Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Antrag auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs ist als rechtsmittelähnlicher Rechtsbehelf anzusehen. Bei Versäumung der Antragsfrist kann deshalb unter den Voraussetzungen des § 86 AO Nachsicht gewährt werden.

Gesetz über den Lohnsteuer-Jahresausgleich für das Kalenderjahr 1949 vom 23. März 1950 (BGBl Nr.

 

Normenkette

JAG 8/1; AO § 86

 

Tatbestand

In der besonders zugelassenen Rechtsbeschwerde (Rb.) ist streitig, ob Nachsicht nach § 86 der Reichsabgabenordnung (AO) gewährt werden kann, wenn der nach § 8 Absatz 1 des Gesetzes über den Lohnsteuer-Jahresausgleich für das Kalenderjahr 1949 (LStJAG 1949) vorgesehene Antrag nicht innerhalb der von dem Bundesminister der Finanzen bestimmten Frist eingereicht ist.

Die Vorinstanzen haben das verneint. Während das Finanzamt offenbar die Möglichkeit der Nachsichtgewährung grundsätzlich anerkennt, die Voraussetzungen dafür im vorliegenden Falle nur nicht für gegeben hält, ist das Finanzgericht der Auffassung, daß in dem Antrag auf Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs weder eine Rechtsmittelfrist noch ein rechtsmittelähnlicher Rechtsbehelf zu erblicken ist. Es stützt sich hierbei auf das Urteil des Reichsfinanzhofs vom 25. September 1942 V 176/41, Reichssteuerblatt (RStBl) 1942 S. 962, Grundwerk zur Steuerrechtsprechung in Karteiform (GW-StRK), Durchführungsbestimmungen 1938 zum Umsatzsteuergesetz (UStDB) § 71 Rechtspruch 1, und des Obersten Finanzgerichtshofs vom 12. Juli 1950 II 18/50, StRK, AO § 86 Rechtspruch 1. Hier sei in Abweichung von der früheren Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs entschieden, daß die Gewährung von Nachsicht bei Versäumung von Ausschlußfristen - es handelte sich um die nicht rechtzeitige Stellung von Umsatzsteuervergütungsanträgen - nicht in Betracht komme. Die gleichen Erwägungen müßten bei anderen fristgebundenen Steuervergünstigungen zu Raum kommen; eine weitgehende Auslegung des § 86 AO zugunsten von Ausschlußfristen sei abzulehnen, weil sie mit Wortlaut und Sinn der Vorschrift nicht vereinbar sei. Der Antrag auf Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs sei in den freien Willen des Steuerpflichtigen (Stpfl.) gestellt; darin zeige sich der Unterschied gegenüber einem Rechtsmittel oder sonstigem fristgebundenen Rechtsbehelfe. Hier sei der Stpfl. durch eine vorangegangene Entscheidung beschwert, bei Anträgen auf Gewährung von Steuervergünstigungen werde lediglich ein vom eigenen Willen abhängiges Recht geltend gemacht; es brauche kein wirkliches oder vermeintliches Unrecht innerhalb einer bestimmten Frist abgewehrt zu werden. In diesen Fällen liege weder ein Rechtsmittel noch rechtsmittelähnlicher Behelf vor, so daß sich daraus die Nichtanwendung des § 86 AO von selbst ergebe.

