen bestätigenden Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion um Ermessensentscheidungen von Finanzverwaltungsbehörden handelt, bei denen die den Steuergerichten zustehende Prüfung der Rechtmäßigkeit sich hinsichtlich der Ermessensausübung nur darauf erstrecken kann, ob die durch das Gesetz der Ermessensausübung gesetzten Grenzen eingehalten wurden, bei der die Steuergerichte solchenfalls aber nicht befugt sind, ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens zu setzen, weil sie etwa auf Grund einer anderen Beurteilung des an sich mehrere Entscheidungen als vertretbar zulassenden Tatbestands eine andere Entscheidung für angebrachter halten. Diese Auffassung entspricht der vom Bundesfinanzhof, insbesondere auch vom erkennenden Senat seither bei der überprüfung von Entscheidungen nach § 131 AO geübten ständigen Rechtsprechung (vgl. z. B. V z 181/57 U vom 27. März 1958, BStBl 1958 III S. 248, Slg. Bd. 66 S. 647, und die dort zitierte Rechtsprechung; VII 185/57 U vom 28. Oktober 1958, BStBl 1959 III S. 11, Slg. Bd. 58 S. 27; VII 69/59 U vom 3. Februar 1960, BStBl 1960 III S. 184, Slg. Bd. 70 S. 492; IV 204/58 vom 31. März 1960, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Rechtsspruch 41 zu § 131 AO neu; IV 51/59 vom 13. Oktober 1960, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961 Nr. 83; ferner VI 130/59 vom 24. Juni 1960, StRK, Rechtspruch 35 a. a. O., sowie VII 105/60 vom 25. Januar 1961 und VII 126/60 vom 1. Februar 1961, HFR 1961 Nrn. 84 und 97, und schließlich noch IV 126/60 U vom 2. März 1961, BStBl 1961 III S. 288, Slg. Bd. 73 S. 53, sowie V 314/58 vom 27. April 1961, StRK, Rechtsspruch 53 zu § 131 AO neu).
An dieser Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die letzten Endes auf das Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277) zurückgeht, wurden seit einiger Zeit im Schrifttum rechtliche Zweifel geäußert (vgl. Galleiske: "Zum Problem der Billigkeit im Steuerrecht", Steuer und Wirtschaft - StuW - 1957 Sp. 635 ff.; Fließbach: StuW 1958 Sp. 762; Meßmer: "Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen bei Stundungs- und Billigkeitsmaßnahmen gemäß § 131 AO", StuW 1960 Sp. 171 ff.; Kruse: "über Billigkeit und Richtlinien", StuW 1960 Sp. 477 ff.; Oswald: "Rechtsfragen zum Billigkeitserlaß nach § 131 AO", Steuerberater 1961 S. 175 ff., und "Zur Rechtsnatur des Billigkeitserlasses nach § 131 AO", StuW 1962 Sp. 49 ff.; Elsen: "StRK Anm. zu § 131 AO Rechtspruch 45). Auch ist der II. Senat des Bundesfinanzhofs in seinen Urteilen II 214/57 vom 13. Juli 1960 (HFR 1961 Nr. 37) und II 34/59 vom 25. Januar 1961 (HFR 1961 Nr. 136) im Ergebnis der in dem genannten Schrifttum vertretenen Ansicht dahin gefolgt, daß das Vorliegen einer Unbilligkeit im Sinne von § 131 AO eine von den Steuergerichten in vollem Umfang nachprüfbare Voraussetzung für einen Billigkeitserlaß sei.
Der erkennende Senat hat daher das gesamte Rechtsproblem anläßlich des vorliegenden Streitfalls einer eingehenden Prüfung unterzogen.
