Entscheidungsstichwort (Thema)
Blindenprivileg und Rechtsmißbrauch
Leitsatz (NV)
Es ist nicht rechtsmißbräuchlich, wenn Blinde in Ausübung eigener unternehmerischer Interessen in die Leistungskette eingeschaltet werden; dabei kommt es nicht darauf an, daß aus der Sicht des Hintermanns, der die Unternehmensgrundlagen und die Geldmittel zur Verfügung stellt, die kommerzielle Ausnutzung des Blindenprivilegs das ausschlaggebende Motiv ist. Die Grenze zum Rechtsmißbrauch wird erst überschritten, wenn dem Blinden eine eigene unternehmerisch-wirtschaftliche Betätigung verwehrt ist.
Normenkette
UStG 1967 § 4 Nr. 19 Buchst. a; StAnpG § 6; AO 1977 § 42
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Mineralölunternehmer. Ihm gehören zahlreiche Tankstellen. Er hatte im Februar 1969 sieben Tankstellen an den Blinden B verpachtet, der über diese und andere von Tochtergesellschaften des Mineralölunternehmers K gepachtete Tankstellen Treibstoffe steuerfrei nach § 4 Nr. 19 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes 1967 (UStG) absetzte. B kündigte die Pachtverhältnisse, nachdem die Finanzverwaltung die Auffassung vertreten hatte, daß in die nach § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG unschädliche Zahl von zwei Arbeitnehmern auch die Tankstellenverwalter einzurechnen seien (Erlaß des Bundesministers der Finanzen - BMF - vom 5. Februar 1969, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1969, 78). Die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung der Vorgänge aus der Geschäftsbeziehung zu B im Februar 1969 ist nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits.
Der Kläger betrieb die Tankstellen daraufhin vorübergehend selbst. Nach und nach verpachtete er jedoch Tankstellen wieder an Blinde - jedoch nicht an B -. Sieben Blinde pachteten durchschnittlich je zwei Tankstellen. Sie bezogen Mineralöle ausschließlich von B. Für ihre Umsätze nahmen sie Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG in Anspruch. Die Pachtverhältnisse wurden zum 31. August 1970 vorzeitig beendet, nachdem § 1a der Dritten Verordnung zur Durchführung des Umsatzsteuergesetzes (Mehrwertsteuer) - 3. UStDV - die Steuerbefreiung für Blinde, soweit sie Mineralölsteuer zu entrichten hatten, eingeengt hatte und B daraufhin nicht mehr preisgünstig liefern konnte.
Der Beklagte und Revisionbeklagte (das Finanzamt - FA -) rechnete nach einer Steuerfahndungsprüfung die Umsätze der sieben Blinden dem Kläger zu; die Verpachtungsumsätze an die Blinden wurden als Innenumsätze außer Ansatz gelassen. Die Einsprüche blieben im Streitpunkt erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit der Begründung ab, die Einschaltung der blinden Tankstellenpächter sei ein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten i.S. des § 6 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG). Für die Einschaltung der Blinden habe es außer der Steuerersparnis keinen vernünftigen wirtschaftlichen Grund gegeben.
Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG und des § 6 Abs. 1 StAnpG.
Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Steuerfreiheit gemäß § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG zu gewähren.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Der Senat versteht das Revisionsbegehren des Klägers dahin, daß die an den verpachteten Tankstellen getätigten Umsätze nicht ihm, sondern den blinden Pächtern unter Gewährung der Steuerfreiheit des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG zugerechnet werden sollen. Der Kläger selbst ist nicht blind und kann daher die Steuerfreiheit nicht beanspruchen.
