Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Betriebsprüfung
Leitsatz (amtlich)
Nachsicht wegen Versäumnis der Rechtsmittelfrist kann gewährt werden, wenn der Pflichtige mündlich an Amtsstelle erklärt hat, ein Rechtsmittel einlegen zu wollen, die Protokollierung aber ohne Verschulden des Pflichtigen unterblieben ist.
Normenkette
AO §§ 86-87, 202
Tatbestand
Der Beschwerdegegner (Bg.) ist Eigentümer mehrerer Grundstücke in A in der X-Straße und eines Hauses in der Y-Straße, in dem er wohnt.
Zwecks Wertfortschreibung der Häuser in der X-Straße schickte das Finanzamt ihm Ende Juli 1951 formularmäßige Muster über Mietnachweisungen zur Ausfüllung bis zum 10. August 1951. Als eine Antwort nicht einging, forderte es den Bg. am 29. August 1951 auf, die Mietnachweisungen bis zum 7. September 1951 einzureichen und drohte unter Berufung auf § 202 der Reichsabgabenordnung (AO) eine Geldstrafe von 50 DM für den Fall der nicht rechtzeitigen Erledigung an. Nach Ablauf der Frist setzte das Finanzamt am 20. September 1951 die angedrohte Strafe fest. Der Vordruck enthält die übliche Rechtsmittelbelehrung: "Die Beschwerde ist binnen einem Monat nach Zustellung der Verfügung beim obenbezeichneten Finanzamt schriftlich oder durch Erklärung zu Protokoll einzulegen."
Unstreitig waren die drei Verfügungen des Finanzamts an den Bg. bei der Aufgabe zur Post mit der Anschrift "X-Straße 93 bzw. 94" versehen, obwohl der Behörde die richtige Anschrift ("Y-Straße 10") bekannt war.
Am 24. September 1951 erklärte der Bg. den Beamten des Finanzamts an Amtsstelle, er sei nicht gewillt, die Strafe von 50 DM zu bezahlen, weil er weder die Vordrucke noch eine Strafandrohung erhalten habe. In den Besitz der Festsetzungsverfügung vom 20. September 1951 sei er nur dadurch gelangt, daß Kinder, die in dem Hause X-Straße 94 wohnten, den Brief des Finanzamts in seine Wohnung in der Y-Straße gebracht hätten. Eine schriftliche Protokollierung seiner Erklärung ist auf dem Finanzamt nicht erfolgt. Das Finanzamt händigte ihm neue Vordrucke aus, die im Oktober 1951 ausgefüllt und eingereicht wurden.
Nachdem der Vollziehungsbeamte bei dem Bg. die Erzwingungsstrafe vollstrecken wollte, legte er mit Schreiben vom 4. November 1951 - eingegangen beim Finanzamt am 6. November 1951 - schriftlich Beschwerde gegen die Festsetzung der Geldstrafe ein.
Das Finanzgericht hat auf diese Beschwerde - unter Nachsichtgewährung wegen Fristveräumnis - die Festsetzungsverfügung des Finanzamts vom 20. September 1951 aufgehoben.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde (Rb.) des Finanzamtsvorstehers kann keinen Erfolg haben.
Der Bg. hat von der Festsetzungsverfügung des Finanzamts, wie seine Erklärungen an Amtsstelle ergeben, spätestens am 24. September 1951 Kenntnis erlangt. Die am 6. November 1951 beim Finanzamt eingegangene schriftliche Beschwerde ist daher verspätet eingelegt, weil die einmonatliche Beschwerdefrist schon abgelaufen war (§§ 245, 246 AO).
Der Finanzamtsvorsteher wendet sich zu Unrecht dagegen, daß das Finanzgericht gemäß § 87 Abs. 4 AO ohne Antrag Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist bewilligt und die Beschwerde demgemäß als rechtzeitig erhoben behandelt hat.
In tatsächlicher Hinsicht hat das Finanzgericht auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme frei von rechtlichen oder tatsächlichem Irrtum festgestellt, daß der Bg. am 24. September 1951 in eindeutiger Form mündlich auf dem Finanzamt gegen die Straffestsetzung Beschwerde erhoben hat. Es sieht auf Grund der gemachten Aussagen als erwiesen an, daß der Bg. nicht ausdrücklich darauf hingewiesen ist, er müsse seine Beschwerde schriftlich oder zu Protokoll erklären. Nach den Niederschriften über die Vernehmungen haben der zuständige Sachbearbeiter und der Bg. allerdings nur ausgesagt, sie könnten sich nicht daran erinnern, daß eine solche Belehrung erfolgt sei. Es entspricht aber der Lebenserfahrung, daß bei entsprechender Aufklärung der Bg. die Protokollierung verlangt haben würde, zumal er eine Strafe bezahlen sollte. Die Beweiswürdigung des Finanzgerichts stellt daher keinen Verstoß gegen den Akteninhalt dar.
