Leitsatz (amtlich)
Der von dem Senat in ständiger Rechtsprechung (z. B. Urteile VII 104/60 U vom 7. Dezember 1960, BFH 72, 225, BStBl III 1961, 84, und VII 245/63 U vom 29. September 1964, BFH 80, 492, BStBl III 1964, 651) vertretene Grundsatz, daß die Berichtigung eines unanfechtbar gewordenen Zollbescheides nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht aus Gründen verlangt werden kann, die die in einem Rechtsbehelfsverfahren nach §§ 228 ff. AO hätten geltend gemacht werden können, schließt nicht aus, daß in besonders gelagerten Ausnahmefällen die Ablehnung eines Berichtigungsantrages einen Ermessensfehlgebrauch darstellen kann.
Normenkette
AO §§ 94, § 228 ff.
Tatbestand
Die Klägerin führte in der Zeit zwischen dem 16. Dezember 1962 und dem 26. Juni 1963 in acht Sendungen amerikanische Ölöfen (Großraum-Ölheizer) sowie die dazugehörigen Ersatzteile ein. Das Zollamt (ZA) fertigte die Ölöfen auf Grund eines von der Zoll-Lehranstalt (ZLA) der Oberfinanzdirektion (OFD) am 17. Dezember 1962 erstatteten Tarifierungsgutachtens bei allen acht Sendungen nach Tarifnr. 73.40 des Deutschen Zolltarifs (DZT) 1962 – Außenzollsatz 12,8 %, Ausgleichsteuersatz 6 % – ab und erhob insgesamt DM. Eingangsabgaben (Zoll und Ausgleichsteuer).
Die Klägerin, die bereits eine Reihe von Steuerbescheiden, die frühere Einfuhren gleicher Waren betrafen, wegen ihrer Meinung nach fehlerhafter Tarifierung angefochten hatte, wandte sich gegen die Verzollung der Ölöfen nach Tarifnr. 73.40 DZT 1962 und machte geltend, die Ölöfen fielen entgegen dem Tarifierungsgutachten der ZLA unter Tarifnr. 73.36 (Außenzollsatz 9,4 %, Ausgleichsteuersatz 6 %). Mit Schreiben vom 22. Juli 1963 beantragte sie aus diesem Grund die Berichtigung von fünf, mit Schreiben vom 24. September 1963, die Berichtigung sämtlicher acht Zollbescheide und Erstattung des sich bei Anwendung eines Zollsatzes von 9,4 % ergebenden Unterschiedsbetrages. In dem letztgenannten Schreiben berief sich die Klägerin auf eine von ihr am 19. November 1962 beantragte und am 6. September 1963 von der OFD erteilte verbindliche Zolltarifauskunft. In dieser hatte die OFD festgestellt, die Ölöfen seien der Tarifnr. 73.36 zuzuweisen.
Das ZA berichtigte auf Grund der verbindlichen Zolltarifauskunft der OFD einen am 14. Dezember 1962 erlassenen und von der Klägerin angefochtenen Steueränderungsbescheid betreffend sieben Einfuhren von Ölöfen in der Zeit vom 20. Januar 1961 bis 30. Dezember 1961 sowie weitere vier ebenfalls angefochtene Steuerbescheide betreffend vier Einfuhren in der Zeit vom 6. November 1962 bis 11. Dezember 1962. Die begehrte Berichtigung der hier streitigen acht Zollbescheide betreffend die Einfuhren vom 16. Dezember 1962 bis 27. Juni 1963 lehnte das Hauptzollamt (HZA) hingegen ab. Diese Bescheide seien mangels rechtzeitiger Einlegung eines Rechtsbehelfs unanfechtbar geworden und könnten nachträglich nicht mehr im Wege einer Berichtigung nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden. Aus dem gleichen Grunde könnten auch die insoweit zuviel gezahlten Eingangsabgaben (DM) nicht erstattet werden.
Einspruch und Berufung hatten keinen Erfolg.