Das FG hat § 6 StAnpG unrichtig angewandt. Nach dieser Vorschrift (s. auch § 42 der Abgabenordnung - AO 1977 -) kann die Steuerpflicht durch Mißbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts nicht umgangen oder gemindert werden (§ 6 Abs. 1 StAnpG); die Steuern sind in diesem Fall so zu erheben, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen, Tatsachen und Verhältnissen angemessenen rechtlichen Gestaltung zu erheben wären (§ 6 Abs. 2 StAnpG). Nach Auffassung von FG und FA wäre es im Streitfall angemessen gewesen, die Tankstellenumsätze dem Kläger wie vor Abschluß der Pachtverträge zuzurechnen und die Pachtverträge unbeachtet zu lassen. Im Zusammenhang damit entfalle die Steuerbefreiung, die voraussetze, daß die Tankstellenumsätze in der Person der blinden Pächter anfielen.
Das FG ist zu dieser Annahme auch durch die Vorstellung geleitet worden, daß der Abschluß der Pachtverträge mit den sieben Blinden und die vorzeitige Aufhebung der Verträge zum 31. August 1970 ungewöhnlich gewesen wären; das Ungewöhnliche werde noch dadurch unterstrichen, daß der Kläger bereits einmal im Februar 1969 mit dem Blinden B in gleicher Weise in Vertragsbeziehungen getreten sei. Es kann indessen bei der damaligen Lage des Tankstellengeschäfts nicht als ungewöhnlich angesehen werden, daß Blinde eingeschaltet wurden und die Rechtsbeziehungen zu ihnen nach den unterschiedlichen Stellungnahmen der obersten Finanzbehörden (BMF-Erlaß in UR 1969, 78), des Verordnungsgebers (§ 1a 3. UStDV) und der Rechtsprechung (s. unten) zum Blindenprivileg ausgerichtet wurden. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat zu § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG 1967 in der für die Streitjahre maßgeblichen Fassung dargelegt, daß der Gesetzgeber die aus sozialen Gründen eingeführte Steuerbefreiungsvorschrift des früheren Rechts unverändert in das Mehrwertsteuersystem übernommen hat, obwohl erkennbar war, daß persönliche Steuerbefreiungen in diesem System zu Verwerfungen führen konnten; insbesondere § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG habe zu einer kommerziellen Ausnutzung geradezu herausgefordert (Urteile vom 4. Februar 1971 V R 86/70, BFHE 101, 562, BStBl II 1971, 430; vom 27. April 1972 V R 142/71, BFHE 105, 428, BStBl II 1972, 658).
Hiervon ausgehend, war es nicht von vornherein rechtsmißbräuchlich, wenn Blinde ihre körperliche Behinderung im Rahmen des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation einsetzten und dabei aus dem Bereich heraustraten, den sich der Gesetzgeber als umsatzsteuerrechtliche Blindenförderung vorgestellt hatte. Hierzu gehört die Möglichkeit, mit Dritten zusammen zu wirken. Stellen die Dritten - wie hier der Kläger - eine eingerichtete Betriebsorganisation und das Kapital zur Verfügung, bestehen aus der Sicht des § 6 StAnpG keine Bedenken, die Dritten mittelbar an der Steuerfreiheit der Blinden teilhaben zu lassen. Der vom Sachverständigen auf Veranlassung des FG angestellte Vergleich mit einer Tankstellenverpachtung an Nichtblinde ist, wie der Kläger zu Recht geltend macht, unerheblich. Blinde, die wie die Tankstellenpächter des Streitfalls ohne Betriebsorganisation und Kapital in das Tankstellengeschäft eintreten wollen, können, kaufmännisch gedacht, nicht erwarten, daß ihnen allein der Steuervorteil des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG verbleibt. Der Steuervorteil wird ohnehin im wesentlichen dadurch aufgezehrt, daß er den Endverbrauchern in Form niedrigerer Preise weitergegeben wird. Soweit er erhalten bleibt, führt er, wenn die Kalkulation aufgeht, zu einem höheren Ertrag infolge eines größeren Mengenabsatzes. Es erscheint nicht unangemessen, daß ein Teil des Mehrertrags dem organisations- und kapitalgebenden Hintermann zukommt, so dem Kläger in der Form eines angehobenen Pachtzinses.
