Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Sonstiges Gewerbesteuer
Leitsatz (amtlich)
Die Begrenzung der Anfechtbarkeit von Berichtigungsbescheiden in § 234 AO a. F. ist mit ihrer Betonung des Gedankens der Rechtssicherheit nicht dadurch gegenstandslos geworden, daß mit § 35 b GewStG dem Gedanken der materiellen Gerechtigkeit entsprochen wird. Beide Gedanken stehen (als Grundsätze von Verfassungsrang) gleichberechtigt nebeneinander; sie treten nur nach Massgabe gesetzlicher Bestimmungen wechselseitig voneinander zurück.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2, §§ 234, 232; BVerfGG § 79 Abs. 2; GewStG § 35b
Nachgehend
Tatbestand
Der Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hatte den Meßbetrag nach dem Gewerbeertrag der Revisionsklägerin (Steuerpflichtigen - Stpfl. -), einer GmbH, für den streitigen Erhebungszeitraum 1955 unter Einbeziehung der von der Stpfl. an ihre Gesellschafter gezahlten Vergütungen (§ 8 Ziff. 6 GewStG) zuletzt mit Bescheid vom 18. Januar 1958 unanfechtbar festgesetzt. Der einheitliche Gewerbesteuermeßbetrag lautete auf 9.544 DM. Eine im Jahre 1959 durchgeführte Betriebsprüfung führte zu einer Berichtigung des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags auf 10.637 DM (Bescheid vom 10. November 1959).
Auf den Einspruch der Stpfl. setzte das FA in Ansehung des inzwischen ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl I 1962, 500) den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag wiederum auf 9.544 DM fest. Zu einer weitergehenden Herabsetzung sah es sich durch die Vorschrift des § 234 AO a. F. gehindert.
Die Berufung der Stpfl. hiergegen blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) begründet seine Entscheidung wie folgt:
Der streitige Berichtigungsbescheid vom 10. November 1959 beruhe auf § 222 AO sowie den anläßlich der Betriebsprüfung im Jahre 1959 getroffenen Feststellungen. Damit finde auch die Vorschrift des § 234 AO a. F. Anwendung, die auf dem gleichen Rechtsgedanken beruhe wie die des § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG - (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - I 286/62 U vom 7. Oktober 1964, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 81 S. 286 - BFH 81, 286 -, BStBl III 1965, 103). Dem stehe auch § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO nicht entgegen, da die Mehr-AfA als Folgewirkung der für das Vorjahr vorgenommenen Nachaktivierungen für das Streitjahr keine neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO darstellten (BFH-Urteil I 248/60 U vom 21. August 1962, BFH 75, 643, BStBl III 1962, 501).
Für einen Folgebescheid nach § 35 b GewStG sei für den streitigen Erhebungszeitraum auch in Ansehung des geänderten Körperschaftsteuerbescheides vom 20. August 1960 kein Raum gewesen, da die Stpfl. gegen den berichtigten Gewerbesteuermeßbescheid vom 10. November 1959 gesondert Einspruch eingelegt habe, über den im Wege eines Einspruchsbescheides zu befinden gewesen sei (BFH-Urteil II 258/59 vom 29. November 1961, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 98). Im übrigen habe das FA den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag mit 9.544 DM nach dem Bescheid vom 18. Januar 1958 festgesetzt, dem ein noch niedrigerer Gewinn aus Gewerbebetrieb als dem geänderten Körperschaftsteuerbescheid vom 20. August 1960 zugrunde gelegen habe.
Hiergegen richtet sich die als Revision zu behandelnde Rb. der Stpfl., zu deren Begründung sie folgendes vortragen läßt:
Als Verfahrensmangel werde gerügt, daß das FG sich nicht mit den vorgetragenen und durch Bezugnahmen auf das Schrifttum im einzelnen belegten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zur Auslegung der §§ 35 b GewStG und 234 AO a. F. auseinandergesetzt habe. Das zu § 234 AO a. F. entwickelte "traditionelle Eingriffs- und Schrankendenken" müsse durch ein neues "grundrechtskonformes Gestaltungsdenken" ersetzt werden, dem § 35 b GewStG von seinem Wortlaut her entspreche. Mit der Durchbrechung des Prinzips der Rechtssicherheit, wie sie durch den - von der Gestaltungsanordnung dieser Vorschrift her bei jeder änderung des Gewerbegewinns notwendigen - Erlaß eines Bescheides nach § 35 b GewStG dokumentiert werde, sei eine Situation entstanden, in der von einem Widerstreit der Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit nicht mehr gesprochen werden könne. Demgemäß könne auch § 234 AO a. F. keine Geltung mehr beanspruchen. Es sei lediglich noch ein der Grundkonzeption des Grundgesetzes (GG) entsprechendes Verwaltungshandeln möglich, das ohne die Berufung auf § 234 AO a. F. den Ersatzbescheid auf die Elemente des geänderten Körperschaftsteuerbescheids (den neuen Gewerbegewinn) aufzubauen habe.
