Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, Auslegung des Kindergeldbescheids, Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung
Leitsatz (NV)
1. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat.
2. Der Regelungsgehalt eines Bescheids ist erforderlichenfalls durch Auslegung entsprechend der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Entscheidend ist danach der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Steuerpflichtige nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.
3. Ein Steuerbescheid ist nur dann wirksam unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt, wenn die Kennzeichnung des Vorbehalts für den Steuerpflichtigen eindeutig erkennbar ist.
Normenkette
AO § 164 Abs. 1; BGB §§ 133, 157; EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat eine im Jahr 1983 geborene Tochter, die sich im Jahr 2004 in Ausbildung befand.
Mit Schreiben vom 28. März 2004 bat die Klägerin die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse), die Kindergeldzahlung für ihre Tochter ab April 2004 auszusetzen, weil ihre Tochter voraussichtlich ein höheres Einkommen als zulässig haben werde. Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 31. März 2004 die Kindergeldfestsetzung zunächst ab April 2004 auf, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung --EStG--) überschritten.
Mit Bescheid vom 29. April 2004 hob die Familienkasse auch die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 auf und forderte das für die Monate Januar bis März gezahlte Kindergeld von der Klägerin zurück. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt dieser Bescheid folgenden "wichtigen Hinweis": "Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen." Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse zurück. Die Klägerin erhob keine Klage.
Mit Schreiben vom 4. September 2005 legte die Klägerin gegen den Bescheid vom 29. April 2004 erneut Einspruch ein und bat unter Vorlage einer Kopie der Lohnsteuerbescheinigungen für das Jahr 2004 um Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften der Tochter abzuziehen, so dass deren Einkünfte den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 nicht überschritten.
Die Familienkasse wertete den Einspruch der Klägerin zugleich als erneuten Antrag auf Kindergeld und setzte mit Bescheid vom 7. Oktober 2005 Kindergeld ab Juni 2004 fest. Eine Festsetzung für die Monate Januar bis Mai 2004 lehnte die Familienkasse ab. Kindergeld könne erst vom Folgemonat nach Bekanntgabe des bestandskräftigen Bescheids vom 29. April 2004 an festgesetzt werden. Die Voraussetzungen für eine Änderung des Bescheids nach §§ 172 ff. der Abgabenordnung (AO) und des § 70 Abs. 2 bis 4 EStG lägen nicht vor. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.
Unter Änderung der Bescheide vom 31. März 2004 und vom 29. April 2004 verpflichtete das Finanzgericht (FG) die Familienkasse, der Klägerin für den Zeitraum Januar bis Mai 2004 Kindergeld zu gewähren. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge der Tochter überschritten im Jahr 2004 nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht den Jahresgrenzbetrag von 7 680 €. Die Bescheide vom 31. März und vom 29. April 2004 seien deshalb nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren.
Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Mai 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und der Bescheid nicht nach § 70 Abs. 4 EStG oder nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern ist.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2004 hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 29. April 2004 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da die Klägerin gegen diesen Bescheid nicht innerhalb der Monatsfrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO Anfechtungsklage erhoben hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 29. April 2004 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Eine Korrektur des Bescheids vom 29. April 2004 nach § 70 Abs. 4 EStG ist nicht möglich, weil der Jahresgrenzbetrag im Streitfall allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (vgl. Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
4. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann der Bescheid auch nicht nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert werden. Der "wichtige Hinweis" im Bescheid vom 29. April 2004 ist nicht als Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) zu verstehen.
Der Regelungsgehalt eines Bescheids ist erforderlichenfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln. Für die Auslegung sind die §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend anzuwenden. Entscheidend ist danach der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Steuerpflichtige nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VII R 96/95, BFHE 182, 282, BStBl II 1997, 339, m.w.N.). Der BFH ist auch als Revisionsgericht zur Auslegung befugt, wenn die tatsächlichen Feststellungen des FG ausreichen (BFH-Urteil vom 27. November 1996 X R 20/95, BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791, m.w.N.). Ein Steuerbescheid ist nur dann wirksam unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt, wenn die Kennzeichnung des Vorbehalts für den Steuerpflichtigen eindeutig erkennbar ist (BFH-Urteil vom 2. Dezember 1999 V R 19/99, BFHE 190, 288, BStBl II 2000, 284, m.w.N.).