Die Grenze zum Rechtsmißbrauch wird dann überschritten, wenn Gestaltungen gewählt werden, die dem Blinden die in § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG vorausgesetzte unternehmerisch-wirtschaftliche Betätigung verwehren. Der Blinde im Sinne des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG muß eigene geschäftliche Initiative entwickeln und das geschäftliche Risiko tragen. Er muß, wie der BFH für die rechtlich insoweit vergleichbaren Fälle der Zwischenvermietung entschieden hat (Urteil vom 15. Dezember 1983 V R 169/75, BFHE 140, 354, 361, BStBl II 1984, 388), in Ausübung eigener unternehmerischer Interessen in die Leistungskette eingeschaltet sein.
Die Vorentscheidung, die in teilweiser Verkennung dieser Rechtsgrundsätze den Anwendungsbereich des § 6 StAnpG zu weit gezogen hat, ist aufzuheben. Es kommt nicht darauf an, ob die Steuerbefreiung aus der Sicht des Klägers der einzige wirtschaftliche Grund für die Tankstellenverpachtung an Blinde war. Auch dies unterstellt, ist § 6 StAnpG nur anwendbar, wenn die blinden Pächter zusätzlich von eigener geschäftlicher Initiative und dem Geschäftsrisiko (einschließlich von Gewinnerwartungen) ausgeschlossen waren.
Der Senat kann nicht durcherkennen. Die bisherigen Feststellungen tragen die Annahme eines Rechtsmißbrauchs nicht. Das FG hat die Blinden als Pächter für ,,total ungeeignet" gehalten, weil sie im Mineralölgeschäft unerfahren und wegen ihrer Behinderung auf die Tankstellenverwalter angewiesen gewesen seien. Damit ist nicht ausreichend belegt, daß die Blinden keine geschäftliche Initiative entwickeln konnten. Wenn sie auch unerfahren gewesen sein mögen, so erscheint das Tankstellengeschäft doch nicht als so schwierig, daß es nicht auch ein durchschnittlich intelligenter Blinder beherrschen könnte. Zwar können die Blinden in der Regel nicht selbst die Tankstellen bedienen. Dies war jedoch auch nicht vorgesehen. Sollte die Arbeitnehmerzahl i.S. des § 4 Nr. 19 Buchst. a UStG niedrig gehalten werden, mußten die bisherigen Tankstellenverwalter auf ihren Posten als selbständige Agenten belassen werden. Die Tätigkeit eines Tankstellenpächters, der mit einem Verwalter arbeitet, besteht im wesentlichen im Einkauf der Treibstoffe, in der Überwachung des Verwalters, in der Abrechnung mit diesem und in der Kontrolle der Funktionsfähigkeit der Tankstelle. Die Fähigkeit zu derartigen Tätigkeiten kann Blinden nicht pauschal abgesprochen werden. Hinsichtlich des Geschäftsrisikos fehlen Feststellungen des FG zur Gewinnsituation und den Gewinnerwartungen der Blinden. Die Auskunft des Blindenverbands, daß den Blinden lediglich monatliche Festbeträge von 500 bis 1 000 DM verblieben seien, hat sich das FG nicht zu eigen gemacht; gleiches gilt für die Feststellungen der Steuerfahndung und die Erwägungen des Sachverständigen. Das FG hat allerdings Feststellungen getroffen, die für den Ausschluß oder doch die Minderung des Verlustrisikos sprechen. Die Blinden brauchten die vereinbarten Kautionen nicht einzuzahlen, ihnen wurden zum Jahresende Gutschriften in Anpassung an ihre Entnahmen erteilt; andererseits war die Auflösung des Pachtvertrags mit dem Blinden C zum 31. August 1970 von einer Abfindungszahlung des Blinden abhängig gemacht worden; der Kläger übernahm die Bezahlung von Warenrechnungen für sechs Blinde, die infolge von Verwalterveruntreuungen offengeblieben waren. Das FG wird indessen dazu Stellung nehmen müssen, daß einige dieser Umstände erst im Zusammenhang oder erhebliche Zeit nach Auflösung der Pachtverhältnisse eingetreten sind. Rückschlüsse aus diesen Umständen auf eine Risikofreistellung der Blinden während der Laufzeit der Verträge sind nicht ohne weiteres möglich. Schließlich ist das FG der Erwägung des Sachverständigen gefolgt, daß die tatsächlich gezahlten Pachten so hoch bemessen gewesen seien, daß die Pächter kein Risiko für Schwund und Forderungsausfall hätten tragen können. Diese Erwägung ist ohne Darstellung der Gewinnsituation nicht nachvollziehbar.
