Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensbeteiligung eines Dritten
Leitsatz (amtlich)
Ein Dritter ist nicht am Verfahren über die Änderung eines Steuerbescheids bei widerstreitender Steuerfestsetzung beteiligt (§ 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977), wenn er zwar hinzugezogen worden ist, das Verfahren aber nicht durch Einspruchsentscheidung, sondern durch einen ohne seine Zustimmung oder seinen entsprechenden Antrag ergangenen Abhilfebescheid endet (§ 172 Abs.1 Nr.2 a, § 367 Abs.2 Satz 3 AO 1977).
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 5 S. 1, § 367 Abs. 2 S. 3, § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 04.02.1986; Aktenzeichen V 632/85) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lieferte 1982 seinen Fischkutter an einen Abnehmer und stellte diesem am 27.Dezember 1982 folgende Rechnung aus:
"Rechnung
1 Stück Fischkutter
Preis: 160 000,― DM
(einhundertsechzigtausend)
incl. 13 % MwSt = 18 400,― DM".
Mit Bescheid vom 27.August 1984 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) die Umsatzsteuer gegen den Kläger für die steuerfreie Lieferung des Fischkutters (§ 4 Nr.2 i.V.m. § 8 Abs.1 des Umsatzsteuergesetzes ―UStG 1980―) unter Hinweis auf § 14 Abs.2 UStG 1980 auf 18 400 DM fest. Im Einspruchsverfahren legte der Kläger die Ablichtung einer berichtigten Rechnung vom 11.September 1984 ohne gesonderten Ausweis der Umsatzsteuer vor und machte geltend, die Rechnung vom 27.Dezember 1982 habe er zurückerhalten. Darauf setzte das FA die Umsatzsteuer für 1982 gegen den Kläger durch Bescheid vom 15.Oktober 1984 auf 0 DM herab.
Bei dem Abnehmer des Fischkutters änderte das FA die Umsatzsteuerfestsetzung für 1982 (nach § 164 Abs.2 der Abgabenordnung ―AO 1977―) durch Bescheid vom 29.Oktober 1984 und versagte ihm den zuvor gewährten Vorsteuerabzug aus der Rechnung vom 27.Dezember 1982 über die Lieferung des Fischkutters. Zum Verfahren über den dagegen von dem Abnehmer eingelegten Einspruch zog das FA den Kläger gemäß § 360 Abs.1 AO 1977 hinzu. Die gegen die Hinzuziehung erhobene Klage hat der Kläger zurückgenommen.
Das FA ließ den Steuerbetrag aus der Rechnung vom 27.Dezember 1982 bei dem Abnehmer durch Bescheid vom 1.Juli 1985 zum Vorsteuerabzug zu, nachdem dieser im Einspruchsverfahren vorgetragen hatte, er habe weder eine berichtigte Rechnung von dem Kläger erhalten noch habe er dem Kläger die ursprüngliche Rechnung zurückgegeben. Dementsprechend setzte das FA durch Änderungsbescheid vom 13.Juni 1985 die Umsatzsteuer für 1982 gegen den Kläger erneut auf 18 400 DM fest. Zur Begründung führte das FA u.a. aus, es sei zur Änderung der Steuerfestsetzung nach § 174 Abs.4 AO 1977 berechtigt. Der Kläger schulde die Umsatzsteuer nach § 14 Abs.2 UStG 1980. Eine wirksame Rechnungsberichtigung liege gemäß dem Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 30.Juni 1980 (BStBl I 1980, 501) nicht vor, weil der Abnehmer die Rechnung vom 27.Dezember 1982 weiter besitze.
Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG), dessen Entscheidung in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 371 veröffentlicht worden ist, statt; es hob den Umsatzsteueränderungsbescheid für 1982 gegen den Kläger vom 13.Juni 1985 auf.
Das FG war der Auffassung, die Steuerfestsetzung gegen einen am Einspruchsverfahren Beteiligten dürfe nach Sinn und Zweck des § 174 Abs.4 AO 1977 nur geändert werden, wenn er sie durch eine objektiv falsche Darstellung des Sachverhalts veranlaßt habe. Im Streitfall habe der Kläger keinen falschen Sachverhalt erklärt, vielmehr habe das FA den feststehenden Sachverhalt nur falsch beurteilt.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 174 Abs.4 AO 1977. Es meint, das FA dürfe die Steuerfestsetzung nach § 174 Abs.4 AO 1977 auch dann berichtigen, wenn es sich sowohl über den Besteuerungszeitraum für die Berichtigung (nicht 1982, sondern 1984) als auch über die Voraussetzungen der Berichtigung (keine Rückgabe der Rechnung mit dem zu hohen Steuerausweis) geirrt habe. Außerdem sei die Änderung nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 gerechtfertigt.
Das FA beantragt Aufhebung der Vorentscheidung und Klageabweisung.
Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Das FG hat unterlassen zu prüfen, ob das FA den angefochtenen Bescheid nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 hätte ändern dürfen.
1. Nach § 174 Abs.4 Satz 1 AO 1977 können durch Änderung eines bestandskräftigen fehlerhaften Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen aus einem Sachverhalt gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung dieses Sachverhalts zunächst ein fehlerhafter Steuerbescheid ergangen ist, der später aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Gegenüber Dritten ist die Folgeänderung gemäß § 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977 möglich, wenn sie an dem Verfahren, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt waren. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt.
Ob der angefochtene Steuerbescheid aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ergangen ist (§ 174 Abs.1 Satz 1 AO 1977), braucht nicht entschieden zu werden; denn der Kläger war jedenfalls nicht an dem Verfahren beteiligt, das zur Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids gegen den Abnehmer geführt hat (§ 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977).
Bei einer am Sinn und Zweck der Vorschrift ausgerichteten Auslegung erfordert die Beteiligung (§ 359 Nr.2 AO 1977, § 57 Nr.3 FGO) des Dritten an dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids, das mit dessen Aufhebung oder Änderung endet, daß dieser nicht nur zu diesem Verfahren hinzugezogen (§ 360 AO 1977) oder beigeladen (§ 60 FGO) worden ist. Vielmehr ist weiter erforderlich, daß ihm gegenüber die Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Bescheids wirksam wird. Da er durch die Beteiligung die verfahrensrechtliche Stellung erlangt, die der eines notwendig Hinzugezogenen oder notwendig Beigeladenen vergleichbar ist (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 25.August 1987 IX R 98/82, BFHE 151, 506, BStBl II 1988, 344 unter 1. c), müssen ihm auch die entsprechenden Rechte eingeräumt werden. So muß ihm die Entscheidung über die Änderung oder Aufhebung des fehlerhaften Steuerbescheids bekanntgegeben werden, damit er die Möglichkeit hat, Rechtsbehelfe einzulegen.
Eine Entscheidung durch Abhilfebescheid (§ 172 Abs.1 Nr.2 a AO 1977), durch die es einer Einspruchsentscheidung nicht mehr bedarf (§ 367 Abs.2 Satz 3 AO 1977), wahrt die Rechte des Hinzugezogenen nur, wenn sie seinem Antrag der Sache nach entspricht oder wenn er ihr zustimmt (vgl. BFH-Urteil vom 30.Mai 1963 III 380/61, Steuerrechtsprechung in Karteiform ―StRK―, Reichsabgabenordnung, § 239, Rechtsspruch 9; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 360 Anm.5 b). Wird dagegen das Einspruchsverfahren ohne entsprechenden Antrag oder ohne Zustimmung des Hinzugezogenen durch Abhilfebescheid gegen den Einspruchsführer abgeschlossen (§ 172 Abs.1 Nr.2 a, § 367 Abs.2 Satz 3 AO 1977), so ist der Hinzugezogene nicht i.S. von § 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977 beteiligt worden. Diese Beschränkung der Änderungsbefugnis bei widerstreitender Steuerfestsetzung gegenüber Dritten durch einengende Auslegung des Wortsinns des Tatbestandsmerkmals "beteiligt" (§ 174 Abs.5 Satz 1 AO 1977) ist auch nach den Gesetzesmaterialien gerechtfertigt. In der Gesetzesbegründung (BTDrucks VI/1982, S.154 zu § 155 Entwurf zur Abgabenordnung 1974) wird u.a. ausgeführt, daß bei widerstreitender Steuerfestsetzung eine Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gegenüber Dritten nur dann in Betracht komme, wenn dieser "schon bisher am Verfahren beteiligt war, mit anderen Worten, wenn die Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Bescheids auch ihm gegenüber wirksam ist".
2. Das FG hat nicht geprüft, ob die Änderung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids nicht aufgrund von § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 möglich war. Dem Revisionsgericht ist eine abschließende Beurteilung nicht möglich, weil die Tatsachenfeststellungen nicht ausreichen. Wegen der Rechtserheblichkeit der dem FA etwa nachträglich bekanntgewordenen Tatsache, daß die streitbefangene Rechnung entgegen der Darstellung des Klägers nicht berichtigt worden war, weist der Senat auf den Beschluß des Großen Senats des BFH vom 23.November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 unter III. 2. a) und auf das Urteil des BFH vom 7.Juni 1989 II R 13/86 (BFHE 157, 220, BStBl II 1989, 694) hin.
Fundstellen
Haufe-Index 63744 |
BFH/NV 1991, 49 |
BStBl II 1991, 605 |
BFHE 164, 176 |
BFHE 1992, 176 |
BB 1991, 1328 (L) |
DB 1992, 189-191 (LT) |
HFR 1991, 637 (LT) |
StE 1991, 230 (K) |