Leitsatz (amtlich)
Die Befugnis nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO zur Schätzung besteht auch in finanzgerichtlichen Streitigkelten über die Rückforderung von Ausfuhrerstattungen.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 1; AO 1977 § 162; AO § 217
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) führte 1972 Getreidemischfutter nach Großbritannien aus, das sie in den Kontrollexemplaren als Ware der Tarifst. 23.07-B-I-C-1 bezeichnete. Die Zusammensetzung wurde wie folgt angemeldet:
66 % Gerstenmehl, anderes
20 % Gerstenschalen, vermahlen
12 % Kartoffelstärke
1 % Mineralstoffmischung
1 % Melasse
Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt -- HZA --) gewährte der Klägerin auf ihren Antrag Ausfuhrerstattung.
Nachdem das HZA festgestellt hatte, daß der Bestandteil "Gerstenmehl, anderes" aus 77,3% Gerstenschleifmehl, das beim Schälen der Gerste während der Gerstengraupenproduktion überwiegend beim zweiten Schälgang angefallen war, und aus 22,7% gemahlener Gerste zusammengesetzt war, forderte es mit Änderungsbescheid vom 4. September 1973 insgesamt... DM der gewährten Ausfuhrerstattung zurück. Der Neuberechnung des Erstattungsbetrages legte es nur noch die in dem "Gerstenmehl, anderes" enthaltene gemahlene Gerste zugrunde.
Das Finanzgericht (FG) hob den Änderungsbescheid auf und führte zur Begründung im wesentlichen aus:
Bei der Festsetzung der Ausfuhrerstattung sei auch das in den Ausfuhrsendungen enthaltene Gerstenschleifmehl zu berücksichtigen gewesen.
Auch das Gerstenschleifmehl sei erstattungsfähig. Das HZA habe seiner Entscheidung für die am 27. April 1972 ausgeführte Sendung einen Stärkewert von 44,7 Gewichtschundertteilen und für die am 7. Juni 1972 ausgeführte Sendung einen Stärkewert von 42,5 Gewichtshundertteilen zugrunde gelegt. Dabei seien jedoch nicht alle für die Ermittlung des Stärkegehalts bedeutsamen Faktoren berücksichtigt worden. Aufgrund einer -- mangels anderer Feststellungsmöglichkeiten -- vom FG vorgenommenen Schätzung (§ 217 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung -- AO --, § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) ergebe sich für das Schleifmehl in der zuerst genannten Ausfuhrsendung ein Stärkegehalt von 46,7 Gewichtshundertteilen und für das Schleifmehl in der zuletzt genannten Ausfuhrsendung ein Stärkegehalt von 45,5 Gewichtshundertteilen, jeweils bezogen auf den Trockenstoff.
Das HZA legte gegen das Urteil des FG mit folgender Begründung Revision ein:
Anstatt die Vorschriften über die Beweislast und über die finanzgerichtliche Aufklärung anzuwenden, habe das FG den zusätzlichen Stärkegehalt unter Berufung auf § 217 AO und § 162 Abs. 1 AO 1977 geschätzt. Diese Vorschriften hätten jedoch nicht in Betracht gezogen werden dürfen.
Entscheidungsgründe
Der Auffassung des HZA, daß eine Schätzung des Stärkegehalts durch das FG nicht zulässig sei, weil die Vorschriften über die Schätzung in § 162 AO 1977 oder auch in § 217 AO im Bereich der gewährenden Verwaltung nicht anwendbar seien, kann nicht gefolgt werden.
