Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999. Beförderung der Arbeitnehmer zur Arbeitsstätte als Leistung aufgrund des Dienstverhältnisses
Leitsatz (amtlich)
1. Die Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 ist nur auf Leistungen anzuwenden, die bei einer unentgeltlichen Leistungserbringung nach § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2, Abs. 9a UStG 1999 i.V.m. § 10 Abs. 4 UStG 1999 steuerbar sind.
2. Die Beförderung der Arbeitnehmer zur Arbeitsstätte ist keine Leistung aufgrund des Dienstverhältnisses i.S. von § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999, wenn für die Arbeitnehmer keine zumutbaren Möglichkeiten bestehen, die Arbeitsstätte mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Normenkette
UStG 1993 § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b; UStG 1999 § 3 Abs. 9a Nr. 1, § 10 Abs. 5 Nr. 2; Richtlinie 77/388/EWG Art. 27
Verfahrensgang
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob Leistungen eines Unternehmers gegenüber seinen Arbeitnehmern der Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG 1999) unterliegen.
Bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) handelt es sich um eine Kommanditgesellschaft, die als Organträger nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG 1999 die Umsätze der S-GmbH versteuert. Die S-GmbH übt ihre Tätigkeit in N aus, wo sie Lager-, Betriebs- und Büroeinrichtungen herstellt und im Bereich der Abfalltechnik tätig ist.
Die Arbeitnehmer der S-GmbH konnten für die tägliche Fahrt von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte in N von der S-GmbH angemietete Busse benutzen. Hierfür hatten die Arbeitnehmer einen Fahrpreis von brutto 1 DM pro Arbeitstag zu zahlen. Die Arbeitnehmer entrichteten Beförderungsentgelte von insgesamt 8 963,80 DM (1999) und 15 281,03 DM (2000), die die Klägerin mit dem Regelsteuersatz von 16 v.H. versteuerte. Die der Klägerin für die Beförderung ihrer Arbeitnehmer in Rechnung gestellten Kosten beliefen sich in den Streitjahren auf netto 187 468,37 DM (1999) und 179 383,44 DM (2000).
Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) bestanden für die Arbeitnehmer keine zumutbaren Möglichkeiten, um die Betriebsstätte in N mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Arbeitsbeginn um 6.00 Uhr zu erreichen.
Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung, die sich auch auf die Prüfung der Umsatzsteuer bei Sachzuwendungen und sonstigen Leistungen an Arbeitnehmer bezog, ging der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt – FA –) davon aus, dass die Beförderung der Arbeitnehmer zur Arbeitsstätte verbilligt erfolgt sei, da sich die entrichteten Entgelte nur auf ca. 8,5 v.H. der Beförderungskosten beliefen. Da die Selbstkosten des Arbeitgebers die von den Arbeitnehmern entrichteten Entgelte überstiegen, seien nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 i.V.m. § 10 Abs. 4 Nr. 3 UStG 1999 die Selbstkosten als Bemessungsgrundlage anzusetzen.
Mit Bescheid vom 13. Januar 2003 änderte das FA die Umsatzsteuerfestsetzung 1999 und mit Bescheid vom 6. Januar 2003 die Umsatzsteuerfestsetzung 2000 und besteuerte die gegenüber den Arbeitnehmern erbrachten Beförderungsleistungen in dem von der Außenprüfung festgestellten Umfang auf der Grundlage der der GmbH entstandenen Beförderungskosten.
Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Im Einspruchsverfahren stellte das FA fest, dass die Aufwendungen für die Arbeitnehmerbeförderung im zweiten Halbjahr 1999 bisher noch nicht vollständig und im ersten Halbjahr überhaupt nicht erfasst waren. Nach Hinweis auf die beabsichtigte Verböserung im Einspruchsverfahren, die die Klägerin aber nicht zur Rücknahme ihres Einspruchs veranlasste, wies das FA den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 5. August 2003 für das Streitjahr 2000 als unbegründet zurück und verböserte, wie angedroht, die Festsetzung für 1999.
Die hiergegen eingereichte Klage zum FG hatte Erfolg. Das FG entschied, dass die Arbeitnehmerbeförderung nur auf Grundlage der von den Arbeitnehmern entrichteten Entgelte zu versteuern sei.
Mit der durch den Senat zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts und dabei im Wesentlichen, dass das FG § 10 Abs. 5 UStG 1999 hätte anwenden müssen.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Es handele sich um eine unentgeltliche Leistung. Dem von den Arbeitnehmern aufgewendeten Betrag von 1 DM komme nur symbolischer Charakter zu. § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 sei nur dann anwendbar, wenn auch eine unentgeltliche Arbeitnehmersammelbeförderung der Umsatzsteuer unterliege, was hier nicht der Fall sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Das FG hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 nicht vorliegen.
1. Nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 unterliegen „Leistungen, die ein Unternehmer an sein Personal oder dessen Angehörige aufgrund des Dienstverhältnisses ausführt” der Mindestbemessungsgrundlage, wenn die Bemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 4 UStG 1999 das durch den Arbeitnehmer entrichtete Entgelt übersteigt.