Der - bis jetzt vielleicht nicht deutlich genug zum Ausdruck gebrachte - tragende Grundgedanke der bisherigen Rechtsprechung zu dieser Frage war, daß die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs "unbillig" im Rahmen der Anwendung von § 131 AO nicht von dem Inhalt der von der Verwaltung zu treffenden Ermessensentscheidung getrennt werden kann. Das bedeutet, daß der Verwaltung vom Gesetzgeber in § 131 AO eine Ermächtigung zu sogenannter "kognitiver Ermessensausübung" erteilt, d. h. die Befugnis gegeben ist, in Einzelfällen auf die Geltendmachung steuerrechtlicher Ansprüche zu verzichten, wenn sie dies im Rahmen des dem unbestimmten Rechtsbegriff "unbillig" als wertendem Begriff zwangsläufig zugeordneten Beurteilungsspielraums für vertretbar hält. Die Grenzen dieses Beurteilungsspielraums liegen dort, wo die getroffene Entscheidung nach dem Urteil gerecht denkender Menschen aus sachgerechten Erwägungen nicht mehr zu rechtfertigen ist. Die Entscheidung muß also, um rechtmäßig zu sein, innerhalb der Grenzen des "billigen Ermessens" liegen und damit noch vertretbar erscheinen (vgl. hierzu für das bürgerliche Recht Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. 1 § 50 II 2 Abs. 3 S. 309). Die gleiche Ansicht vertritt Berger, "Die Reichsabgabenordnung nach den Schwerpunkten für die Praxis der Besitz- und Verkehrsteuern", 3. Aufl., Anm. 1 b zu § 131 AO: "Nach dem gegebenen besonderen Tatbestand muß es so sein, daß die Verwirklichung des nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruchs unbillig wäre. Der Gesetzgeber stellt die Entscheidung darüber, ob und inwieweit dies der Fall ist, in das Ermessen der Verwaltung, die ihr Ermessen pflichtgemäß und im Rahmen von Recht und Billigkeit auszuüben hat"; ebenso Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 6. Aufl., 1961, Anm. 2 Abs. 5 zu § 131 AO; "Die Entscheidung, ob und inwieweit eine unbillige Härte vorliegt, ist keine Rechtsfrage, sondern ist dem pflichtgemäßen Ermessen der Verwaltungsbehörden überlassen (ß 2 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -),"
Daß Ermächtigungen an die Verwaltung zu solcher "wertverwirklichenden Gestaltung" (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd. Allgemeiner Teil, 7. Aufl., S. 73 ff.) im öffentlichen Recht zulässig, ja in gewissen Fällen sogar unumgänglich sind und daß die rechtliche Anerkennung der sich daraus ergebenden Folgen durch die Gerichte im Interesse der Wahrung der verfassungsrechtlich festgelegten Gewaltenteilung nicht versagt werden kann, begegnet auch keinen Bedenken rechtsstaatlicher Art. Als Beispiel dafür, daß der Gesetzgeber selbst erst in neuester Zeit eine derartige "kognitive" Ermessensausübung durch die Verwaltung für zulässig erachtet hat, sei auf die §§ 42 Abs. 2, 47 Abs. 2 und 55 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG) vom 14. Juni 1961 (BGBl 1961 I S. 737, BZBl 1961 S. 565) hingewiesen.
Diese dem natürlichen Rechtsgedanken entsprechende lebensnahe Auslegung des § 131 AO und die auf ihr beruhende seitherige Handhabung der steuergerichtlichen überprüfung in Billigkeitserlaßsachen wurde, wie bereits erwähnt, im Schrifttum (a. a. O.) hinsichtlich ihrer rechtlichen Haltbarkeit angezweifelt. Ausgehend von der Fassung des § 131 AO sehen die Verfasser in der Unbilligkeit der Einziehung der Steuerforderung die vom Gesetzgeber geforderte Voraussetzung für die der Verwaltung gegebene Ermächtigung, bei deren - von den Gerichten in vollem Umfang nachprüfbarem - Vorliegen nunmehr erst die - wiederum innerhalb der Grenzen von Recht und Billigkeit zu treffende - Ermessensentscheidung der Verwaltung ergehen könne. Rechtstheoretisch erscheint diese Auffassung mit Rücksicht auf die Fassung des § 131 AO möglich. Doch ist sie nach Meinung des erkennenden Senats mit dem Sinn und Zweck des § 131 AO nicht vereinbar, in ihren Auswirkungen im Hinblick auf die Gewaltenteilung nicht unbedenklich und wird dem der Vorschrift des § 131 AO zweifellos innewohnenden Ermessensgehalt, wenn überhaupt, so nur in einem sehr beschränkten Umfange gerecht.
