Leitsatz (amtlich)
Die Buchführung ist nicht ordnungsmäßig im Sinne des § 10d EStG, wenn die Jahresschlußbilanz erst etwa zweieinhalb Jahre nach dem Bilanztag erstellt wird.
Normenkette
EStG § 10d; HGB §§ 38-39
Tatbestand
Streitig ist der Abzug des im Vorjahr entstandenen Verlustes als Sonderausgabe.
Der Kläger und Revisionbeklagte (Kläger) hatte in seiner Steuererklärung für das Jahr 1963 den in seinem Betrieb im Vorjahr entstandenen Verlust in Höhe von 37 840 DM als Sonderausgabe geltend gemacht. Der Beklagte und Revisionskläger (FA) lehnte dieses Begehren mit der Begründung ab, daß der Kläger den Verlust nicht aufgrund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt habe, weil die bilanz für das Jahr 1962 erst gegen Ende April 1965 erstellt worden sei. In seinem Einspruch wies der Kläger darauf hin, daß seine Buchführung in keiner Betriebsprüfung beanstandet worden sei. In der Einspruchsentscheidung, in der das FA die Ergebnisse einer inzwischen durchgeführten Betriebsprüfung berücksichtigte, lehnte das FA den Abzug des Vorjahresverlustes, der durch die Betriebsprüfung mit 79 304 DM festgestellt worden war, erneut mit dem Hinweis ab, daß der Buchführung wegen der verspäteten Bilanzaufstellung die Ordnungsmäßigkeit fehle. Der Klage gab das FG mit folgender Begründung statt: Da die Betriebsprüfung keine Beanstandungen der Buchführung erbracht habe, seien die Versicherungen des Klägers glaubhaft, daß sein Personal die Geschäftsvorfälle fortlaufend und ordnungsgemäß festgehalten habe. Sei somit die Buchführung ordnungsmäßig gewesen, so ändere die späte Aufstellung der Bilanz hieran nichts, weil sie noch bis zur Durchführung der Veranlagung eingereicht worden sei. Das Urteil des BFH vom 5. März 1965 VI 154/63 U (BFHE 82, 104, BStBl III 1965, 285) stehe dieser Ansicht nicht entgegen, weil in dem vom BFH entschiedenen Fall nicht nur die Bilanz, sondern die gesamte Buchführung erst nachträglich erstellt worden sei. Außerdem habe der BFH dem Kläger einen gewissen Spielraum zur Aufstellung der Bilanz eingeräumt, ohne diesen Raum näher zu bestimmen. Es könne daher davon ausgegangen werden, daß der Kaufmann mit der Aufstellung der Bilanz bis zur Veranlagung warten könne.
Hiergegen richtet sich die Revision des FA mit folgender Begründung: Zu beanstanden sei zunächst, daß in dem Urteil auch die Ehefrau als Partei bezeichnet werde, obwohl sie weder als Klägerin aufgetreten noch beigeladen worden sei. Außerdem habe das FG die Bestimmung des § 76 Abs. 1 FGO verletzt, weil sie den vom beklagten FA in der mündlichen Verhandlung als Zeugen genannten Buchhalter des Klägers nicht gehört habe.
In der Sache selbst ergebe sich aus dem Urteil des BFH vom 26. März 1968 IV 63/63 (BFHE 92, 264, BStBl II 1968, 527) eindeutig, daß die Buchführung bei verspäteter Bilanzaufstellung nicht ordnungsmäßig sei, auch wenn die Buchführung im übrigen nicht zu beanstanden sei. Nach § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB seien Inventar und Bilanz innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen. Dadurch solle die Gefahr fehlerhafter Abschlußbuchungen vermieden werden, die bei zeitnaher Bilanzaufstellung fehle. Die Aufstellung der Bilanz erst zweieinhalb Jahre nach Abschluß des Wirtschaftsjahrs sei ein unheilbarer Systemmangel. Es handele sich um ein großes, gut organisiertes Unternehmen, dessen Rechenwerk nach den Feststellungen des Betriebsprüfers fehlerfrei sei. Dem Kläger und seinem Personal wäre es daher möglich gewesen, die Bilanz in verhältnismäßig kurzer Zeit aufzustellen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
1. Mit Recht wendet sich das FA dagegen, daß auch die Ehefrau des Klägers im Rubrum des Urteils als Partei bezeichnet wird, in dem als Kläger "die Eheleute" B genannt werden. Weder der Klageschrift noch dem Sitzungsprotokoll ist zu entnehmen, daß die Ehefrau des Klägers selbst im eigenen Namen Klage erheben wollte, zumal sich die Einspruchsentscheidung nicht gegen sie richtet. Sie durfte daher auch nicht im Urteil als Klägerin bezeichnet werden, in dem die "Eheleute" im Rubrum als Kläger genannt wurden.