Auch die Feststellung des Finanzgerichts unterliegt keinen Bedenken, der Bg. habe geglaubt, das Beschwerdeverfahren durch seine mündliche Erklärung in Gang gebracht zu haben, und sei erst durch das Erscheinen des Vollziehungsbeamten auf seinen Irrtum aufmerksam geworden.
Dem Finanzgericht ist auch in der rechtlichen Beurteilung darin beizutreten, daß der Irrtum des Bg. unter diesen Umständen entschuldbar ist. Der Reichsfinanzhof hat in mehreren Entscheidungen ausgeführt, daß ein Verschulden an der Fristversäumnis zu verneinen sei, "wenn eine nichtrechtsverständige Person auf dem Finanzamt rechtzeitig zum Ausdruck bringt, daß sie ein Rechtsmittel einlegen wolle, und wenn alsdann ohne ihr Verschulden die Aufnahme eines Protokolls darüber unterbleibt" (Urteil des Reichsfinanzhofs II A 161/26 vom 8. April 1927, wiedergegeben und bestätigt im Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 2086/29 vom 15. Januar 1930, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1930 Nr. 653). Darüber hinaus hat der Reichsfinanzhof in einem späteren Urteil (VI A 281/32 vom 17. Februar 1932, Reichssteuerblatt - RStBl. - 1932 S. 282) Nachsicht in einem Falle gewährt, in dem der Steuerpflichtige (Stpfl.) bei einer mündlichen Erklärung des Einspruchs auf den schriftlichen Weg verwiesen war und der Beamte es unterlassen hatte, sich zur Aufnahme des Einspruchs bereit zu erklären.
Unter Anwendung dieser Grundsätze, die sich der erkennende Senat zu eigen macht, unterliegt die Nachsichtgewährung durch das Finanzgericht keinen rechtlichen Bedenken. Dabei ist es auch unerheblich, daß der Vordruck die Belehrung enthielt, die Beschwerde müsse schriftlich oder zu Protokoll eingelegt werden. Denn der Stpfl., der nach Erhalt einer solchen formularmäßigen Festsetzungsverfügung gegen diese beim Finanzamt vorstellig wird, muß darauf vertrauen können, daß die zuständigen Beamten ihn bei der Wahrung seiner Rechtsbehelfe richtig beraten und ihm helfen; dazu gehörte im vorliegenden Falle die Protokollierung seiner Beschwerde.
Die Bestimmungen der §§ 86 ff. AO bezwecken, Härten zu beseitigen, die sich aus der unverschuldeten Nichtwahrung von Fristen ergeben können. Die Behörden sollten daher bei der Prüfung der Verschuldensfrage nicht zu streng verfahren und dem Pflichtigen die materielle Verfolgung seines Rechtes aus formellen Gründen nur dann versagen, wenn wichtigere Grundsätze oder gesetzliche Vorschriften es verlangen (vgl. Hübschmann-Hepp- Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und den Nebengesetzen, Anm. 1 zu § 86).
Nach § 305 Abs. 2 Satz 2 AO in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 175 der Britischen Militärregierung (Verordnungsblatt - VOBl. - für die Britische Zone 1948 S. 385, Steuer und Zollblatt - StuZBl. - 1948 S. 291) ist im Bereich der bisherigen britischen Zone wegen Verhängung und Ausführung eines Zwangsmittels die Beschwerde an das Finanzgericht nur insoweit zulässig, als der Verhängung oder Ausführung des Zwangsmittels keine besondere Androhung oder Anordnung vorausgegangen ist.
Das Finanzgericht hat frei von Rechtsirrtum und ohne Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten festgestellt, daß die vorherige Androhung der Festsetzung der Erzwingungsstrafe vom 29. August 1951 dem Bg. wegen falscher Adressierung nicht zugegangen ist, und hat daher mit Recht die Zulässigkeit der Beschwerde bejaht.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung über Postzustellung in der öffentlichen Verwaltung (Postzustellungsverordnung) vom 23. August 1943 (Reichsgesetzblatt - RGBl. - I S. 527; RStBl. S. 677) gilt eine Zustellung, wenn die Wohnung des Empfängers im Bereich des Ortsbestellverkehrs liegt, am zweiten Werktage nach der Aufgabe zur Post als bewirkt, sofern nicht nach den Umständen anzunehmen ist, daß die Sendung nicht (oder erst in einem späteren Zeitpunkt) zugegangen ist. Diese Vermutung gilt jedoch, wie der Zusammenhang mit Satz 1 ergibt, nur, wenn das "mitzuteilende Schriftstück unter der Anschrift des Empfängers zur Post gegeben wird". Denn nur bei richtiger Adressierung kann nach der Erfahrung des Lebens mit größter Wahrscheinlichkeit unterstellt werden, daß der Adressat das Schriftstück erhält.