Die Sache geht an das FG zurück, das unter Berücksichtigung der rechtlichen Ausführungen des Senats erneut prüfen wird, ob § 6 StAnpG eingreift. Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Kläger und den blinden Pächtern sind erforderlichenfalls vorweg daraufhin zu untersuchen, ob schon zivilrechtlich keine Pachtverhältnisse vorliegen. Der erkennende Senat hat in dem Urteil vom 15. Juli 1987 X R 19/80 (zur Veröffentlichung bestimmt) bei vergleichbarem Sachverhalt die Rechtsbeziehungen des K zu blinden Tankstellenpächtern dahin gewürdigt, daß K gestattet worden war, unter dem Namen der Blinden aufzutreten. Allerdings waren in jenem Fall nach den Feststellungen des FG zusätzlich zu den Pachtverträgen Risikoausschlußverträge abgeschlossen worden. Das FG betont für den Streitfall, daß hier keine entsprechenden Verträge vorgelegt werden konnten. Dieser Annahme steht entgegen, daß sich in den Betriebsprüfungs-Arbeitsunterlagen für B ein Bestätigungsschreiben einer dem Kläger nahestehenden GmbH an den blinden Pächter D befindet, das genauso formuliert ist wie das an S gerichtete Bestätigungsschreiben im Falle X R 19/80. Danach könnte sich auch im Streitfall, in dem das FG zahlreiche für einen Pachtvertrag ungewöhnliche Umstände festgestellt hat, die Frage stellen, ob schon zivilrechtlich etwas anderes als eine Pacht vereinbart wurde - wenn nicht, wie im Falle X R 19/80, eine bloße Namensgestaltung, so doch eine Geschäftsbesorgung der Blinden mit den gleichen Folgen (vgl. für die Zwischenvermietung BFH-Urteil vom 22. Dezember 1983 V R 35/73, BFHE 140, 379, BStBl II 1984, 400).
Sollte das FG zu dem Ergebnis kommen, daß die Tankstellenumsätze den blinden Tankstellenpächtern zuzurechnen sind, entfällt ein Vorsteuerabzug auf die Mineralölbezüge von B schon deswegen, weil die Bezüge den Pächtern zuzurechnen sind. Sollten die Tankstellenumsätze hingegen dem Kläger zuzurechnen sein, steht ihm ebenfalls kein Vorsteuerabzug zu. Zwar sind, wie das FG zutreffend dargelegt hat, die Mineralölumsätze des B dem K zuzurechnen und von diesem zu versteuern. Auch würde es sich um Lieferungen handeln, die für das Unternehmen des Klägers ausgeführt worden sind. Der Vorsteuerabzug ist jedoch weiterhin davon abhängig, daß die Steuern für die Lieferungen in Rechnungen i.S. des § 14 UStG gesondert ausgewiesen sind. Solche Rechnungen hat der Kläger bisher nicht vorlegen können. Der Mangel der fehlenden Rechnungen kann nicht durch Schätzung behoben werden (BFH-Urteil vom 12. Juni 1986 V R 75/78, BFHE 146, 569, BStBl II 1986, 721).
Fundstellen