2. Soweit sich das Urteil des FG an den Kläger richtet, kann es ebenfalls keinen Bestand haben, weil der erkennende Senat die Rechtsansicht des FG, auf die es seine Entscheidung stützt, nicht teilt.
Voraussetzung für den Abzug eines Vorjahrsverlustes als Sonderausgabe nach § 10d EStG ist, daß der Verlust durch Vermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 oder nach § 5 EStG aufgrund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt wurde. Zutreffend rechnet das FA auch die Bilanz zur Buchführung, so daß zur ordnungsmäßigen Buchführung auch die ordnungsmäßige Aufstellung der Bilanz gehört (vgl. BFH-Entscheidungen VI 154/63 U vom 9. Februar 1966 I 120/63, BFHE 85, 184, BStBl III 1966, 278; vom 29. August 1969 VI R 189/66, BFHE 97, 11, BStBl II 1970, 40; vom 31. Juli 1969 IV R 57/67, BFHE 97, 246, BStBl II 1970, 125; vom 23. Juni 1971 I B 6/71, BFHE 102, 517, BStBl II 1971, 709). Der Einwand Thoma's (FR 1970, 177), daß der Gesetzgeber die Aufstellung der Bilanz nicht der Buchführung zurechne, weil die Buchführung in § 38 HGB geregelt sei, das Inventar und die Bilanz jedoch in § 39 HGB, ist nicht stichhaltig, wie der Verfasser selbst zugeben muß. Denn das Inventar zählt auch nach seiner Ansicht zur Buchführung, obwohl es nicht in § 38 HGB, sondern - wie die Bilanz - in § 39 HGB geregelt ist. Daraus ist ersichtlich, daß die Aufteilung der Gesamtregelung der kaufmännischen Buchführungspflichten in zwei getrennten Bestimmungen des HGB nicht die Bedeutung haben kann, daß verschiedene Rechtsmaterien geregelt werden sollten. Die getrennte Regelung diente nur der Übersichtlichkeit. Denn die Buchführung erschöpft sich nicht in der Dokumentation, also in der Aufzeichnung der Vorfälle in den Grundbüchern, sondern umfaßt auch die Systematisierung des Buchungsstoffes durch Übertragung in das Journal und in sonstige Sachbücher (vgl. BFH-Entscheidung vom 16. September 1964 IV 42/61 U, BFHE 80, 500, BStBl III 1964, 654) sowie die Rechenschaft, die der Kaufmann durch Zusammenfassung des gesamten Buchungsstoffes in der Jahresbilanz sich selbst, seinen Gläubigern und ggf. den Mitunternehmern gibt (vgl. Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 2. Aufl. S. 56).
Ob eine Buchführung ordnungsmäßig ist, ist demnach nicht allein davon abhängig, ob die Aufzeichnungen in den Grund- und Sachbüchern ordnungsmäßig erfolgten, sondern auch davon, ob die Bilanz ordnungsmäßig aufgestellt wurde. Zur ordnungsmäßigen Aufstellung der Bilanz gehört aber, daß sie innerhalb des in § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB bezeichneten Zeitraums erstellt wird.
Welche Zeit einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entspricht, ist im Gesetz nicht geregelt. Die für die Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung aufgestellten Sonderregeln in § 125 Abs. 1 AktG a. F. bzw. § 148 AktG 1965 und § 41 Abs. 2 und 3 GmbHG, wonach die Bilanzen grundsätzlich drei Monate nach Schluß des Jahres zu erstellen sind, gelten nicht allgemein. Der BGH hat jedoch im Urteil vom 9. Dezember 1954 3 StR 198/54 (BB 1955, 109) entschieden, daß die Bilanz nicht ordnungsmäßig im Sinne des § 240 Abs. 1 Nr. 4 der Konkursordnung sei, wenn sie erst ein halbes Jahr nach Jahresablauf erstellt wird. Auch für die Aufstellung der Bilanz gilt aber der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit, so daß eine längere Frist für die Bilanzaufstellung zuzubilligen sein kann, wenn langwierige Vorbereitungen der Bilanz eine frühere Erstellung verhindern. Der Senat braucht diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden. Denn der Kläger stellte die Bilanz für das Verlustjahr 1962 erst nach Ablauf von mehr als zwei Jahren auf. Einen so langen Zeitraum hält der Senat, besonders wenn keine Gründe dafür vorliegen, warum die Bilanz nicht früher aufgestellt werden konnte, auf jeden Fall für mit § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB unvereinbar.