Sachlich-rechtlich sei der angefochtene Bescheid vom 10. November 1959 sowohl auf § 222 AO als auch auf § 35 b GewStG gestützt worden. Auf Grund einer weiteren änderung des Körperschaftsteuerbescheids für 1955 bezüglich der Höhe des Gewerbegewinns hätte der Bescheid vom 10. November 1959 einer Berichtigung nach § 35 b GewStG bedurft. Diese sei unterblieben.
Dessenungeachtet habe die Berücksichtigung von Hinzurechnungen auf Grund der inzwischen für nichtig erklärten Vorschrift des § 8 Ziff. 6 GewStG zu unterbleiben. § 234 AO a. F. stehe dem nicht entgegen. Dieser begründe zwar eine selbständige Anfechtbarkeit des änderungsbescheides, soweit die änderung reiche; er schließe aber die änderung des nichtgeänderten Teiles nicht aus, das er keinen Zusatz derart enthalte, daß der Bescheid im übrigen nicht mehr anfechtbar und änderbar sei.
Der Auffassung des BFH, daß § 234 AO a. F. auf dem gleichen Rechtsgedanken wie § 79 Abs. 2 BVerfGG beruhe, könne nicht gefolgt werden. Die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG habe gegenüber der des § 234 AO a. F. den Charakter einer lex specialis. Insbesondere sei der Berichtigungsbescheid noch anfechtbar im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG, wenn diese Anfechtbarkeit auch nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, § 234 AO a. F. als eine nur eingeschränkte Anfechtbarkeit verstanden werde. Entgegen der im Urteil des BFH V 244/61 S vom 22. November 1962 (BFH 76, 87, BStBl III 1963, 31) zum Ausdruck kommenden Auffassung hätte der "als Ganzes" noch anfechtbare Bescheid vom 10. November 1959 die Auswirkungen eines verfassungswidrigen Gesetzes bei Anwendung des richtigen Rechts nicht mehr umfassen dürfen. Die Anwendung des § 234 AO a. F. unter Berufung auf das Prinzip der Rechtssicherheit verkenne die Reichweite dieses Prinzips. Es habe nämlich durch das Institut der Berichtigungsveranlagung eine grundsätzliche Inhaltsänderung erfahren insoweit, als dieses Institut das Prinzip der Rechtssicherheit zugunsten des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit durchbreche. Sei eine solche Durchbrechung im Hinblick auf neue Tatsachen möglich, so müsse sie erst recht möglich sein, wenn eine steuerrechtliche Norm wegen Verstoßes gegen das GG von Anfang an für verfassungswidrig erklärt worden sei, ein auf ihrer Grundlage geltend gemachter Steueranspruch somit nie bestanden habe.
Daneben macht die Stpfl. Rechtsausführungen zur Anwendbarkeit des § 234 AO a. F. im Rahmen des § 35 b GewStG.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Gemäß §§ 249 Abs. 4 Satz 3, 270 AO a. F., 65 Abs. 1 Satz 2 der FGO sollen bei der Einlegung von Rechtsbehelfen (Rechtsmitteln alter Art, Klagen) die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben werden. Eine rechtliche Einordnung der zur Begründung dienenden Tatsachen ist nicht erforderlich. Selbst für das Revisionsverfahren, für das in § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO eine Begründung zwingend vorgeschrieben ist, genügt Angabe der verletzten Rechtsnorm. Besonderer Rechtsausführungen bedarf es nicht. Das Gesetz ist dem Gericht bekannt ("iura novit curia"). Es kann deshalb nicht als ein Verfahrensmangel angesehen werden, wenn das Prozeßgericht nicht zu allen Rechtsausführungen des Steuerpflichtigen Stellung nimmt, zumal wenn sie nach seinem Dafürhalten neben der Sache liegen.
