Entscheidungsstichwort (Thema)
Grunderwerbsteuer/Kfz-Steuer/sonstige Verkehrsteuern
Leitsatz (amtlich)
Bei keinesfalls enger Auslegung kann die Steuervergünstigung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG 1955 mit Rücksicht auf eine erhebliche Gehbehinderung jedenfalls dann nicht versagt werden, wenn ein Körperbehinderter nicht alle privaten und beruflich bedingten Wege beschwerdefrei zurücklegen kann, die ein gesunder Mensch im Ortsverkehr üblicherweise zu Fuß geht.
Zum Einfluß eines amtsärztlichen Zeugnisses auf die Gewährung dieser Kraftfahrzeugsteuervergünstigung.
Normenkette
KraftStG § 3 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Es ist streitig, ob von einem Körperbehinderten im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes 1955 (KraftStG) auf Grund eines neuen amtsärztlichen Untersuchungsbefundes die Kraftfahrzeugsteuer zu Recht nachgefordert worden ist.
I. - Dem Bf. war als körperbehindertem Halter eines PKW auf Grund eines amtsärztlichen Attestes vom 23. April 1948 für die Zeit vom 6. Juli 1958 bis 5. Juli 1959 eine Kraftfahrzeugsteuerermäßigung in Höhe von 25 v. H. nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG gewährt worden. Da der Bf. volle Steuerbefreiung beansprucht, veranlaßte das Finanzamt eine neue amtsärztliche Untersuchung. Der Untersuchungsbefund des städtischen Gesundheitsamtes vom 8. Oktober 1958 lautete:
Der Obengenannte leidet an Folgezustand nach Knochentuberkulose mit teilweiser Versteifung des rechten Fußgelenkes mit Atrophie der Unterschenkelmuskulatur rechts.
Herr R. ist in der Lage, kürzere Wege zu Fuß zurückzulegen.
Es liegt infolgedessen keine erhebliche Gehbehinderung vor.
Die Erwerbsminderung beträgt etwa 25 %, bezogen auf die äußerlich sichtbaren Leiden (Gehbehinderung).
Außerdem besteht ein Zustand nach Knochentuberkulose der re. Hand und des rechten Unterarmes mit Versteifung des rechten Handgelenks und Deformierung der Hand.
Daraufhin teilte das Finanzamt dem Bf. durch Steuerbescheid vom 14. November 1958 mit, daß künftig eine Steuervergünstigung nicht mehr gewährt werden könne und forderte für die Zeit vom 6. November 1958 - dem Zeitpunkt des Widerrufs durch die Oberfinanzdirektion - bis 5. Juli 1959 einen Unterschiedsbetrag an Kraftfahrzeugsteuer von 28,70 DM nach.
Mit seinem Einspruch wehrte der Bf. sich gegen die Steuernachforderung, da der ärztliche Untersuchungsbefund den auf das Zumutbare abgestellten Erfordernissen des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG nicht gerecht werde und deshalb der Entscheidung des Finanzamts nicht zugrunde gelegt werden dürfe; tatsächlich sei er erheblich gehbehindert.
Nach erfolglosem Einspruch vertrat der Bf. mit seiner Berufung die Auffassung, Steuerpflicht oder Steuerfreiheit im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG dürfe nicht von dem etwa in einem ärztlichen Gutachten enthaltenen Werturteil (den Schlußfolgerungen), sondern nur von dem objektiven Befund abhängig gemacht werden. Nach letzterem sei aber seine Gehbehinderung ein Dauerzustand; auch Art und Schwere der Körperbehinderung seien durch das Attest nachgewiesen. Außerdem habe der Landesfinanzminister ihm die Kraftfahrzeugsteuer vom 6. Juli 1958 bis 5. Dezember 1958 in vollem Umfang nach § 131 AO erlassen.