Gegen eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung spricht im Streitfall bereits der Umstand, dass sich der "wichtige Hinweis" lediglich auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes bezieht. Ein Vorbehaltsvermerk erfasst jedoch stets den gesamten Bescheid (vgl. BFH-Beschluss vom 23. März 1999 III B 107/98, BFH/NV 1999, 1307, m.w.N.). Der "wichtige Hinweis" sollte vielmehr nach seinem objektiven Erklärungsgehalt --wie die Bezeichnung als "Hinweis" verdeutlicht-- lediglich auf die gesetzliche Korrekturmöglichkeit nach § 70 Abs. 4 EStG hinweisen.
Im Übrigen kann der von § 70 Abs. 4 EStG ("…, wenn nachträglich bekannt wird, …") abweichenden Formulierung des "wichtigen Hinweises" ("Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, …") nicht entnommen werden, dass die Familienkasse --abweichend von § 70 Abs. 4 EStG-- auch dann (nachträglich) Kindergeld gewähren würde, wenn sich lediglich die rechtliche Beurteilung der Einkünfte und Bezüge ändert. Für einen objektiven Erklärungsempfänger in der Lage der Klägerin ist erkennbar, dass sich der "wichtige Hinweis" nur auf tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge bezieht, da der Bescheid vom 29. April 2004 während des laufenden Kalenderjahres ergangen ist, die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2004 aber erst nach dessen Ablauf feststeht.
Der Bescheid vom 29. April 2004 steht ferner nicht --wie die Klägerin meint-- nach § 164 Abs. 1 Satz 2 AO kraft Gesetzes unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. § 164 Abs. 1 Satz 2 AO gilt nur für Vorauszahlungsbescheide. Bei der (positiven) Festsetzung von Kindergeld wird jedoch eine Steuervergütung (vgl. § 31 Satz 3 EStG) und nicht die Vorauszahlung einer Steuer festgesetzt. Eine analoge Anwendung des § 164 Abs. 1 Satz 2 AO auf Kindergeldbescheide ist gleichfalls nicht möglich, weil es bereits an der für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke fehlt (vgl. z.B. Senatsurteil vom 2. Juni 2005 III R 15/04, BFHE 210, 141, BStBl II 2005, 828, unter B. II. 2. a).
Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG eine spezielle Korrekturvorschrift geschaffen, welche die Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung ermöglicht, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten oder nicht überschreiten. § 70 Abs. 4 EStG regelt damit abschließend die Fälle, in denen sich die Prognoseentscheidung der Familienkasse hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes nach Ablauf des Jahres als unzutreffend erweist (so auch Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 18.1). Eine analoge Anwendung des § 164 Abs. 1 Satz 2 AO würde im Streitfall die Entscheidung des Gesetzgebers unterlaufen, dass § 70 Abs. 4 EStG gerade keine rückwirkende Korrektur von materiellen Fehlern --wie im Streitfall der unterlassenen Minderung der Einkünfte um die gezahlten Sozialversicherungsbeiträge-- ermöglichen soll (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338).
Im Übrigen ist kein Wertungswiderspruch darin zu sehen, dass der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ggf. hinsichtlich der Kinderfreibeträge (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) in den Fällen umgesetzt werden kann, in denen der Kindergeldanspruch zwar bestandskräftig abgelehnt worden ist, der Einkommensteuerbescheid für das fragliche Kalenderjahr aber noch nicht bestandskräftig ist (vgl. hierzu Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 18. November 2005, BStBl I 2005, 1027). Dies ist lediglich die verfahrensrechtliche Folge davon, dass über die Gewährung der Kinderfreibeträge (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG) nicht durch Kindergeldbescheid, sondern im Rahmen der Festsetzung der Einkommensteuer entschieden wird.
5. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist schon deshalb nicht zulässig, weil die Familienkasse auch bei ursprünglicher Kenntnis der von der Tochter gezahlten gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht anders entschieden hätte. Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 29. April 2004 minderten die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sowohl nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) als auch nach Abschn. 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG), Stand August 2004 (BStBl I 2004, 743) nicht die Einkünfte des Kindes (vgl. Senatsurteil vom 19. Oktober 2006 III R 31/06, BFH/NV 2007, 392).
Für die Beurteilung der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache ist allein maßgebend, ob die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel anders entschieden hätte oder nicht (BFH-Urteil vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Unerheblich ist deshalb der Vortrag der Klägerin, das Einspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 29. April 2004 hätte gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO zwingend geruht, wären der Familienkasse die Sozialversicherungsbeiträge und der Klägerin die Relevanz dieser neuen Tatsache bekannt gewesen. Unabhängig davon hätte ein Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO vorausgesetzt, dass die Klägerin ihren Einspruch auf das beim BVerfG anhängige Verfahren in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 gestützt hätte.
Fundstellen
Haufe-Index 1766256 |
BFH/NV 2007, 1461 |