Leitsatz (amtlich)
Es kann in der Regel nicht beanstandet werden, wenn das FA aufgrund einer allgemeinen Anweisung der vorgesetzten Dienststelle bei Großbetrieben die Veranlagung nach § 100 Abs. 2 AO vorläufig durchführt, weil noch eine Betriebsprüfung aussteht.
Normenkette
AO §§ 100, 162, 193, 204-206; FGO § 102
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine KG, erklärte für das Jahr 1969 einen Gewinn von 137 768 DM. Diesen Gewinn übernahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) ohne Änderung in die einheitliche Gewinnfeststellung für das Streitjahr. Der Feststellungsbescheid wurde gemäß § 100 Abs. 2 AO für vorläufig erklärt.
Die Klägerin wendet sich mit ihrem Rechtsbehelf gegen die Vorläufigkeit des Bescheids. Sie ist der Ansicht, die Praxis der FÄ, Großbetriebe aufgrund interner Verwaltungsanweisung generell über mehrere Jahre hinweg nur vorläufig zu veranlagen, sei ein Mißbrauch des durch § 100 Abs. 2 AO eingeräumten Ermessens. Diese Vorschrift sei nur für Ausnahmefälle gedacht. Grundsätzlich habe das FA Steuerfälle aufzuklären und zu entscheiden. Durch die vorläufige Veranlagung warte das FA die Aufklärung des Sachverhalts durch die Betriebsprüfung ab und umgehe dadurch die Vorschriften der §§ 204 bis 210 AO. Auch der in Art. 3 GG verankerte Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz sei verletzt. Da Betriebsprüfungen in aller Regel zu Steuernachzahlungen führten, seien Großbetriebe, die alle drei Jahre geprüft würden, gegenüber Klein- und Mittelbetrieben mit einem Prüfungsturnus von 10 bis 12 Jahren benachteiligt, zumal auch bei diesen die Prüfung sich jeweils nur auf drei Jahre erstrecke. Die Vorläufigkeit der Bescheide bringe Rechtsunsicherheit mit sich, denn der Steuerfall könne in vollem Umfang wieder aufgerollt werden.
Einspruch und Klage der Klägerin hatten keinen Erfolg.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin unrichtige Anwendung geltenden Rechts. Sie wiederholt im wesentlichen einen Teil ihrer früher vorgetragenen Einwendungen.
Die Klägerin beantragt:
1. Das Urteil des FG wird aufgehoben.
2. Die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung 1969 der Klägerin ergeht endgültig.
Das FA beantragt:
Die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es hält das Urteil des FG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
I.
Die Revision ist zulässig.
Gegen das Urteil eines FG steht den Beteiligten die Revision zu, wenn der Wert des Streitgegenstands 1 000 DM übersteigt (§ 115 Abs. 1 FGO). Der Streitwert ist unter Berücksichtigung der Sachanträge der Beteiligten nach freiem Ermessen zu bestimmen (§ 140 Abs. 3 FGO). Maßgebend ist das finanzielle Interesse des Rechtsbehelfsführers. Ein solches ist im Streitfall, in dem die Klägerin eine endgültige statt einer vorläufigen einheitlichen Gewinnfeststellung begehrt, ziffernmäßig nicht genau zu bestimmen. Das FA hat in der Einspruchsentscheidung einen geschätzten Betrag von 1 200 DM als Streitwert angenommen. Die Klägerin ist demgegenüber der Auffassung, daß die Grundsätze des Urteils des BFH vom 12. März 1970 IV 4/64 (BFHE 99, 11, BStBl II 1970, 547 ) entsprechend gelten müßten. Danach ist der Streitwert im Verfahren der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung in der Regel mit dem Satz von 1 v. H. des streitigen Gewinnbetrages einzusetzen, wenn abzusehen ist, daß sich einkommensteuerliche Auswirkungen nicht ergeben. Dieser Fall liegt hier jedoch schon deshalb nicht vor, weil die Klägerin nicht um einen bestimmten Gewinnbetrag streitet. Der Senat hält den vom FA gesetzten Streitwert von 1 200 DM für sachgerecht. Er liegt über der Revisionssumme von 1 000 DM.
II.
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
1. Das FG hat -- wenn auch ohne Begründung -- die Klage zu Recht als zulässig angesehen, da die Klägerin geltend macht, in ihren Rechten verletzt zu sein (§ 40 Abs. 2 FGO). Die Rechtsverletzung kann sich auch daraus ergeben, daß ein Bescheid für vorläufig erklärt worden ist (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 40 FGO Anm. 15). Denn ein vorläufiger Bescheid kann grundsätzlich ohne weiteres zu Lasten des Steuerpflichtigen berichtigt werden, während dies im Falle eines endgültigen Steuerbescheids nur unter erschwerten Voraussetzungen (§§ 94, 222 AO) möglich ist.
2. Der Auffassung der Vorinstanz, daß die Vorläufigkeit des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheids nicht zu beanstanden sei, ist beizupflichten.