Das Finanzgericht setzte mit Rücksicht auf den Erlaß der Steuer durch den Landesfinanzminister bis zum 5. Dezember 1958 den Nachforderungsbetrag lediglich auf 15,10 DM herab, hielt im übrigen aber die Berufung für unbegründet. Die Steuerbehörden und Steuergerichte hätten zwar in eigener Zuständigkeit über Steuerpflicht oder Steuerfreiheit zu entscheiden; aus tatsächlichen Gründen werde aber nur ausnahmsweise eine Veranlassung vorliegen, von der "Entscheidung" der medizinisch fachkundigen Stelle abzuweichen. Deshalb müsse das Gesundheitsamt aus dem medizinischen Befund auch die entsprechenden Schlußfolgerungen hinsichtlich der Schwere der Körperbehinderung ziehen. Hiernach sei eine erhebliche Gehbehinderung des Bf. zu verneinen, so daß das Finanzamt die Kraftfahrzeugsteuer dem Grunde nach zu Recht nachgefordert habe.
Die wegen grundsätzlicher Bedeutung vom Finanzgericht zugelassene Rb. begründet der Bf. im wesentlichen wie folgt: Das Finanzgericht stütze seine ablehnende Entscheidung zu Unrecht ausschließlich auf das im Gesetz nicht vorgesehene Werturteil in dem amtsärztlichen Zeugnis. Nach renten- und versorgungsrechtlichen Grundsätzen sei aber eine Körperbehinderung von mehr als 20 v. H. als bedeutend (erheblich) anzusehen.
Entscheidungsgründe
II. -
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung des Finanzamts und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzamt.
Die Entscheidung über die Anwendbarkeit des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG mag letztlich eine Ermessensentscheidung sein (Urteile des Senats II 40/58 U vom 6. August 1958, Bundessteuerblatt - BStBl - 1958 III S. 403, Slg. Bd. 67 S. 334 a. E.; II 229/58 U vom 12. August 1959, BStBl 1959 III S. 431, 432 rechte Spalte, Slg. Bd. 69 S. 457, 461), da die Frage, ob überhaupt und in welchem Umfang die Kraftfahrzeugsteuer erlassen werden kann, außer von der Art und Schwere der Körperbehinderung auch von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Körperbehinderten abhängt. Die Entscheidung der im Rahmen des vorliegenden Steuernachforderungsverfahrens streitigen Vor- und Grundfrage, ob der Körperbehinderte infolge seiner Körperbehinderung zur Fortbewegung auf die Benutzung eines PKW nicht nur vorübergehend angewiesen ist, ist jedenfalls nicht in das Ermessen der Finanzverwaltungsbehörde gestellt. Insoweit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung der vollen Nachprüfung durch die Steuergerichte unterliegt.
Das Finanzgericht hat in übereinstimmung mit den koordinierten Richtlinien der Länderfinanzminister (für Nordrhein-Westfalen Erlaß vom 16. April 1956 S 6100 - 4148 - VC - 2, vgl. Der Betriebs-Berater - BB - 1956 S. 523) und dem Schrifttum (Klein-Schrötter, Verkehrsfinanzgesetz 1955, Zweiter Teil, Abschn. I, § 3 KraftStG Anm. 2 Abs. 4 Ziff. 2 S. 31; Neumann, Das Kraftfahrzeugsteuergesetz, 2. und 3. Aufl., § 3 Anm. 8; Egly, Kraftfahrzeugsteuer-Kommentar, 1. Aufl., Abschn. 53 c; 2. Aufl., Abschn. 28 Abs. 1) eingangs zutreffend ausgeführt, daß die Steuervergünstigung eine erhebliche Gehbehinderung voraussetzt, die es dem Körperbehinderten verwehrt, ohne gesundheitliche Nachteile oder Schwierigkeiten über Wegstrecken zu gehen, die ein gesunder Mensch im Ortsverkehr üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Es bestehen auch keine Bedenken dagegen, daß in den Fällen, in denen eine solche Gehbehinderung äußerlich nicht ohne weiteres erkennbar ist, die Finanzverwaltungsbehörden die Gewährung der Steuervergünstigung dem Grunde (und der Höhe) nach von einem ärztlichen, gegebenenfalls amtsärztlichen Zeugnis abhängig machen