Es ist richtig, daß der Reichsfinanzhof in seiner älteren Rechtsprechung die Zulässigkeit der Nachsicht bei Versäumung von Ausschlußfristen sehr großzügig behandelt hat, insbesondere auch bei Umsatzsteuervergütungsanträgen. Im Urteil vom 25. September 1942 V 176/41 hat er jedoch seine bisherige Rechtsauffassung aufgegeben und ausgesprochen, die bei Umsatzsteuervergütungsanträgen vorgesehene zeitliche Begrenzung entspreche einer Verjährungsfrist, nach deren Ablaufe dem Säumigen Nachsicht nicht gewährt werden dürfe und könne. Wenn auch diese Begründung nicht bedenkenfrei ist, da Verjährungsfristen keine Ausschlußfristen im Sinne des Gesetzes sind - es handelt sich bei den Verjährungsfristen um solche, die die Behörde, nicht der Stpfl. einhalten muß, und deren Versäumung ein Rechtsverlust für die Behörde, nicht für den Stpfl. bewirkt -, so hat doch der Oberste Finanzgerichtshof in II 18/50 S das Ergebnis übernommen und grundsätzlich erklärt, daß § 86 AO auf Ausschlußfristen, die weder verkürzt noch verlängert werden dürften, nicht angewendet werden könne. Diese Vorschrift beziehe sich nur auf die Versäumung von Rechtsmittelfristen; er hat in der nicht veröffentlichten Entscheidung vom 24. Mai 1950 II 49/50 an dieser Auffassung festgehalten und noch darauf hingewiesen, daß auch die überschrift vor § 82 AO (Nachsicht wegen Versäumung einer Ausschlußfrist) eine abweichende Beurteilung nicht rechtfertige; diese überschrift besage weiter nichts, als daß in den folgenden Paragraphen die Frage, ob und wann bei Versäumung einer Ausschlußfrist Nachsicht gewährt werden könne, geregelt werde. Das sei dahin geschehen, daß Ausschlußfristen mit Ausnahme von Rechtsmittelfristen nicht verlängert werden könnten (§§ 83 Absatz 1 Satz 3, 86, 87 AO), ganz abgesehen davon, daß überschriften lediglich einen allgemeinen überblick geben sollen, aber weder Recht schaffen wollen noch können. Ob dieser zuteil gewordenen Würdigung der überschrift zuzustimmen ist, kann dahingestellt bleiben. Für die in II 18/50 S vertretene engere Auffassung kann aber weiter die Tatsache verwertet werden, daß im Entwurfe der AO statt "Rechtsmittelfrist" "Ausschlußfrist" stand. Trotz dieser einschränkenden Auslegung ist in den beiden Urteilen in übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs die Gewährung von Nachsicht in den Fällen zugelassen, in denen es sich bei fristgebundenen Steuervergünstigungen um Rechtsbehelfe handelt, die ihrem Wesen nach den Rechtsmitteln gleichzustellen sind. Von einer Stellungnahme zu der vom Obersten Finanzgerichtshof in II 18/50 S zur Anwendung des § 86 AO auf Ausschlußfristen vertretenen, im Schrifttum nicht allgemein gebilligten Auffassung, kann daher abgesehen werden, wenn in den durch den Bundesminister der Finanzen auf den 31. Mai 1950 befristeten Anträgen (siehe Bundesanzeiger Nr. 62 vom 29. März 1950, Erlaß vom 24. März 1950 III S 2242 - 20/50, Ministerialblatt des Bundesministeriums der Finanzen - MinBlFin - S. 129) auf Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs ein rechtsmittelähnlicher Behelf zu erblicken ist. Das muß im Gegensatz zur Vorentscheidung bejaht werden. Das Lohnsteuerausgleichsverfahren ist ein Teil des Lohnsteuerverfahrens; es ist einer der Behelfe, mit dem die lohnsteuerliche Belastung der der Veranlagten gleichgestellt werden soll (siehe Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 6. April 1951 IV 70/51 S, Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 Nr. 10 S. 100 III/70). Der Stpfl. soll die diesem Ziele dienenden Umstände, die er im Laufe des Kalenderjahres im Lohnsteuerverfahren nicht geltend machen konnte und die eine steuerliche Beschwer für ihn darstellen, bis zu einem bestimmten Termin geltend machen; es soll in diesem Verfahren, das als eine Art Rechtsmittelverfahren (Wiederaufnahmeverfahren) gegenüber dem Lohnsteuerverfahren angesehen werden kann, in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen eine nochmalige Prüfung der lohnsteuerlichen Verhältnisse stattfinden. Insofern unterscheidet sich dieses Verfahren von dem Umsatzsteuervergütungsverfahren. Es wird daher dem nach § 8 des Gesetzes über den Lohnsteuer-Jahresausgleich zu stellenden Antrage seinem Wesen und Zweck nach ein rechtsmittelähnlicher Charakter zuzugestehen sein. Wenn in der Vorentscheidung ausgeführt wird, gegenüber einem Rechtsmittel oder sonstigem fristgebundenen Rechtsbehelfe bestehe bei dem Antrage auf Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs der Unterschied darin, daß dieser auf den freien Willen des Stpfl. abgestellt sei, so ist dieser Gesichtspunkt nicht durchschlagend. Auch die Einlegung eines Rechtsmittels oder rechtsmittelähnlichen Rechtsbehelfs hängt von dem freien Willen jedes Stpfl. ab. Ob die Beschwer durch einen formellen Steuerbescheid, eine vorangegangene Rechtsmittelentscheidung oder durch einen formlosen Bescheid, wie er in der Entgegennahme der Lohnsteuer durch das Finanzamt liegt, herbeigeführt wird, ist ohne Bedeutung; ebensowenig kann der Auffassung der Vorinstanz zugestimmt werden, daß nur mit den üblichen Rechtsmitteln ein wirkliches oder vermeintliches Unrecht abgewehrt werden kann. Wenn Gesetze dem Stpfl. ein Recht auf Steuervergünstigung geben und die Gewährung von einem fristgebundenen Antrag abhängig machen, so wird auch mit diesem Antrag ein wirkliches oder vermeintliches Unrecht abgewehrt, wenn die vom Gesetz aufgestellten Voraussetzungen für den Antragsteller zutreffen. Für diese Beurteilung spricht auch die Handhabung der Praxis. Es ist amtsbekannt, daß bei Versäumung der Antragsfrist auf Lohnsteuer-Jahresausgleich allgemein Nachsicht gewährt worden ist; auch das im Streitfalle zuständige Finanzamt hat das getan. Daraus kann geschlossen werden, daß auch die Verwaltung in dem Antrage auf Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs einen rechtsmittelähnlichen Rechtsbehelf sieht. Das ist auch deshalb angebracht, weil sonst in vielen Fällen die vom Gesetz geforderte gleichmäßige Behandlung der Arbeitnehmer und Veranlagten aus formalen Gründen nicht zur Durchführung kommen würde.