Ob eine Buchführung ordnungsmäßig ist, hängt nicht davon ab, daß sie überhaupt Fehler aufweist. Es müssen schwerwiegende Fehler vorliegen. Das FA sieht in der nicht zeitgerechten Aufstellung der Bilanz einen Systemmangel der Buchführung. Die Rechtsprechung des BFH hat jedoch inzwischen den Systemmangel als Kriterium der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung aufgegeben. Es kommt nicht mehr auf die formale Bedeutung des Buchführungsmangels an, sondern auf sein sachliches Gewicht. Dieses ist danach zu beurteilen, ob - vom Zweck der Buchführung her - trotz des Mangels die Nachprüfung der vom Steuerpflichtigen aufgestellten Bilanz (innerhalb angemessener Frist) möglich ist (vgl. BFH-Entscheidung vom 15. März 1972 I R 60/70, BFHE 105, 138, BStBl II 1972, 488).
Der Senat läßt dahingestellt, ob diese Rechtsprechung für alle Verstöße gegen Formvorschriften zur Ordnungsmäßigkeit der Buchführung gilt, insbesondere gegen solche, deren Einhaltung sich unmittelbar aus dem Gesetz, nicht erst aus der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ordnungsmäßige Buchführung ergibt. So soll der Kaufmann z. B. nach § 162 Abs. 7 AO Kasseneinnahmen und Kassenausgaben im geschäftlichen Verkehr mindestens täglich aufzeichnen. Eine buchführung, in der das tägliche Aufzeichnungsgebot für die geschäftlichen Kassenvorgänge verletzt ist, ist nicht ordnungsmäßig, ohne daß sich die Frage nach dem sachlichen Gewicht dieses Verstoßes stellt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB über das zwingende Gebot, die Bilanz innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen, in gleichartigem Sinn aufzufassen und der Buchführung die Beweiskraft ohne weiteres dann abzusprechen, wenn dieses Gebot verletzt ist. Gewisse Mindestformerfordernisse muß die Buchführung erfüllen, soll sie als ordnungsmäßig anerkannt werden.
Die nicht rechtzeitig - im Sinn des § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB-Bilanzaufstellung kann aber auch zu einem Buchführungsmangel mit erheblichem sachlichen Gewicht werden. Daß die Nichtbefolgung des § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB überhaupt einen Buchführungsfehler darstellt, ist nicht zweifelhaft (BFH-Urteil VI 154/63 U, BFHE 82, 107 dritter Absatz, BStBl III 1965, 286 linke Spalte, zweiter Absatz); Hildebrandt in Schlegelberger/Hildebrandt (Handelsgesetzbuch, Bd. I Anm. 7 zu § 39) führt hierzu aus: "Die nicht rechtzeitige Aufstellung ... ist ebenso wie ihre gänzliche Unterlassung eine Verletzung der Buchführungspflicht ..." Diese Verletzung der Buchführungspflicht führt jedenfalls dann zur Verwerfung der Buchführung, wenn die Aufstellung der Bilanz so spät erfolgt, daß bei vernünftiger Beurteilung allgemein oder nach den Verhältnissen des Einzelfalls davon ausgegangen werden muß, daß der Kaufmann im Zeitpunkt der verspäteten Bilanzaufstellung nicht in der Lage ist, die Verhältnisse am Bilanztag noch fehlerfrei zu beurteilen. Die Aufstellung der Bilanz erfordert auch bei abschlußreifen Buchführungsarbeiten und bei Vorliegen einer nicht zu beanstandenden Inventur mit entsprechendem Inventar zahlreiche weitere Überlegungen des Kaufmanns im Hinblick auf die Bewertung der Vermögensgegenstände sowie auf - insbesondere auf der Passivseite - einzustellende Bilanzposten (z. B. Rückstellungen) und von - aktiven wie passiven - Rechnungsabgrenzungsposten, ohne die die Bilanz ihren Zweck, die Handelsgeschäfte und die Lage des Vermögens nach den Grundsätzen ordnunggemäßiger Buchführung ersichtlich zu machen (§ 38 Abs. 1 HGB) sowie unter Verzeichnung des Geschäftsvermögens den Wert der einzelnen Vermögensgegenstände (§ 39 Abs. 1 HGB) nach dem Wert anzusetzen, der ihnen für den Bilanztag beizulegen ist (§ 40 Abs. 2 HGB), nicht erfüllen kann. § 39 Abs. 2 HGB spricht von der Verpflichtung zur jährlichen Aufstellung der Bilanz.