Meßmer z. B. glaubt, daß die erkennende Entscheidung über das Vorliegen der Unbilligkeit von der Ermessensentscheidung über die Gewährung des Erlasses getrennt werden könne und müsse. Das bedeutet theoretisch, daß die Verwaltung, obwohl eine unbillige Härte anerkannt werden muß, also die Voraussetzungen der Ermächtigung zum Erlaß gegeben sind, trotzdem unter Beachtung von Recht und Billigkeit einen Erlaß nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen unter Umständen müßte verweigern können; andernfalls gäbe es keinen Ermessensspielraum. Abgesehen davon, daß eine solche Entscheidung aber dem Staatsbürger kaum noch verständlich sein würde, glaubt der Senat, daß bei dieser Betrachtungsweise das Problem nicht folgerichtig zu Ende gedacht ist. Wenn nämlich die Verwaltung trotz "Vorliegens einer unbilligen Härte" im Einklang mit Recht und Billigkeit einen Erlaß ablehnen könnte, so kann dies nur darauf beruhen, daß sich die Einziehung der Steuer bei Berücksichtigung aller zu beachtenden Umstände in Wahrheit eben doch als nicht unbillig und damit als zumutbar erweist; denn sonst wäre die Entscheidung nicht vertretbar. Die Unbilligkeit der Einziehung einer Steuerforderung ist begrifflich nicht teilbar. Ebenso lassen sich die Umstände des einzelnen Falles, von denen die Unbilligkeit abhängt, nicht zerlegen in solche, die gewissermaßen die "Unbilligkeit an sich" begründen, und solche, die darüber hinaus noch die Grundlage einer - wiederum unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu treffenden - Ermessensentscheidung abgeben könnten. Auch das in diesem Zusammenhang oft gebrachte Beispiel, der Ermessensspielraum komme etwa in der Möglichkeit eines unterschiedlich hohen Teilerlasses zum Ausdruck, ist nicht überzeugend. Denn ob eine Steuerforderung ganz oder nur zu einem Teil und zu welchem Teil erlassen werden, was dem Steuerpflichtigen also umgekehrt als Steuerleistung zugemutet werden kann, ist nichts anderes als die Frage nach der Billigkeit oder Unbilligkeit der Einziehung der Steuerforderung selbst. Entsprechendes gilt hinsichtlich des wertenden Urteils über die Erlaßwürdigkeit des Abgabenschuldners.
Folgt man daher der Auffassung Meßmers und leugnet dementsprechend die Möglichkeit einer kognitiven Ermessensausübung durch die Verwaltung, so kommt man nach Ansicht des Senats zwangsläufig auch zu der Konsequenz, daß die Entscheidung über einen Billigkeitserlaß eine Rechtsentscheidung wird und aufhört, eine Ermessensentscheidung zu sein, mit der weiteren Folge, daß in allen Fällen der Ablehnung begehrter Billigkeitserlasse durch die Verwaltung bei Rechtsmitteleinlegung in Zukunft die Gerichte in Wahrheit über die Gewährung oder Nichtgewährung des Erlasses selbst entscheiden (so auch Oswald in seinem zweiten Aufsatz a. a. O.). Dieses Ergebnis entspricht aber nach Ansicht des Senats nicht dem Sinn und Zweck des § 131 AO und dem mit ihm verfolgten Willen des Gesetzgebers. Denn der Gesetzgeber wollte der Verwaltung eine Möglichkeit geben, in den von ihr für vertretbar gehaltenen Fällen im Wege kognitiver Ermessensausübung die Strenge des Gesetzes zu mildern (vgl. Drucksache Nr. 1460 Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung, Bericht des 11. Ausschusses über den Entwurf einer Reichsabgabenordnung - Nr. 759 der Drucksachen - zu § 108 letzter Satz: "Das Wort "kann" setzt auch hier ein pflichtgemäßes Abwägen des Falles voraus.").
Zu welchen Folgen die im oben genannten Schrifttum vertretene Ansicht, auch im § 131 AO handle es sich um die in neuerer Zeit stark in den Vordergrund gestellte Rechtsfigur einer "mit einem unbestimmten Rechtsbegriff gekoppelten Ermessensentscheidung", führt, ist im Vorstehenden bereits allgemein aufgezeigt. Besonders deutlich werden diese Folgen aber erkennbar, wenn man die Anwendung des § 131 AO auf dem Gebiet der Zölle betrachtet. Die Vertreter der von der seitherigen Rechtsprechung abweichenden Ansicht glauben, soweit sie einen - sehr beschränkten - Ermessensspielraum überhaupt noch für möglich halten, diesen in den Fällen eines möglichen Teilerlasses gegeben. Abgesehen davon, daß der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 131 AO (ß 108 AO alt) gewiß nicht nur diese Fälle im Auge hatte und daß - wie bereits ausgeführt - auch die Folgerichtigkeit des dieser Ansicht zugrunde liegenden Gedankengangs zu bezweifeln ist, würde damit für das Gebiet der Zölle - abgesehen von seltenen Ausnahmefällen - § 131 AO die Bedeutung eines in das pflichtgemäße Ermessen der Verwaltung gestellten Härteausgleichs verlieren.