und dabei mangels eigener entsprechender medizinischer Sachkunde ihrer steuerrechtlichen Beurteilung nicht nur den objektiven ärztlichen Befund, sondern auch die aus letzterem zu ziehenden ärztlichen Schlußfolgerungen, vor allem hinsichtlich des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit, zugrunde legen. Die Finanzverwaltungsbehörden und Steuergerichte sind aber an solche gutachtlichen ärztlichen äußerungen - auch amtsärztliche Zeugnisse (nicht: Entscheidungen) der Gesundheitsbehörden - rechtlich nicht gebunden (Ausnahmen der Bindung kommen nicht in Betracht; wegen solcher Ausnahmen vgl. Mattern-Meßmer, Abgabenordnung, Tz. 1365). Die Finanzverwaltungsbehörden und Steuergerichte haben vielmehr kraft amtlicher Ermittlungspflicht (§§ 204, 243 AO) eigenverantwortlich über Steuerpflicht oder Steuerfreiheit zu entscheiden (vgl. insoweit Urteil des Senats II 16/56 vom 6. Juli 1960, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961 Nr. 34 S. 32, 33 rechte Spalte unten; zur Nichtbindung der Sozialgerichte an die Feststellung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit in ärztlichen Gutachten vgl. auch Bundessozialgericht in Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 6 S. 267 und Bundesversorgungsblatt 1960 S. 139). Wenn die Finanzverwaltungsbehörden im allgemeinen gleichwohl aus der rein tatsächlichen Erwägung, daß ihnen die genaue Sachkenntnis zur Beurteilung medizinischer Fragen meist fehlen wird, nicht ohne wohlerwogene, stichhaltige Gründe von der ärztlichen Beurteilung abweichen werden, so bedingt dies andererseits, daß der ärztliche Gutachter über Voraussetzungen, Zweck und Bedeutung einer steuerrechtlichen Vorschrift und die Grundsätze, gegebenenfalls Richtlinien zu deren Durchführung, eingehend unterrichtet und sich damit der steuerrechtlichen Tragweite seines Fachgutachtens bewußt ist. Nur dann wird der Gutachter ein Gutachten nach Form und Inhalt abfassen können, das der Finanzverwaltungsbehörde eine sachlich zutreffende eigene steuerrechtliche Entscheidung ermöglicht. Dies gilt in besonderem Maße, wenn der Gutachter in Fällen der streitigen Art sich zu einer für den Steuerpflichtigen möglicherweise nachteiligen Beurteilung gezwungen sieht. Denn der Senat ist der Auffassung, daß der Zweck des § 3 KraftStG, auch den Körperbehinderten im Sinne des Abs. 1 Nr. 2 a. a. O. durch steuerliches Entgegenkommen zum ohnehin beschränkten Ausgleich bei nicht unerheblichen Körperschäden wirtschaftlich das Halten eines Kraftfahrzeugs zu erleichtern, eine keinesfalls enge Auslegung weder der Worte "infolge ihrer Körperbehinderung" noch auch außerdem im Falle des Abs. 1 Ziff. 2 a. a. O. des "Auf- ein- Personenkraftfahrzeug-Angewiesenseins" gebietet. Jedenfalls dürfen die ärztlichen Stellen sich nicht veranlaßt fühlen, von vornherein den Kreis der für einen Steuererlaß nach § 3 KraftStG in Betracht kommenden Personen zu eng zu ziehen. Deshalb muß die Steuervergünstigung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG nicht schon deshalb abgelehnt werden, weil der Körperbehinderte ohne nachhaltige Schwierigkeiten im Stande ist, kürzere Wegstrecken zurückzulegen oder ausnahmsweise, gelegentlich oder gar notfalls über etwas längere Wegstrecken zu gehen, die auch ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Nach dem oben angegebenen Sinn und Zweck dieser Vorschrift kann die Steuervergünstigung jedenfalls dann nicht versagt werden, wenn ein Körperbehinderter nicht alle privaten und beruflich bedingten Wege beschwerdefrei zurücklegen kann, die ein gesunder Mensch im Ortsverkehr üblicherweise zu Fuß geht.