§ 10 Abs. 5 UStG 1999 wurde als von der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) abweichende Sondermaßnahme i.S. des Art. 27 der Richtlinie 77/388/EWG eingeführt. Wie der XI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) in seinem zu § 10 Abs. 5 UStG 1980 ergangenen Vorlagebeschluss vom 13. Dezember 1995 XI R 8/86 (BFHE 179, 457) an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ausführte, hatte die Bundesregierung in dem von ihr eingebrachten Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes vom 15. März 1978, durch den das Umsatzsteuerrecht an die Richtlinie 77/388/EWG angepasst werden sollte, im Rahmen der Einzelbegründung zu § 10 Abs. 5 UStG ausgeführt: „Die Regelung ist durch Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gedeckt” (BTDrucks 8/1779, 38).
Wie der XI. Senat in BFHE 179, 457 weiter ausführte, setzte die Bundesregierung mit Schreiben vom 12. Februar 1978 gemäß Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG die Kommission über die beabsichtigte Einführung der Sondermaßnahme in Kenntnis. Die Maßnahme wurde damit begründet, dass bei Entrichtung eines Leistungsentgelts das Entgelt als Bemessungsgrundlage anzusetzen sei. Das gelte grundsätzlich auch dann, wenn das Entgelt unangemessen niedrig sei, d.h. nicht dem Wert des gelieferten Gegenstandes oder der erbrachten sonstigen Leistung entspreche. In solchen Fällen lasse Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG jedoch zur Verhütung von Steuerhinterziehungen oder Steuerumgehungen den Ansatz einer höheren Bemessungsgrundlage zu, um „eine von den Mitgliedstaaten als ungerechtfertigt angesehene Minderung der Bemessungsgrundlage zu verhindern (vgl. Protokollerklärung zu Art. 27)”. Von dieser Möglichkeit werde in § 10 Abs. 5 UStG Gebrauch gemacht. Hiernach seien bei Lieferungen und sonstigen Leistungen als Bemessungsgrundlage die sich aus § 10 Abs. 4 UStG ergebenden Werte anzusetzen, falls das tatsächlich gezahlte Entgelt niedriger als diese Werte sei. Durch die Einführung dieser Mindestbemessungsgrundlage werde sichergestellt, dass Leistungen ohne angemessenes Entgelt ebenso wie die entsprechenden unentgeltlichen Leistungen besteuert würden und dass insoweit ein unbesteuerter Endverbrauch ausgeschlossen werde. Nach bisherigem Recht unterliege nur das tatsächlich gezahlte Entgelt der Umsatzsteuer.
Mit Schreiben vom 15. September 1978 unterrichtete die Kommission die Bundesregierung, dass sie das Verfahren gemäß Art. 27 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 77/388/EWG durch Mitteilungen an die anderen Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 12. Juni 1978 in Gang gesetzt habe. Weder die Kommission noch ein Mitgliedstaat habe beantragt, die Angelegenheit im Rat zu erörtern. Nachdem die in Art. 27 Abs. 4 der Richtlinie 77/388/EWG gesetzte Frist abgelaufen sei, gelte somit der Beschluss, durch den der Rat die Bundesrepublik Deutschland zu den beabsichtigten Sondermaßnahmen ermächtige, als gefasst. Die hinsichtlich der Mindestbemessungsgrundlage beabsichtigte Sondermaßnahme könne eingeführt werden.
Abweichende nationale Maßnahmen, die – wie § 10 Abs. 5 UStG 1999 – Steuerhinterziehungen oder – umgehungen verhüten sollten, sind eng auszulegen und dürfen von der in Art. 11 der Richtlinie 77/38/EWG geregelten Besteuerungsgrundlage nur insoweit abweichen, als dies für die Erreichung dieses Ziels unbedingt erforderlich ist (EuGH-Urteil vom 29. Mai 1997 Rs. C-63/96, Skripalle, Slg. 1997, I-02847 Randnrn. 22 ff.). Dies ist bei der Auslegung zu beachten.
2. Die Klägerin hat gegenüber ihren Arbeitnehmern entgeltliche Beförderungsleistungen erbracht. Zwar ist im Streitfall die von den Arbeitnehmern erbrachte Arbeitsleistung nicht als Entgelt für die Beförderung anzusehen. Die vom Arbeitgeber ohne rechtliche Verpflichtung erbrachte Personenbeförderung wird vom Arbeitgeber nicht erbracht, um eine Arbeitsleistung zu erhalten. Der Arbeitgeber kann mit der Personenbeförderung nicht erstreben, was ihm ohnehin schon aufgrund der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen (Arbeit gegen Lohn) zusteht (BFH-Urteil vom 7. Mai 1981 V R 47/76, BFHE 133, 133, BStBl II 1981, 495).