Bei den Zöllen spielen die sogenannten sachlichen Billigkeitsgründe die ausschlaggebende Rolle (vgl. z. B. die für den Streitfall in Betracht kommenden Richtlinien für die Anwendung des § 131 AO auf dem Gebiet der Zölle und Verbrauchsteuern vom 7. Dezember 1953, BZBl 1953, S. 810). Bei den sachlichen Billigkeitstatbeständen kommt es für die Frage der Unbilligkeit keineswegs allein auf die Umstände des Einzelfalles im Verhältnis zwischen Zollgläubiger und Zollschuldner an, sondern es spielen für die Frage, bei welchen Tatbeständen ein Härteausgleich im Sinne einer Unbilligkeit zollrechtlicher Art anerkannt werden kann, auch Interessen der geschützten Wirtschaftszweige, Fragen der Abwägung zwischen Gesamtimport- und exportinteressen und Fragen der Handhabung der Gegenständigkeit von seiten dritter Staaten eine Rolle. Daß dem so ist, hängt zwangsläufig mit der wirtschaftlichen Funktion der Zölle und des Zollrechts zusammen, hat aber nichts damit zu tun, daß es nicht zulässig ist, mit Hilfe des § 131 AO Wirtschafts-, hier Zolltarifpolitik zu betreiben (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs I 292/55 U vom 17. Juli 1956, BStBl 1956 III S. 379, Slg. Bd. 63 S. 476). Vielmehr geht es darum, inwieweit es unter dem Gesichtspunkt der unbilligen Härte vertretbar erscheint, unter Berücksichtigung der Funktionen des Zollrechts aus Billigkeitsgründen die formelle Strenge des Gesetzes und die sich daraus im Einzelfall ergebenden Folgen durch Erlaß des gesetzlich entstandenen Zollanspruches zu beseitigen.
Kommt nun unter Berücksichtigung aller dieser den Charakter der Unbilligkeit eines Zollanspruchs auch im Einzelfall bestimmenden Faktoren die Anerkennung eines Härteausgleichs in Betracht, so führt dies - von seltenen Ausnahmen abgesehen - stets zu einem völligen Erlaß, weil die Unbilligkeit in den sachlichen Gegebenheiten des Tatbestands, nicht aber in der individuellen Beziehung zwischen Zollgläubiger und Zollschuldner oder in dessen wirtschaftlichen Verhältnissen begründet ist. Ein Ermessensspielraum im Sinne der Ausführungen der oben genannten Verfasser wäre also hier nicht mehr gegeben.
Nach Ansicht des Senats stellt die Anerkennung oder Ablehnung einer unbilligen Härte in diesen Fällen aber eine sich innerhalb eines Beurteilungsspielraums vollziehende Verwirklichung kognitiven Ermessens im Sinne einer wertverwirklichenden Gestaltung der Rechtslage dar (= konstitutiver, d. h. rechtsgestaltender Verwaltungsakt). So sieht z. B. auch Hensel in seiner umfassenden Monographie zu diesem Thema den Billigkeitserlaß als einen - dem Gnadenakt ähnlichen - "Regierungsakt" besonderer Art (Hensel: "Die Abänderung des Steuertatbestands durch freies Ermessen und der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz" - Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, 1. Jahrgang 1927 S 39 ff., S. 128). Dieser Auffassung ist nach Ansicht des Senats zuzustimmen, wenn auch der von Hensel aus der damals gegebenen verfassungsrechtlichen Situation heraus gezogene Schluß, Billigkeitsentscheidungen könnten keiner verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen, mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) heute keine Gültigkeit mehr haben kann. Wohl aber lassen sich aus dieser der Entstehung des § 108 (alt) und § 131 (neu) AO zeitlich nahestehenden Auffassung Schlüsse auf die Rechtsnatur der in § 131 AO enthaltenen Ermächtigung und damit hinsichtlich des Umfangs der Nachprüfungsbefugnisse der Steuergerichte ziehen.
Die Steuergerichte würden nämlich, folgte man der gegenteiligen Auffassung hinsichtlich der unbeschränkten Nachprüfbarkeit des Begriffs "unbillig" durch die Gerichte, wenn sie nicht die dem Wesensinhalt der unbilligen Härte auf dem Gebiet der Zölle zugehörigen Elemente aus dem Funktionsbereich des Zollrechts außer acht lassen wollten - was sie jedoch bei einer sachgerechten Rechtsanwendung nicht können -, unter Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung in den Bereich der regierenden Gewalt eingreifen. Es folgt dies eben zwangsläufig aus der auch von Hensel (a. a. O.) hervorgehobenen Besonderheit des Wesensgehalts des § 108 AO (alt) - jetzt § 131 AO.
Schon aus diesen Gründen glaubt der Senat, an der seitherigen Auslegung des § 131 AO und der darauf beruhenden Rechtsprechung festhalten zu sollen.