 

Entscheidungsgründe

Die Vorentscheidung sowie die Einspruchsentscheidung des Finanzamts und dessen Bescheid vom 12. August 1950 waren deshalb wegen Rechtsirrtums aufzuheben. Der Senat ist nicht in der Lage, selbst zu entscheiden.

Hinsichtlich der Nachsichtgewährung ist er im Gegensatz zu den Vorinstanzen jedoch der Meinung, daß der Antrag berechtigt ist. Der Beschwerdeführer (Bf.) hat den Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich mit dem am 10. August 1950 beim Finanzamt eingegangenen Schreiben vom 29. Juli 1950 gestellt und die verspätete Einreichung damit begründet, er sei der Meinung gewesen, der Ausgleich werde bereits deshalb vorgenommen, weil er einen Antrag auf Lohnsteuerermäßigung gestellt habe. Er sei Flüchtling und habe von der besonderen Stellung eines Antrags auf Lohnsteuer-Jahresausgleich nichts erfahren; er bewohne eine Dachkammer, könne weder Radio hören, noch sei er in der Lage, sich eine Zeitung zu halten; er habe auch angenommen, daß sein Fall ebenso behandelt werde wie der zweier anderer Arbeitskameraden, die ebenfalls keinen besonderen Antrag gestellt hätten, und bei denen doch der Ausgleich vorgenommen worden sei.

