Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung von Steueransprüchen
Leitsatz (NV)
1. Verwirkung tritt nur ein, wenn das Finanzamt durch sein Verhalten beim Steuerpflichtigen einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Steueranspruchs als Verstoß gegen Treu und Glauben empfunden werden muß.
2. In der Regel reicht eine bloße Untätigkeit des Finanzamts nicht aus, um einen Steueranspruch als verwirkt anzusehen.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Gesellschafter waren der am 13. April 1975 verstorbene A und dessen Bruder B. Erben des A sind B, C und D.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte die GbR mit endgültigen Bescheiden für die Jahre 1970 bis 1973 zur Umsatzsteuer.
Nach Ergehen der Umsatzsteuerbescheide 1970 bis 1973 wurde dem FA Ende 1976 aufgrund von Mitteilungen des Steuerberaters der GbR bekannt, daß der verstorbene Gesellschafter A über Sparguthaben ungeklärter Herkunft verfügt hatte. Das FA erließ am 6. Januar 1977 für die Jahre 1972 und 1973 und am 14. Februar 1977 für die Jahre 1970 und 1971 geänderte Einkommensteuerbescheide, in denen es die nacherklärten Einkünfte aus Kapitalvermögen der Steuerfestsetzung zugrunde legte.
Am 24. April 1978 begann bei der Klägerin eine Betriebsprüfung. Der Prüfer stellte dabei nicht erklärte Gewinne aus Gewerbebetrieb in Höhe von . . . DM fest. Den Gesamtbetrag sah er in derselben Höhe als steuerpflichtigen Umsatz an und verteilte ihn mit je . . . DM auf die Jahre 1970 bis 1974.
Das FA erließ dementsprechend am 24. Oktober 1978 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Umsatzsteuerbescheide für 1970 bis 1973.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 88 AO 1977 und macht Verwirkung der streitigen Steueransprüche geltend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die streitigen Umsatzsteueransprüche sind nicht verwirkt.
a) Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß ein Steueranspruch nur dann verwirkt ist, wenn die Finanzbehörde durch ihr Verhalten beim Steuerpflichtigen einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Steueranspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden werden muß (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 19. Dezember 1979 I R 23/79, BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368, und vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, 219, BStBl II 1984, 697). Verwirkung bedeutet, daß ein Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Der Tatbestand der Verwirkung enthält somit ein zeitliches Moment, die länger andauernde Untätigkeit des Anspruchsberechtigten, und ein Umstandsmoment, ein bestimmtes Verhalten des Berechtigten und einen hierdurch ausgelösten Vertrauenstatbestand. Das Zeitmoment ist im allgemeinen von geringerer Bedeutung, während dem Umstandsmoment ausschlaggebendes Gewicht zukommt (BFH-Urteile vom 14. September 1978 IV R 89/74, BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121; vom 4. Juli 1979 II R 74/77, BFHE 129, 201, BStBl II 1980, 126, und vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780).
b) Das FG hat auch zutreffend angenommen, daß das FA keinen Vertrauenstatbestand bei der Klägerin geschaffen hat, nachdem diese damit rechnen durfte, sie würde wegen der von der Betriebsprüfung festgestellten nichtversteuerten Umsätze nicht mehr in Anspruch genommen werden. Das FA hat kein Verhalten gezeigt, das geeignet gewesen wäre, in der Klägerin das Vertrauen darauf zu wecken, es würden keine Umsatzsteueränderungsbescheide mehr ergehen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, inwiefern das FA durch den Erlaß der geänderten Einkommensteuerbescheide 1970 bis 1973 für die Gesellschafter der Klägerin zu erkennen gegeben haben sollte, daß es Umsatzsteueransprüche gegen die Klägerin nicht mehr geltend machen wollte. Vielmehr mußte die Klägerin bei verständiger Würdigung aufgrund der vom Steuerberater abgegebenen Anzeigen damit rechnen, auch noch wegen Umsatzsteuerforderungen in Anspruch genommen zu werden.
Im Streitfall sind außerdem keine Umstände ersichtlich, die das FA zu einem bestimmten Verhalten innerhalb einer kürzeren Frist hätten veranlassen können oder müssen. Die zeitlichen Grenzen für die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis werden regelmäßig durch die Verjährung gesetzt, die den Zeitraum bemißt, während dessen der aus den Steuergesetzen Verpflichtete mit seiner Inanspruchnahme rechnen muß. Bloße Untätigkeit des FA reicht in der Regel nicht aus, um einen Steueranspruch als verwirkt anzusehen (BFH-Urteile vom 14. September 1977 II R 74/76, BFHE 123, 299, BStBl II 1978, 168; vom 3. November 1982 I R 39/80, BFHE 137, 183, BStBl II 1983, 182, und in BFHE 141, 211, 219, BStBl II 1984, 697). Das FA ist im vorliegenden Streitfall weder übermäßig lange - eineinhalb Jahre - noch ohne jeglichen sachlichen Grund untätig geblieben. Daß das FA erst die Ergebnisse der Betriebsprüfung abwarten wollte, ist sachgemäß. Außerdem ist weder ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen, sie habe im Vertrauen auf die Nichtgeltendmachung der Umsatzsteueransprüche Dispositionen getroffen.
Ob - wie die Klägerin meint - § 171 Abs. 9 AO 1977 eine Frist setzt, in der die Finanzbehörde tätig werden muß, wenn sie die neue Tatsache steuerlich auswerten will, ist nicht zu entscheiden, weil § 171 Abs. 9 AO 1977 auf den Streitfall noch nicht anwendbar ist.
Fundstellen
Haufe-Index 414130 |
BFH/NV 1986, 130 |