Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Mängel des Buchnachweises, die bei einer Betriebsprüfung aufgedeckt werden, stellen für die Veranlagungsstelle des Finanzamts neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO auch dann dar, wenn bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Steuerfahndung stattgefunden, der Fahndungsbericht aber Ausführungen über den Buchnachweis nicht enthalten hatte.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Der Steuerpflichtige betrieb im Jahre 1955 Großhandel und Einzelhandel mit Weinen. In den Umsatzsteuer-Voranmeldungen für 1955 beanspruchte er für die Großhandelslieferungen den ermäßigten Steuersatz des § 7 Abs. 3 UStG von 1 v. H. Bei einer Anfang 1956 bei dem Steuerpflichtigen stattgefundenen Steuerfahndung wurden in erheblichem Umfang "OR" -Verkäufe festgestellt, die für 1955 zu einem geschätzten Mehrumsatz von ... DM führten. Feststellungen über die steuerbegünstigten Umsätze enthielt der Steuerfahndungsbericht vom 18. April 1956 nicht. Das Finanzamt veranlagte den Steuerpflichtigen durch Umsatzsteuerbescheid vom 26. Juni 1956, indem es den vom Steuerpflichtigen erklärten Umsätzen den Mehrumsatz von ... DM hinzurechnete.
Am 1. Januar 1956 wurde das Unternehmen als GdbR - bestehend aus dem Steuerpflichtigen, der sein Weinhandelsgeschäft eingebracht hatte, und seinem Bruder - fortgesetzt. Bei einer im März 1959 bei der GdbR durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, daß für die Veranlagungszeiträume 1956 bis 1958, aber auch für die Vorjahre der buchmäßige Nachweis, insbesondere der Nämlichkeitsnachweis, nicht erbracht war. Das Finanzamt berichtigte daraufhin die erste Veranlagung für 1955 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO. Es versagte für die Großhandelslieferungen den ermäßigten Steuersatz des § 7 Abs. 3 UStG und zog die Umsätze anläßlich der Geschäftsveräußerung an die GdbR zur Umsatzsteuer heran. Streitig ist, ob die Versagung der Steuerermäßigung des § 7 Abs. 3 UStG für 1955 auf Grund der Betriebsprüfung von 1959 im Berichtigungsbescheid vom 2. Oktober 1959 zu Recht erfolgt ist.
Der Einspruch des Steuerpflichtigen blieb erfolglos. Dagegen stellte sich das Finanzgericht auf den Standpunkt, daß das Finanzamt dem Steuerpflichtigen die Großhandelsvergünstigung für den bereits geprüften Veranlagungszeitraum 1955 zu Unrecht versagt habe, weil die Feststellung bei der Betriebsprüfung von 1959 hinsichtlich des Buchnachweises keine neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO erbracht hätten. Das Fehlen des Buchnachweises hätte schon dem Steuerfahndungsdienst auffallen müssen. Das Finanzamt müsse Tatsache, die bei einer früheren Prüfung hätten festgestellt werden können, als bekannt gegen sich gelten lassen. Eine mangelhafte oder unvollständige Aufklärung des Sachverhalts durch den Prüfer gehe grundsätzlich zu Lasten des Finanzamts. Außerdem liege eine mangelhafte Sachverhaltsaufklärung durch die zuständige Veranlagungsstelle selbst vor, weil sie den Steuerfahndungsbericht der Veranlagung zugrunde gelegt habe, obwohl er keinerlei Ausführungen zum Buchnachweis enthalten habe. Da bei einem Weinhandelsbetriebe der Buchnachweis sehr wichtig sei und wegen der vorkommenden zahlreichen steuerlich schädlichen Bearbeitungen besondere Schwierigkeiten biete, hätte die Veranlagungsstelle Anlaß gehabt, vor der Veranlagung beim Prüfer Rückfrage zu halten, welche Feststellungen er zum Buchnachweis getroffen habe, und ihn gegebenenfalls zu weiteren Feststellungen zu veranlassen. Da dies nicht geschehen sei, müsse das Finanzamt die später aufgedeckten Buchnachweismängel wegen mangelhafter Sachaufklärung durch die Veranlagungsstelle für den geprüften Zeitraum 1955 als bekannt gegen sich gelten lassen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
I. - Der Senat hat in einem gleichgelagerten Fall entschieden, daß Mängel des Buchnachweises, die bei einer Betriebsprüfung aufgedeckt werden, für die Veranlagungsstelle neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO auch dann darstellen, wenn bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Steuerfahndungsprüfung stattgefunden, der Prüfungsbericht aber Ausführungen über den Buchnachweis nicht enthalten hatte (Urteil des Bundesfinanzhofs V 71/56 vom 15. November 1956, wiedergegeben in Steuerrechtsprechung in Karteiform, Umsatzsteuergesetz, § 7 Abs. 3, Rechtsspruch 42). Die Entscheidung beruht auf der ständigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und Bundesfinanzhofs, nach der es für die Frage, ob eine Tatsache dem Finanzamt bekannt oder unbekannt ist, auf die Kenntnis oder Unkenntnis der für die Veranlagung zuständigen Dienststelle (Sachbearbeiter und Sachgebietsleiter der betreffenden Veranlagungsstelle) ankommt (vgl. u. a. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 246/34 vom 19. November 1935, RStBl 1936 S. 58; Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 143/56 U vom 10. Juli 1958, BStBl 1958 III S. 365, Slg. Bd. 67 S. 239). Ist bei einer Betriebsprüfung eine Tatsache bekannt geworden, so erlangt die Veranlagungsstelle von ihr nur dann Kenntnis, wenn sie entweder aus dem Betriebsprüfungsbericht oder aus einer sonstigen Mitteilung des Betriebsprüfers an das Finanzamt hervorgeht (vgl. Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., zu § 222 AO Anm. 5 b aa). Der Senat hält an diesen Grundsätzen fest.