Zweck all dieser Vorschriften ist es, dem Kaufmann selbst, aber auch Gläubigern und Gesellschaftern jährlich Rechenschaft über den Stand des Geschäfts zu geben. Dieser Zweck wird vereitelt, wenn die Bilanz nicht jährlich aufgestellt und dadurch dem Kaufmann die Möglichkeit gegeben wird, die Wertansätze nicht nach den Verhältnissen am Bilanztag zu bilden, sondern nach dem Ergebnis mehrerer inzwischen abgelaufener Geschäftsjahre zu manipulieren. Der Kaufmann soll auch nicht die Möglichkeit erhalten, die Bilanzaufstellung über den in § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB bestimmten Zeitraum hinaus zu verzögern, um auf diese Weise noch nach diesem Zeitraum gewonnene Erkenntnisse über die Verhältnisse am Bilanztag berücksichtigen zu können. Hierdurch würde die vorgeschriebene abschnittsweise (§ 39 Abs. 2 Satz 1 HGB) Rechenschaftsablegung und deren Zweck in Frage gestellt, der es gerade auch ist, die Bilanz zeitnah aufzustellen. Brüggemann in Großkommentar zum Handelsgesetzbuch (Bd. I Anm. 3 zu § 39) führt in diesem Zusammenhang aus, der Zeitraum des § 39 Abs. 2 Satz 2 HGB habe auch eine eigene Bedeutung; er fixiere die während seiner Dauer gewonnenen nachträglichen Erkenntnisse für die Bewertung und müsse pünktlich eingehalten werden. Durch den Zeitraum vom Bilanztag bis zum Tag der Bilanzaufstellung soll der Kaufmann in die Lage versetzt werden, noch Erkenntnisse über die Verhältnisse am Bilanztag zu gewinnen und zu verwerten. Die Vorschrift über den Zeitpunkt der Bilanzaufstellung will so verhindern, daß auch spätere Erkenntnisse noch verwertet werden, weil hier, je weiter der Aufstellungstag hinausgeschoben wird, die kaum noch kontrollierbare Gefahr besteht, daß einerseits im Verhältnis zu zeitgerechter Bilanzaufstellung nicht mehr maßgebliche spätere Umstände berücksichtigt, daß andererseits Umstände, die den Wert am Bilanztag erhellen, mit solchen, die eine spätere Wertveränderung anzeigen, unzulässigerweise vermischt werden. Durch zu langes Hinauszögern der Bilanzaufstellung wird daher die Berücksichtigung weiterer Erkenntnisse über die Verhältnisse am Bilanztag, die bis zum verspäteten Aufstellungstag gewonnen wurden, zu einer die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung verletzenden Maßnahme - vom Standpunkt einer zeitgerechten Bilanzaufstellung aus gesehen -, wobei es vielfach noch zweifelhaft sein wird, ob es sich um Erkenntnisse handelt, die die Verhältnisse am Bilanztag erhellen, oder um solche, die den Wert der Vermögensgegenstände nachträglich verändert haben.
Im Streitfall stellte der Kläger seine Bilanz erst im Laufe des dritten auf den Bilanztag folgenden Wirtschaftsjahrs auf. Das ist unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen so spät, daß die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung nicht mehr anerkannt werden kann. Dem Kläger steht daher der Verlustabzug nach § 10d EStG nicht zu. Die Vorentscheidung wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 70451 |
BStBl II 1973, 555 |
BFHE 1973, 167 |