Nach § 100 Abs. 2 AO kann das FA die Steuer vorläufig festsetzen (bzw. die Besteuerungsgrundlagen vorläufig feststellen), wenn der Steuerpflichtige der Betriebsprüfung (§ 162 Abs. 10 und 11 und § 193 AO) unterliegt. Ob die Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgestellt werden sollen, steht im Ermessen des FA. Das Gericht hat daher nur zu prüfen, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 102 FGO). Bei Ausübung des Ermessens sind das berechtigte Interesse der Steuerpflichtigen an einer alsbaldigen endgültigen Veranlagung und das Interesse des FA an einer erleichterten Berichtigungsmöglichkeit gegeneinander abzuwägen. Diese Grundsätze gelten auch bei Anwendung des § 100 Abs. 2 AO. Der Senat verweist hierzu auf sein Urteil vom 21. Mai 1969 I R 75/67 (BFHE 95, 486, BStBl II 1969, 474 ). Das FA hat -- wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat -- diese Grundsätze nicht verletzt.
a) Bei einer vorläufigen Veranlagung oder Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 100 Abs. 2 AO soll angegeben werden, daß die Vorläufigkeit auf dieser Vorschrift beruht. Eine weitere Begründung dafür, daß ein vorläufiger Bescheid ergeht, ist nicht erforderlich (§ 100 Abs. 2 Sätze 3 und 4 AO). Schon daraus ergibt sich, daß das FA über die gesetzlichen Voraussetzungen hinaus grundsätzlich keine besonderen Gründe benötigt, um bei einem der Betriebsprüfung unterliegenden Steuerpflichtigen einen vorläufigen Bescheid zu erlassen. Dies folgt auch aus dem Zweck der Vorschrift. Es soll eine sachlich richtige endgültige Veranlagung unabhängig von den Schranken der Vorschriften über die Änderung von Steuerbescheiden (z. B. der §§ 94 und 222 Abs. 1 AO) ermöglicht werden. Die Klägerin beruft sich zu Unrecht auf die Entscheidung des RFH vom 17. April 1934 I A 273/33 (RStBl 1934, 594), in der es für unzulässig erachtet wurde, die vorläufige Veranlagung nur deshalb vorzunehmen, weil der Steuerpflichtige nach § 169 Abs. 10 AO 1919 der Betriebsprüfung unterlag. Diese Entscheidung ist, wie der Senat bereits in seinem Urteil I R 75/67 dargelegt hat, zu § 82 AO 1919 ergangen. Durch § 100 Abs. 2 AO, erstmals in Kraft getreten in der Fassung des § 28 des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen vom 1. Dezember 1936 (RStBl 1936, 1137), ist diese Rechtslage überholt.
b) Die Klägerin kann auch mit ihrem Hinweis auf die §§ 204 ff. AO nicht durchdringen. Der in § 204 AO dem FA auferlegten Pflicht, von Amts wegen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln, wird gleichermaßen genügt, ob das FA von vornherein oder erst später eine endgültige Veranlagung durchführt. Nach § 205 AO ist dem FA die Prüfung der Steuererklärung auferlegt. Diese Vorschrift darf indes nicht isoliert von § 100 Abs. 2 AO und von § 162 Abs. 10 und 11 AO gesehen und verstanden werden. Die Vorschriften der §§ 204 f. AO gehen nicht etwa als Recht höherer Ordnung den übrigen genannten Vorschriften vor, sondern werden durch sie modifiziert. Danach geht das Gesetz selbst davon aus, daß sich unter bestimmten Voraussetzungen die Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen von der Veranlagungsdienststelle auf die Betriebsprüfung verlagern kann, ohne daß allerdings an der abschließenden Entscheidung durch die Veranlagungsdienststelle etwas geändert würde.
c) Es kann im Lichte der für die richtige Ermessensausübung maßgebenden Grundsätze auch nicht beanstandet werden, daß die Finanzverwaltung bei der Anwendung des § 100 Abs. 2 AO für bestimmte Fallgruppen nach einheitlichen Richtlinien verfährt. Gleichmäßige Ausübung des Ermessens für solche Fallgruppen nach generellen Gesichtspunkten ist, sofern die ihr zugrunde liegenden Erwägungen der Zielsetzung der vom Gesetz eingeräumten Ermächtigung entsprechen, nicht nur sinnvoll, sondern zur Wahrung des Gleichheitssatzes sogar geboten; denn vielfach kann nur so erreicht werden, daß gleichliegende Fälle gleich behandelt werden (Urteil des BVerwG vom 22. Januar 1969 VI C 52/65, HFR 1970, 180). Einheitliche Grundsätze für die vorläufige Veranlagung von Großbetrieben dienen daher der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und dem Gleichheitssatz nach Art. 3 GG. Daß möglicherweise bei Großbetrieben anders verfahren wird als bei Betrieben anderer Größenklassen, kann nicht als ermessenswidrig angesehen werden. Da für Großbetriebe nach § 162 Abs. 11 AO ein Prüfungsturnus von mindestens drei Jahren vorgesehen ist, besteht die mit einer vorläufigen Besteuerung verbundene Unsicherheit nicht auf unabsehbare Zeit. Es erscheint in diesen Fällen auch zweckmäßig, die Angaben der Steuererklärung an Ort und Stelle durch den Betriebsprüfer nachprüfen zu lassen. Derartige Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Ausübung des Ermessens sind erlaubt.
d) Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung zusätzlich vortragen lassen, daß bei ihr bis heute keine Betriebsprüfung durchgeführt worden sei. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Sachvortrag das Begehren der Klägerin, das FA zur Durchführung einer endgültigen Veranlagung zu verpflichten, rechtfertigen könnte. Jedenfalls handelt es sich insoweit um neues tatsächliches Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden kann (§ 118 Abs. 2 FGO).
III.
Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO), jedoch mit der Maßgabe, daß sich das Urteil nicht gegen den Komplementär der Klägerin, sondern gegen die KG als die richtige Klägerin richtet (BFH-Urteil vom 4. Mai 1972 IV 251/64, BFHE 105, 449, BStBl II 1972, 672 ).
Fundstellen
Haufe-Index 70890 |
BStBl II 1974, 436 |
BFHE 1974, 20 |