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ergibt, daß auf Grund der nur knapp gefaßten Bitte des Finanzamts das Gesundheitsamt und ihm folgend die Finanzverwaltungsbehörde und das Finanzgericht Begriff und Voraussetzung, daß der Körperbehinderte infolge der Körperbehinderung zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs nicht nur vorübergehend angewiesen ist, zu eng ausgelegt haben und daß deshalb die Kraftfahrzeugsteuer möglicherweise zu Unrecht nachgefordert worden ist.
Die gutachtliche äußerung, der Bf. sei in der Lage, kürzere Wege zu Fuß zurückzulegen und infolgedessen liege keine erhebliche Gehbehinderung vor, ist jedenfalls für die Beurteilung, ob die Steuervergünstigung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG zu gewähren oder zu versagen ist, in sich nicht schlüssig. Zunächst fehlt eine ausdrückliche Feststellung, ob dies ohne oder nur mit Schwierigkeiten oder sogar gesundheitlichen Nachteilen für den Bf. möglich ist. Vor allem aber könnte die Verneinung einer erheblichen Gehbehinderung bereits deswegen, weil der Bf., kürzere Wege zu Fuß gehen kann, dazu führen, daß auch vielen, wenn nicht den meisten Beinamputierten die Steuervergünstigung versagt werden könnte mit der Begründung, sie könnten z. B. den kurzen Weg von der Wohnung zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel zu Fuß zurücklegen; daß dies nicht Rechtens sein kann und offensichtlich von der Finanzverwaltung selbst nicht gewollt ist, ergibt sich schon daraus, daß solchen Körperbehinderten nach den oben angegebenen Länderrichtlinien eine Steuervergünstigung ohne ärztlichen Nachweis zu gewähren ist. Nur eine nicht engherzige Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG erleichtert es, gleichgelagerte Fälle der Körperbehinderung im Sinne dieser Vorschrift auch steuerrechtlich möglichst gleichmäßig zu behandeln, und gewährleistet so eine verfassungskonforme, dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland entsprechende Vergünstigung für den betroffenen Kreis der Körperbehinderten.
Es kommt hinzu, daß nach dem Untersuchungsbefund, bezogen nur auf die äußerlich sichtbaren Leiden, die Erwerbsminderung des Bf. im Jahre 1948 auf 60 % geschätzt war und auch zu der für den Streitfall maßgebenden Zeit noch 25 % betrug. Dies ist immerhin ein Grad der Erwerbsminderung, der nach den Vorschriften des Versorgungs- und Rentenrechts die Gewährung einer entsprechenden Rente ermöglicht (vgl. z. B. § 31 Abs. 1, 2 des Bundesversorgungsgesetzes, § 139 des Bundesbeamtengesetzes, § 31 Abs. 5 des Bundesentschädigungsgesetzes, § 581 der Reichsversicherungsordnung), außerdem die Gewährung eines Pauschbetrags wegen außergewöhnlicher Belastungen nach § 33 a Abs. 6 EStG, § 65 EStDV, § 26 LStDV. Der Bf. hat bereits im Einspruchsverfahren (vgl. das Schreiben vom 21. Dezember 1958) gewisse Bedenken wegen des Zustandekommens des Untersuchungsbefundes geltend gemacht und auf die Beschwerde hingewiesen, die seine Körperbeschädigung anläßlich seines damaligen Weges zur Arbeitsstätte verursachte. Daß das Gesundheitsamt und die Vorinstanzen auf diese Umstände nicht eingegangen sind, läßt ebenfalls eine zu enge Auslegung des Begriffs der erheblichen Gehbehinderung in dem oben angegebenen Maße nicht als ausgeschlossen erscheinen.
Die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung waren demnach wegen unrichtiger Anwendung des bestehenden Rechts aufzuheben.
Das Finanzamt, an das die Sache zurückverwiesen wird, wird in geeigneter Weise, zweckmäßig durch Anforderung eines ärztlichen Zusatzgutachtens, das die vom Senat entwickelten Rechtsgrundsätze zu § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG berücksichtigt, zu klären und erneut zu entscheiden haben, ob es die streitige Kraftfahrzeugsteuer zu Recht nachgefordert hat oder nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 411849 |
BStBl III 1965, 718 |
BFHE 1966, 602 |
BFHE 83, 602 |