In der als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde rügt die Klägerin wesentliche Verfahrensmängel und unrichtige Anwendung des geltenden Rechts. Die Tarifierung der Ölöfen nach Tarifnr. 73.40 sei auf einen offensichtlichen Fehler der Zollverwaltung zurückzuführen gewesen, der bei sorgfältiger Beachtung der Erläuterungen zur Tarifnr. 73.36 nicht hätte vorkommen dürfen. Sie – die Klägerin – habe sofort nach Beginn der Fehltarifierungen, nämlich – wie unstreitig – bereits am 19. November 1962, bei der OFD die verbindliche Zolltarifauskunft beantragt mit dem Ziele, die richtige Verzollung der Ware für sämtliche Einfuhren, nicht nur einen Teil davon, zu erreichen. Dies sei auch der Zweck einer Besprechung gewesen, die auf ihr Betreiben am 9. Januar 1963 beim HZA wegen der Tarifierung stattgefunden habe, was die Vorinstanz entgegen dem Vorbringen in der Berufung verkannt habe. Daß sich die Erstattung der verbindlichen Zolltarifauskunft trotz ihres Drängens bei der OFD bis September 1963 hingezögert habe, und in der Zwischenzeit bei sämtlichen Einfuhren die Öfen falsch tarifiert worden seien, sei nicht von ihr zu vertreten. Ihr Vorbringen in der Klage, daß sich die Besprechung vom 9. Januar 1963 nicht nur auf die damals bereits angefochtenen, sondern darüber hinaus auf sämtliche Einfuhren bis zum Erlaß der verbindlichen Zolltarifauskunft bezogen habe, sei vom Finanzgericht (FG) nicht zutreffend gewürdigt worden, ebenso das Schreiben des HZA vom 14. Januar 1963, in dem ihr – wie unstreitig – mitgeteilt worden sei, daß bei der endgültigen Tarifierung den Tarifierungsgrundsätzen der verbindlichen Zolltarifauskunft gefolgt werden würde. Nicht zuletzt im Hinblick auf diese Mitteilung des HZA sei es unvereinbar mit dem sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben für den Steuerpflichtigen ergebenden Vertrauensschutz, daß die Berichtigung auf die mit Rechtsbehelf angefochtenen Bescheide beschränkt und für die hier in Rede stehenden, spätere Einfuhren betreffenden Bescheide unter Berufung auf deren Unanfechtbarwerden abgelehnt worden sei. Dies um so mehr, als der Sachverhalt bei sämtlichen Einfuhren der gleiche gewesen sei und die materielle Streitfrage der Tarifierung letztlich durch die verbindliche Zolltarifauskunft der OFD zugunsten der Klägerin entschieden worden sei.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Zollbescheide abzuändern.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die verbindliche Tarifauskunft der OFD habe eine Bindung der Verwaltung erst hinsichtlich der nach ihrer Erteilung durchgeführten Einfuhren bewirkt. Die hier vorliegenden acht Bescheide seien bereits vorher rechtskräftig geworden und könnten auch nicht nach § 94 AO berichtigt werden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Bei der Entscheidung über einen Berichtigungsantrag nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die von den Steuergerichten auch nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil VII 245/63 U vom 29. September 1964, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 80 S. 492 – BFH 80, 492 –, BStBl III 1964, 651 ff.) nur daraufhin geprüft werden kann, ob die der Ermessensausübung gesetzten Grenzen eingehalten sind oder ein Ermessensfehlgebrauch erkennbar ist. Die Vorinstanz hat einen solchen Ermessensfehlgebrauch verneint, weil das HZA die von der Klägerin erstrebte Berichtigung aus Gründen versagt habe, die mit Recht und Billigkeit vereinbar seien. Dabei hat es die Vorinstanz für ausschlaggebend erachtet, daß die Klägerin gegen die hier streitigen acht Bescheide trotz der zweifelhaften Tarifierungsfrage keinen Rechtsbehelf eingelegt hat und diese Bescheide dadurch unanfechtbar geworden sind.
Diese Beurteilung hat zwar insofern einen zutreffenden Ausgangspunkt als nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (Urteile VII 245/63 U, a. a. O., VII 155/62 U vom 30. Juni 1964, BFH 80, 44, BStBl III 1964, 490), die Ablehnung von Änderungsanträgen nach § 94 AO in der Regel dann nicht als ermessenfehlerhaft anzusehen ist, wenn der Steuerpflichtige in der Lage war, seine Rechte in dem in erster Linie dafür bestimmten Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen. Der Senat ist dabei davon ausgegangen, daß die Vorschrift des § 94 AO dem Steuerpflichtigen keine Vorteile bieten will, die er auf dem vom Gesetz gewollten Weg über den Rechtsbehelf nicht oder nicht mehr erreichen kann.
Wie in dem Urteil VII 155/62 U (a. a. O.) ausgeführt worden ist, enthält jedoch diese von dem Senat ständig vertretene Auffassung einen Grundsatz, der nicht ausschließt, daß unter Umständen „in besonderen Fällen” die Ablehnung der begehrten Berichtigung nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO einen Ermessensmißbrauch darstellen kann. Aus der Sicht der sonach gebotenen Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles aber erscheint dem Senat die Würdigung des Streitfalles durch die Vorinstanz insbesondere hinsichtlich seiner maßgeblichen Begleitumstände nicht frei von Rechtsirrtum.