Es ist bereits ausgeführt, daß - folgt man der vom Senat abgelehnten Ansicht in der Grundkonzeption der Auslegung des § 131 AO -, die Entwicklung dahin führen wird, daß - vor allem auf dem Gebiet der sogenannten sachlichen Billigkeitstatbestände - die Ermächtigung der Verwaltung, in den von ihr für vertretbar gehaltenen Fällen einen Billigkeitserlaß zu gewähren, sich in einen in vollem Umfang durch die Gerichte nachprüfbaren Rechtsanspruch auf einen Abgabenerlaß verwandeln würde. Dies entspräche der von Galleiske (a. a. O.) vertretenen Ansicht vom "Recht der Billigkeit", als einer das gesamt gesetzte Recht überlagernden Generalklausel. Diese auf naturrechtlichen Gedankengängen beruhende, das Gesetzesrecht weitgehend aushöhlende Auffassung lehnt der Senat - jedenfalls für den Bereich der Zölle - ab, weil sie mit dem Wesensgehalt des Zollrechtes als eines vorwiegend zweckbestimmten Rechtsgebietes nicht vereinbar ist. Anwendung von Zollrecht ist Vollzug von Rechtsvorschriften, mit denen der Gesetzgeber das Instrument zur Verwirklichung seines Willens zu einer mehr oder minder liberalen Handhabung der Zölle geschaffen hat. Damit sind aber auch den Entscheidungen der Exekutive, mit denen sie auf Grund besonderer Ermächtigung (ß 131 AO) aus Gründen der Billigkeit von der Verwirklichung von Zollansprüchen absehen zu können glaubt, stets zwangsläufig Willenselemente aus dem Bereich der funktionellen Handhabung des Zollrechtes zugeordnet, die nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung als Ermessenselemente nur der beschränkten Nachprüfung durch die Gerichte unterliegen können.
Der Senat ist daher der Auffassung, daß die von den oben genannten Verfassern vertretene Auslegung des § 131 AO bei strenger Wortinterpretation zwar möglich, bei hinreichender Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Bestimmungen aber nicht überzeugend und mithin nicht zwingend ist. Es darf nach Meinung des Senats nicht außer acht gelassen werden, daß die Fassung des ersten Satzes des § 131 AO (früher § 108 AO), auf den es hier allein ankommt, aus einer Zeit stammt, in der sich das Problem einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit der auf ihm beruhenden Verwaltungsakte nicht stellte, so daß der Gesetzgeber keine Veranlassung hatte, die Formulierung darauf abzustellen. Wenn diese Fassung in den hier wesentlichen Teilen sodann bei der Neufassung des § 131 im Gesetz zur änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOändG) vom 11. Juli 1953 (BGBl 1953 I S. 511) unverändert stehen blieb, so kann auch daraus im Sinne der gegenteiligen Auffassung nichts hergeleitet werden. Denn der Gesetzgeber hatte damals keine Veranlassung an der Fassung der Bestimmung etwas zu ändern, da eine jahrzehntelange, später durch die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bestätigte und bis dahin von niemandem angezweifelte Auslegung im Sinne der auch heute noch vom Senat vertretenen Auffassung bestand.
Daher ist für die zu entscheidende Frage Forsthoff (a. a. O. S. 84) zuzustimmen, wenn er ausführt: "Aus dem allen geht hervor, daß sich zwar eine theoretische Abgrenzung zwischen Ermessensbetätigung und Rechtsanwendung wohl vollziehen läßt, die in Zweifelsfällen nützliche Dienste leistet, daß der in der Regel nicht die Formulierung des einzelnen Begriffs als solchen, sondern der gesamte Sinn und Zweck der Textstelle über die Zuweisung in den einen oder anderen Bereich entscheidet. ... Unbeschadet der Abtrennung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der tätigen Verwaltung haben sich die Verwaltungsgerichte bei der Abgrenzung ihrer Nachprüfungsbefugnis gegenüber dem Ermessen ersichtlich von einer Mitverantwortlichkeit für die Integrität der Verwaltung leiten lassen."
Nach allem ist der Senat daher - in übereinstimmung mit der Ansicht der überwiegenden Mehrheit der von ihm zu dieser Frage um Stellungnahme gebetenen Senate des Bundesfinanzhofs - zu der überzeugung gelangt, daß keine Veranlassung besteht, von der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Auslegung des § 131 AO und der sich daraus für die Rechtsprechung ergebenden Folgen abzuweichen.
Fundstellen
Haufe-Index 410466 |
BStBl III 1962, 290 |
BFHE 1963, 59 |
BFHE 75, 59 |