Da das FG zutreffend davon ausging, daß der angefochtene Bescheid vom 10. November 1959 sich auf § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, nicht auf § 35 b GewStG gründe, brauchte es auf die Rechtsausführungen der Stpfl. über den Charakter der Vorschriften der §§ 218 Abs. 4 AO, 35 b GewStG und ihr Verhältnis zu § 234 AO a. F. nicht weiter einzugehen.
Wie auch die Stpfl. ausweislich der Akten nicht verkannt hat, erlaubt das Gesetz in Anbetracht der Vorschriften der §§ 222 AO und 35 b GewStG nicht die kumulative Begründung eines Berichtigungsbescheids aus beiden Vorschriften, da beide unterschiedliche Voraussetzungen für die Berichtigung eines bereits unanfechtbar gewordenen Bescheides aufstellen. Soweit der Bescheid vom 10. November 1959 sich infolge mangelhafter Ausfüllung des benutzten Vordrucks zur Begründung der Berichtigung auf § 222 AO und § 35 b GewStG zu berufen scheint, hat das FA spätestens in seiner Einspruchsentscheidung vom 13. August 1962 diesen Fehler eindeutig richtiggestellt. Der Bescheid vom 10. November 1959 beruht allein auf § 222 AO.
Bereits im Schreiben vom 5. Juli 1962 hat die Stpfl., die ebenfalls von dieser Auffassung ausging, deshalb versucht, ihren Einspruch gegen den gemäß § 222 AO berichtigten Bescheid vom 10. November 1059 damit zu begründen, daß der Erlaß des geänderten Körperschaftsteuerbescheids vom 20. August 1960 notwendig eine Berichtigung des im Streit befangenen Gewerbesteuermeßbescheides vom 10. November 1959 gemäß § 35 b GewStG nach sich ziehe; § 35 b GewStG lasse aber für die Anwendung des § 234 AO a. F. keinen Raum.
Wie der BFH in den von der Stpfl. angeführten Entscheidungen (so insbesondere in den Urteilen V 244/61 S, a. a. O.; I 286/62 U, a. a. O., und I 200/64 vom 16. Dezember 1964, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1965, 286, letzteres zur Frage der Anwendbarkeit des § 234 AO a. F. auf einen änderungsbescheid nach § 35 b GewStG) dargelegt hat, enthält § 222 AO in Absatz 1 Ziff. 1 und 2 eine "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG, die die Anfechtung eines bereits unanfechtbar gewordenen, auf einer für nichtig erklärten Rechtsnorm beruhenden Bescheides zuläßt, wenn auch in Ansehung der Ziff. 1 a. a. O. eingeschränkt durch die Vorschrift des § 234 AO a. F. Weiter als damit kraft gesetzlicher Vorschrift die Anfechtbarkeit reicht, kann auch die Möglichkeit, dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zum Zuge zu verhelfen, nicht reichen. Es muß vielmehr bei der formellen Unanfechtbarkeit mit ihren materiell- rechtlichen Folgen verbleiben. Entgegen der Auffassung der Stpfl. wird damit indes § 234 AO a. F. nicht zu einer materiell- rechtlichen Norm, die den Anspruch des Steuergläubigers auf einen ihm nicht zustehenden Steuerbetrag begründe. Der Anspruch beruht vielmehr trotz der inzwischen erfolgten Klarstellung ihrer Nichtigkeit nach wie vor auf der Vorschrift des § 8 Ziff. 6 GewStG a. F.; der ursprüngliche Bescheid bleibt von der Feststellung der Nichtigkeit der Vorschrift unberührt, soweit die Steuer (qua Meßbetrag) der Höhe nach gegen die Stpfl. unanfechtbar festgesetzt wurde.
Der Umstand, daß das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen einer Durchbrechung der materiellen Beständigkeit von Steuerbescheiden Raum gibt und somit unter bestimmten Voraussetzungen dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Vorrang einräumt, führt indes zu keiner Inhaltsänderung des letztgenannten Grundsatzes, die es einem Gericht erlauben würde, losgelöst von den gesetzlich festumrissenen Voraussetzungen den Grundsatz der Rechtssicherheit dort hintanzustellen, wo seiner Ansicht nach der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit den Vorzug verdiene. Die von der Stpfl. aus § 222 AO gezogene Schlußfolgerung (daß das, was für neue Tatsachen möglich sei, erst recht möglich sein müsse, wenn eine steuerrechtliche Norm wegen Verstoßes gegen das GG von Anfang an für verfassungswidrig erklärt worden sei) geht daher fehl.
Fundstellen
Haufe-Index 412396 |
BStBl III 1967, 216 |
BFHE 1967, 465 |
BFHE 87, 465 |