Die von den Vorinstanzen mit der Begründung vorgenommene Ablehnung der Nachsichtgewährung, in den verflossenen Jahren seien die für die Arbeitnehmer geltenden Bestimmungen in ausreichendem Umfange bekanntgemacht worden (so der Einspruchsentscheid), auch Unkenntnis allein genüge nicht (so Vorentscheidung), trägt dem gegebenen Tatbestande nicht ausreichend Rechnung. Nicht nur, daß die Vorschriften über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1949 sehr spät erschienen sind, so daß die Verwaltung bei dem Bundesminister der Finanzen eine allgemeine Fristverlängerung beantragt hat, auch die Tatsache, daß es sich bei dem Lohnsteuer-Jahresausgleich um ein bisher nicht übliches Verfahren handelt, lassen es gerechtfertigt erscheinen, bei Anträgen auf Nachsicht keinen allzu strengen Maßstab anzulegen. Hinzu kommt, daß die Darstellung des Bf. durchaus glaubhaft erscheint, er habe angesichts seiner wirtschaftlichen Lage weder eine Zeitung gehalten und halten können noch sonst Gelegenheit gehabt, festzustellen, daß ein besonderer Antrag für die Vornahme des Lohnsteuer-Jahresausgleichs einzureichen sei. Bei der bei dem Bf. vorauszusetzenden Allgemeinbildung kann ihm auch geglaubt werden, er habe angenommen, eines besonderen Antrages bedürfe es nicht, weil zwei andere Arbeitskameraden auch keinen solchen gestellt hätten. Tatsächlich sind auch besondere formelle Anträge von diesen Kameraden nicht gestellt worden; diese haben lediglich im Zuge ihrer Lohnsteuer-Ermäßigungsanträge mit Schreiben vom Januar 1950 die erforderlichen Nachweise eingereicht. Diese Schreiben hat das Finanzamt als ausreichende Antragstellung angesehen. Die in der Vorentscheidung in dieser Beziehung getroffene Feststellung gibt den Sachverhalt nicht ganz zutreffend wieder.

Auch der Hinweis in der Vorentscheidung auf das Urteil des Reichsfinanzhofs vom 8. April 1935 V A 173/34, RStBl 1935 S. 1213, nach dem Unkenntnis für eine Nachsichtgewährung nicht ausreiche, läßt den in dem Urteil ausgesprochenen und hier in Betracht kommenden Umstand außer acht, daß die Unkenntnis nicht auf einem Verschulden des Stpfl. beruhen darf. Das trifft im vorliegenden Falle auch nicht zu. Es liegen keine konkreten Umstände vor, die dem Bf. als schuldhafte Verletzung seiner Sorgfaltspflicht angerechnet werden könnten und müßten.

Bei dieser Sachlage trägt der Senat keine Bedenken, die Voraussetzungen der §§ 86 und 87 AO als gegeben anzusehen. Der Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich ist dem Grunde nach auch sachlich berechtigt. Der Bf. war vom 18. Juni bis 31. Dezember 1949 erwerbslos. Sein in der Zeit vom 1. Januar bis 17. Juni 1949 erzielter Bruttolohn betrug 1.903,94 DM, an Lohnsteuer sind 157,10 DM einbehalten. Der Bf. hat danach auf Grund des § 1 Absatz 1 LStJAG 1949 einen Anspruch auf Durchführung des Ausgleichs wegen unständiger Beschäftigung. In welcher Höhe jedoch eine Erstattung nach § 3 a. a. O. in Betracht kommt, ist aus dem Akteninhalt nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Die Sache wird deshalb an das Finanzamt zurückverwiesen; dieses hat unter Berücksichtigung der dem Bf. zugebilligten Ermäßigung für Werbungskosten und Sonderausgaben die Höhe des zu erstattenden Betrages zu ermitteln.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407259

BStBl III 1951, 161

BFHE 1952, 405

BFHE 55, 405

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