Im Streitfall enthielt der Bericht von 1956 keinerlei Ausführungen zum Buchnachweis. Das ist auch nicht verwunderlich; denn es handelte sich - was die Vorinstanz nicht hinreichend beachtet hat - um den Bericht einer Steuerfahndungsstelle, der es lediglich darauf ankam, gewisse beim Vater des Steuerpflichtigen festgestellte Unstimmigkeiten aufzuklären und vom Steuerpflichtigen getätigte Schwarzgeschäfte aufzudecken. Es ist allgemein bekannt, daß es nicht Aufgabe des Steuerfahndungsdienstes ist, die Geschäfts- und Buchführung eines Steuerpflichtigen in demselben Umfange zu durchleuchten, wie dies bei sonstigen Betriebsprüfungen zu geschehen pflegt. Die Folgerungen, die das Finanzgericht an die "Unterlassung einer gebotenen Aufklärung" "innerhalb der ersten Betriebsprüfung" zieht, gehen daher schon aus diesem Grunde fehl.
Der Senat vermag - im Gegensatz zum Finanzgericht - auch keine mangelhafte Sachverhaltsaufklärung durch die zuständige Veranlagungsstelle festzustellen. Nur Zweifelsfragen, die sich bei der Prüfung von Betriebsprüfungsberichten ohne weiteres aufdrängen, müssen vor der Veranlagung geklärt werden. Zweifelsfragen dieser Art ergeben sich aus dem Steuerfahndungsbericht von 1956 nicht. Wenn dort zwecks Berechnung der Umsatzsteuer die erklärten Umsätze mit den bisherigen Steuersätzen angesetzt worden sind, so kann keine Rede davon sein, daß damit der Fahndungsbeamte - wie die Vorinstanz - den vom Steuerpflichtigen begehrten Großhandelssteuersatz ausdrücklich anerkannt habe. Es würde bei der von der Finanzverwaltung zu bewältigenden Massenarbeit eine überspitzung ihrer Aufklärungspflicht bedeuten, wollte man verlangen, daß das Finanzamt alle nur möglichen Fälle einer steuerlich oder buchmäßig falschen Behandlung durch den Steuerpflichtigen ins Auge faßt und ihnen nachgeht, auch wenn weder aus den Akten noch aus den Betriebsprüfungsberichten Anhaltspunkte für eine solche falsche Behandlung ersichtlich sind.
II. - Die Vorentscheidung ist noch aus einem weiteren Grunde aufzuheben. Das Finanzgericht führt selbst aus, daß eine Berichtigung der Umsatzsteuerveranlagung für 1955 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO insoweit zulässig gewesen sei, als die Ende 1958 bekanntgewordene Einbringung des Einzelunternehmens des Steuerpflichtigen in die mit seinem Bruder gebildete GdbR als letzter Geschäftsvorfall (Umsatz) aus dem Jahre 1955 zu erfassen und als Geschäftsveräußerung nach § 85 UStDB zu besteuern sei. In einem solchen Falle ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich der ganze Steuerfall wieder aufzurollen. Es können dabei früher unterlaufene Fehler berichtigt und Tatsachen, die für sich allein die Vornahme einer Berichtigungsveranlagung nicht rechtfertigen würden, berücksichtigt werden. Das gesamte Verfahren wird in den Stand vor dem Ergehen des ursprünglichen Bescheids zurückversetzt (vgl. Kühn, a. a. O., zu § 222 Anm. 5 d). Diese Grundsätze finden eine Einschränkung nur insoweit, als ihre Anwendung bei Vorliegen noch weiterer besonderer Umstände im Einzelfalle gegen Treu und Glauben verstoßen würde (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs I 176/57 U vom 18. November 1958, BStBl 1959 III S. 52, Slg. Bd. 68 S. 137; I 90/57 U vom 3. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 53, Slg. Bd. 68 S. 140; V 264/58 U vom 21. Juli 1960, BStBl 1960 III S. 480, Slg. Bd. 71, S. 619). Solche weiteren Umstände sind im Streitfalle nicht feststellbar. Der durch die Geschäftsveräußerung ausgelöste Steuerbetrag kann weder im Vergleich zu der ursprünglich für 1955 veranlagten Umsatzsteuer noch im Vergleich zu dem wegen des fehlenden Buchnachweises nachzuholenden Steuerbetrag als geringfügig angesehen werden. Auch hat das Finanzamt - wie die Ausführungen oben unter I zeigen - keinerlei Zusagen gemacht, den Buchnachweis als ausreichend anerkennen zu wollen.
III. - Die Sache ist entscheidungsreif. Da die Berichtigungsveranlagung vom ... in vollem Umfange zu Recht besteht, ist die Berufung des Steuerpflichtigen gegen die Einspruchsentscheidung des Finanzamts vom ... als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 411097 |
BStBl III 1964, 149 |
BFHE 1964, 389 |
BFHE 78, 389 |