Die Entgeltlichkeit der Leistung ergibt sich aber aus den von den Arbeitnehmern geleisteten Zahlungen von jeweils 1 DM je Arbeitstag. Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich nicht um eine symbolische Vergütung, der umsatzsteuerlich kein Entgeltcharakter zukommt (vgl. hierzu auch EuGH-Urteil vom 20. Januar 2005 C-412/03, Hotel Scandic Gåsabäck, Slg. 2005, I-743, BFH/NV Beilage 2005, 90 Randnr. 26), da sich die von den Arbeitnehmern zu leistenden Zahlungen auf 8,5 v.H. der Beförderungskosten beliefen.
3. Die Bemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 4 Nr. 2 UStG 1999 (ab 1. April 1999: § 10 Abs. 4 Nr. 3 UStG 1999) überstieg das durch den Arbeitnehmer entrichtete Entgelt. Es liegt aber keine Leistung „aufgrund des Dienstverhältnisses” i.S. des § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 vor.
a) Zur Frage, welche Leistungen „aufgrund des Dienstverhältnisses” unentgeltlich erbracht werden (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG 1980) hat der EuGH mit Urteil vom 16. Oktober 1997 C-258/95, Fillibeck (Slg. 1997, I-5577, Umsatzsteuer-Rundschau 1998, 61 Randnrn. 26 ff.) und im Anschluss hieran der erkennende Senat mit Urteil vom 9. Juli 1998 V R 105/92 (BFHE 186, 157, BStBl II 1998, 635) entschieden, dass bei Arbeitnehmern die Beförderung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zum privaten Bedarf gehört. Unerheblich ist dabei, dass die Zurücklegung dieser Strecke notwendige Voraussetzung der Arbeitsausübung ist. Eine Leistung aufgrund des Dienstverhältnisses liegt daher dann vor, wenn Leistungen des Arbeitgebers zwar aus betrieblichem Anlass erfolgen, die Leistung jedoch den privaten Bedarf der Arbeitnehmer wie z.B. die Beförderung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte befriedigt. Anders ist es, wenn besondere Umstände wie z.B. das Fehlen geeigneter öffentlicher Verkehrsmittel oder Fahrten zu wechselnden Arbeitsstätten vorliegen und die Beförderung deshalb durch betriebliche Erfordernisse bedingt ist (bereits BFH-Urteil vom 10. Juni 1999 V R 104/98, BFHE 188, 466, BStBl II 1999, 582). Es handelt sich dann nicht um eine Leistung „aufgrund des Dienstverhältnisses” i.S. des § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999.
b) Auch für Zwecke des § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999 kommt es für das Vorliegen einer Leistung „aufgrund des Dienstverhältnisses” darauf an, ob die Leistung einen privaten Bedarf des Arbeitnehmers befriedigt oder besondere Umstände wie z.B. das Fehlen geeigneter öffentlicher Verkehrsmittel oder Fahrten zu wechselnden Arbeitsstätten vorliegen. Hierfür spricht bereits der Zweck der Vorschrift, nach dem die Besteuerung unentgeltlicher Leistungen nicht durch die Vereinbarung unangemessen niedriger Entgelte unterlaufen werden soll (s. oben II. 1.). Eine Leistung unterliegt daher nur dann der Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999, wenn sie ohne Entgeltvereinbarung als unentgeltliche Leistung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG in der bis zum 31. März 1999 geltenden Fassung (UStG 1993) steuerbar wäre.
4. Das Urteil der Vorinstanz lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Das FG hat für die Anwendung von § 10 Abs. 5 Nr. 1 UStG 1999 zu Recht darauf abgestellt, ob mit Ausnahme der Unentgeltlichkeit die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG 1993 vorliegen. Die Würdigung des FG, dass dies unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils Fillibeck nicht der Fall ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn nach den Feststellungen des FG bestanden für die Arbeitnehmer keine zumutbaren Möglichkeiten, den Arbeitsort rechtzeitig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Dies rechtfertigt die Annahme besonderer Umstände, die nach dem EuGH-Urteil Fillibeck dazu führen, dass die Beförderung dem unternehmerischen Interesse und nicht dem privaten Bedarf der Arbeitnehmer dient.
5. Die Revision ist auch hinsichtlich der ab 1. April 1999 bestehenden Rechtslage unbegründet. Der eigenständige Besteuerungstatbestand nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG 1993 wurde mit Wirkung ab 1. April 1999 durch die Fiktion einer entgeltlichen Leistung nach § 3 Abs. 9a UStG 1999 ersetzt. Die Rechtsänderung hatte keine Auswirkungen auf den Anwendungsbereich des § 10 Abs. 5 Nr. 2 UStG 1999. Denn auch unter Geltung des § 3 Abs. 9a UStG 1999 sind die Grundsätze des EuGH-Urteils Fillibeck zu beachten.
6. Der Senat kann offen lassen, ob die Beförderungsleistungen dem ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG 1999 als Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen, zu dem auch die Beförderungen von Berufstätigen zwischen Wohnung und Arbeitsstelle gehören (Abschn. 173 Abs. 6 Satz 7 der Umsatzsteuer-Richtlinien), unterliegen. Denn einer Änderung der in diesem Verfahren angefochtenen Umsatzsteuerbescheide durch den erkennenden Senat steht die Bindung an die Anträge (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) entgegen.
Fundstellen
Dokument-Index HI15857479 |