Im übrigen würde - auch bei richtiger Anschrift - das Finanzamt bei Behauptung des Nichtzugangs von Amts wegen zu ermitteln haben, ob nach den Umständen anzunehmen ist, daß die Behauptung des Stpfl. zutrifft (so auch Hübschmann-Hepp-Spitaler AO; Anm. 45 zu § 88). Man wird im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zu der ähnlichen Vorschrift des § 2 der früheren Verordnung über Vereinfachungen bei der Zusendung von Steuer- und Feststellungsbescheiden vom 21. Juni 1929 (Reichsministerialblatt - RMBl. - S. 426), - nach der sogar der Stpfl. die Gründe für den Nichtzugang "darlegen" mußte - auch bei Annahme der Voraussetzungen der Vermutung des § 1 Abs. 1 Satz 3 der Postzustellungsverordnung 1943 keineswegs eine Nachweispflicht des Stpfl. für das Nichtzugehen annehmen dürfen (Urteil des Reichsfinanzhofs V A 208/30 vom 14. Juli 1930, RStBl. 1930 S. 614).
Im vorliegenden Streitfall ist das Finanzgericht auf Grund freier Beweiswürdigung zu der überzeugung gekommen, daß die Androhung nicht in den Besitz des Bg. gekommen ist. Der Vorsteher des Finanzamts beanstandet zu Unrecht, daß das Finanzgericht der Aussage des zuständigen Briefträgers keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat, nach der jeder Brief nur entweder in die Hand des richtigen Empfängers kommen oder aber in die Hand des Absenders zurückgelangen müsse. Denn es entspricht der Lebenserfahrung, daß selbst bei richtiger Anschrift und sorgfältigster Arbeit der Briefträger gelegentlich ein Fehler in der Postzustellung unterlaufen kann; das gilt noch mehr bei einer unrichtigen Adressierung.
Unerheblich ist, daß, wie in der Rb. klargestellt wird, ein Absendevermerk sich zwar nicht wie üblich auf dem Entwurf der Verfügung vom 29. August 1951 (Bl. 29 der Akten des Finanzamts III Nr. 4/349 betr. X-Straße 92/94), sondern in dem Aktenstück des anderen Grundstücks (Bl. 22 R. III Nr. 4/350 betr. X-Straße 93/95) befindet. Denn die Entscheidung des Finanzgerichts stützt sich nur zusätzlich auf das Fehlen eines Absendevermerks und wird schon durch die sonstigen Feststellungen getragen.
Soweit letzte Zweifel bleiben, ob die Androhung vom 29. August 1951 zugegangen ist oder nicht, ist es - besonders bei der Frage der Zulässigkeit eines Rechtsmittels und der Festsetzung einer Geldstrafe - richtig, solche Zweifel nicht zu Lasten des Stpfl. gehen zu lassen. Diese Rechtsauffassung entspricht übrigens der ausdrücklichen Bestimmung des § 17 Abs. 2 letzter Halbsatz des demnächst in Kraft tretenden Verwaltungszustellungsgesetzes (VZG) vom 3. Juli 1952 (Bundesgesetzblatt - BGBl. - I S. 379; Bundessteuerblatt - BStBl. - I S. 615), nach der "im Zweifel die Behörde den Zugang des Schriftstücks nachzuweisen hat".
Da nicht erwiesen ist, daß die Androhung vom 29. August 1951 dem Bg. zugegangen ist, war die Beschwerde gegen die Straffestsetzungsverfügung vom 20. September 1951 nicht nur zulässig, sondern auch begründet. Denn nach § 202 Abs. 6 AO darf eine Erzwingungsstrafe erst festgesetzt werden, wenn vorher der Pflichtige unter Androhung des Zwangsmittels mit Setzung einer angemessenen Frist zur Vornahme der von ihm geforderten Handlung aufgefordert worden ist. Das Finanzgericht hat daher mit Recht den angefochtenen Festsetzungsbescheid des Finanzamts aufgehoben.
Fundstellen
Haufe-Index 407473 |
BStBl III 1952, 273 |
BFHE 1953, 712 |
BFHE 56, 712 |