So hat die Vorinstanz bei Würdigung der Ermessenfrage außer Betracht gelassen, daß die den streitigen Zollbescheiden zugrunde liegenden acht Einfuhren (seit 16. Dezember 1962) im Anschluß an eine Vielzahl gleichartiger Einfuhren abgefertigt worden sind, wobei die Klägerin unverzüglich nach Einsetzen der für sie ungünstigen Tarifierung nach Tarifnr. 73.40 DZT 1962, nämlich bereits am 19. November 1962 eine verbindliche Zolltarifauskunft bei der OFD beantragt hatte. Sie hatte dadurch zu erkennen gegeben, daß sie mit der Tarifierung nach Tarifnr. 73.40 und dem sich hierfür aussprechenden Tarifierungsgutachten der ZLA nicht einverstanden war und eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Klärung der Tarifierungsfrage erstrebte. Dieser Klärung diente auch die Besprechung am 9. Januar 1963. Wenn sich diese auch nur auf den Sammelbescheid vom 16. Dezember 1962 bezog, so hätte es doch bei der grundsätzlichen Bedeutung der Tarifierungsfrage und der Länge der Zeit, die für eine verbindliche Zolltarifauskunft benötigt wurde, für die Zollverwaltung nahegelegen, die Vertreter der Klägerin darauf hinzuweisen, daß sie mit einer für sie günstigen Zolltarifauskunft allein ihr Ziel nicht erreichen könnten wenn nicht auch die Zollbescheide selbst angefochten würden. Erst recht wäre ein solcher Hinweis in dein Schreiben des HZA vom 14. Januar 1963 geboten gewesen. In diesem Schreiben wird nämlich eine ausdrückliche Zusicherung, daß bei günstigem Ausfall der Zolltarifauskunft auch bei Unanfechtbarwerden des zunächst angefochtenen Bescheids vom 16. Dezember 1962 eine entsprechende Erstattung gewahrt würde, abgelehnt, und im übrigen darauf hingewiesen, daß der Steuerbescheid nur ein vorläufiger sei. Im Anschluß daran hätte die Klägerin darauf aufmerksam gemacht werden sollen, daß sie natürlich Bescheide, die nicht vorläufige seien, auf alle Fälle anfechten müsse, um nicht der Möglichkeit einer günstigeren Tarifierung verlustig zu gehen. Das ist nicht geschehen, obgleich es um so näher gelegen hätte, als es der Verwaltung bekannt oder bei der Vielzahl der bereits angefochtenen (bzw. vorläufig erlassenen) Bescheide für sie eindeutig zu ersehen war, daß die Klägerin die gleiche Ware seit Jahren laufend eingeführt hatte, diese also auch weiterhin einführen würde. Die Klägerin konnte angesichts des Verhaltens der Verwaltung jedenfalls den Eindruck gewinnen, daß sämtliche, bis zur Erstattung der Zolltarifauskunft erlassenen Bescheide einheitlich nach Maßgabe der Tarifauskunft behandelt, d. h. gegebenenfalls berichtigt würden.
Unter diesen Umständen erscheint es, wenn dann nach langer Zeit die Zolltarifauskunft zugunsten der Klägerin ausfiel, als unvereinbar mit Recht und Billigkeit, daß man unterschiedlich verfuhr und nur die angefochtenen Bescheide berichtigt, die hier streitigen acht Bescheide aber unrichtig ließ. Es handelt sich hier um einen Sonderfall, der wegen seiner von der Regel abweichenden, außergewöhnlichen Begleitumstände die Anwendung eines diesen gerechtwerdenden Maßstabes für die Ausübung des verwaltungsmäßigen Ermessens – unbeschadet des für den Regelfall von dem Senat aufgestellten und aufrechterhaltenen Grundsatzes – gebietet. Die Vorinstanz hat daher zu Unrecht die Entscheidungen der Verwaltung für ermessensfehlerfrei angesehen. Ihre Entscheidung, die Einspruchsentscheidung und der Bescheid des ZA vom 30. September 1963 waren daher aufzuheben. Da nach der ganzen Lage des Falles das Ermessen der Verwaltung derart eingeengt ist, daß nur eine Entscheidung in dem von der Klägerin begehrten Sinne in Betracht kommt, war der Beklagte zu verpflichten, die acht streitigen Zollbescheide gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO auf der Grundlage des sich aus der Tarifnr. 73.36 DZT 1962 ergebenden Zollsatzes von 9,4 %, und des Ausgleichsteuersatzes von 6 % zu berichtigen.
Fundstellen