Die Schätzung ist eine Entscheidung des Gerichts im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Einräumung der Schätzungsbefugnis durch die Bestimmung in § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO, nach der § 162 AO 1977 sinngemäß gilt, bewirkt, daß -- ähnlich wie nach § 287 der Zivilprozeßordnung -- ZPO -- (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 40. Aufl., § 287 Anm. 1) -- die Befugnis zur freien Beweiswürdigung über die Grenzen der Regelung in § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO hinaus erweitert wird. Diese Erweiterung ist nicht nur für Steuerstreitigkeiten bedeutsam. Wie der Streitfall zeigt, kann sie auch bei der Entscheidung in Streitigkeiten wegen der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen dienlich sein. Vor allem dem Zusammenhang der Bestimmung über die sinngemäße Geltung der Schätzungsvorschriften mit der Bestimmung über die Befugnis der Gerichte zur freien Beweiswürdigung muß entnommen werden, daß die sich aus § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO ergebende Erweiterung der Befugnis zur freien Beweiswürdigung wie die Befugnis zur freien Beweiswürdigung selbst grundsätzlich für finanzgerichtliche Streitigkeiten schlechthin gilt. Die Bestimmung über die sinngemäße Anwendung des § 162 AO 1977 in § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO ist demnach als allgemeingültige Beweiswürdigungsregelung des für die Finanzgerichtsbarkeit geltenden Verfahrensrechts anzusehen, die insbesondere auch in Streitigkeiten wegen der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen angewendet werden kann. Dafür spricht auch die Begründung des Entwurfs einer FGO, nach der die Regelung in § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO im Hinblick auf die Befugnis der Gerichte für erforderlich gehalten worden ist, auf Geldleistungen gerichtete angefochtene Verwaltungsakte zu ändern, soweit die Gerichte die Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte feststellen (List in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 96 FGO Anm. 24). Zu den auf Geldleistungen gerichteten Verwaltungsakten gehört auch ein Bescheid, mit dem eine Ausfuhrerstattung zurückgefordert wird.
Der Befugnis zur Schätzung stehen in Streitigkeiten wegen der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen auch nicht Gründe der Beweislast entgegen. Wen die Nachteile tatsächlicher Ungewißheiten zu treffen haben, ist im finanzgerichtlichen Verfahren nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu beurteilen. Sie greifen erst ein, wenn das Gericht aufgrund der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis kommt, daß es vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen, die für die umstrittene Rechtsfolge maßgebend sind, nicht überzeugt ist (vgl. List, a. a. O., § 96 FGO, Anm. 44). Bevor das Gericht jedoch zu diesem Ergebnis gelangen kann, hat es alle Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen der ihm eingeräumten Befugnis der freien Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO und damit auch die Schätzung auszuschöpfen.
Ob Gründe der Beweislast der Anwendung der Schätzungsvorschriften entgegenstehen, wenn Gegenstand eines Rechtsstreits die Versagung einer Ausfuhrerstattung ist, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden.
Sollte in dem Verfahren vor dem FG allerdings zweifelhaft werden, ob ein höherer Stärkegehalt überhaupt und damit dem Grunde nach in Betracht kommt, ist für eine Schätzung kein Raum. Allerdings hat das FG dann nach seiner freien Überzeugung i. S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO darüber zu befinden, ob überhaupt ein Zuschlag zu dem vom HZA berücksichtigten Stärkegehalt gerechtfertigt ist.
Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß das FG auch nach Ausschöpfung der Schätzungsbefugnis zu einem Ergebnis gelangt, nach dem "alles offen" bleibt (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 7. Juli 1970 VI ZR 233/69, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1970). Bei einer derartigen Sachlage ist auch bei Anwendung der Schätzungsregeln die Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast zu treffen. Wen die Feststellungslast in solchen Fällen trifft, ist grundsätzlich nach den materiellen Vorschriften zu beurteilen, die die Voraussetzungen für die maßgebliche Rechtsfolge enthalten (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, 165, BStBl II 1971, 220; vom 24. Juni 1976 IV R 101/75, BFHE 119, 164, 166f., BStBl II 1976, 562, und vom 26. März 1980 VII R 97/76, BFHE 130, 209). Danach trifft also grundsätzlich die Behörde die Feststellungslast, wenn sie einen begünstigenden Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt zurückgenommen oder geändert hat und dieser Verwaltungsakt Gegenstand des Rechtsstreits ist. Allerdings trifft die Feststellungslast dann den Begünstigten, wenn dieser den Verwaltungsakt durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt hat (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 2. Dezember 1975 VII R 59/73, BFHE 118, 115, 118, und vom 8. November 1972 VII R 98/68, BFHE 107, 482).
Fundstellen
Haufe-Index 74548 |
BStBl II 1983, 226 |
BFHE 1982, 207 |