Leitsatz (amtlich)

All „Glaskolben” im Sinne der Tarifnr. 70.11 des GZT kommen auch solche Glasgebilde in Betracht, die nicht nur an einem, sondern auch am anderen Ende offen sind.

 

Normenkette

GZT Tarifnr. 70.11

 

Tatbestand

Die Klägerin stellte am 25. Juni 1969 den Antrag, ihr eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) über Reflektoren und Linsen zu erteilen, die aus Preßglas hergestellt sind und ihrerseits zur Herstellung von Schaufenster-Scheinwerferlampen, von Infrarotwärmestrahlern für medizinische, landwirtschaftliche oder industrielle Zwecke und von Fotoaufnahmelampen verwendet werden sollen. Die konisch geformten Reflektoren sind etwa 78 mm hoch und haben einen Durchmesser am einen Ende von etwa 123 mm, am anderen von etwa 37 mm. Der Durchmesser der Linsen beträgt etwa 123 mm, ihre Glasstärke etwa 3,6 bis 3,9 mm. Nach Verspiegelung der Innenseite der Reflektoren und nach dem Einbau der inneren Lampenelemente werden die Linsen luftdicht auf die Reflektoren aufgeschmolzen. Die Lampen werden mit Inertgas über einen Glasstutzen gefüllt, der am engeren Ende der Reflektoren an der hierfür vorgesehenen Öffnung aufgesetzt wird. Anschließend werden die Glühlampen mit handelsüblichen Schraubsockeln E 27 versehen.

Die Beklagte (die Oberfinanzdirektion – OFD –) wies die Waren in ihrer vZTA 259/1970 vom 11. August 1970 der Nr. 70.21 des vom Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Verordnung (EWG) Nr. 950/68 – VO (EWG) 950/68 – vom 28. Juni 1968 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG Nr. L 172 vom 22. Juli 1968 S. 1) erlassenen Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zu. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies sie am 14. Dezember 1970 als unbegründet zurück.

Mit ihrer Klage macht die Klägerin gellend, die Reflektoren seien der Tarifnr. 70.11, hilfsweise der Tarifst. 85.20 D, und die Linsen dieser letzteren Tarifstelle zuzuweisen.

Der Wortlaut der Warenbeschreibung der Tarifnr. 70.11 treffe vollständig auf die Reflektoren zu. Es handele sich um „offene, unfertige Glaskolben … für elektrische Lampen … (aller Formen und Abmessungen, offen und ohne irgendwelche Ausrüstung)”. Unter Berücksichtigung der Fertigungstechnik bezeichne die Verkehrsanschauung als einen „Glaskolben für elektrische Glühlampen” den Hohlglaskörper einer elektrischen Lampe, in den die elektrische Ausrüstung einer Lampe eingebaut werde. Der Reflektor sei ein solcher Hohlglaskörper, der wegen des Fehlens seiner Kolbenkuppe als unfertig anzusprechen sei.

Die Linsen würden den Reflektoren erst aufgeschmolzen, nachdem in diesen die elektrische Ausrüstung angebracht sei. Sie dienten also unmittelbar der Herstellung von Lampen, nicht etwa von Kolben. Da auch Glasteile von elektrischen Lampen vom Kapital 85 erfaßt würden und die Linsen erkennbar Teile von Lampen seien, sei zu prüfen, inwieweit die Linsen als „Teile von elektrischen Lampen” im Sinne der Tarifst. 85.20 D anzusprechen seien. Daß sie letztlich Teile des Glaskolbens der fertigen Lampen seien, dürfe dabei keine Rolle spielen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die vZTA samt der Einspruchsentscheidung als rechtswidrig aufzuheben.

Die OFD beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, die Reflektoren und Linsen für elektrische Glühlampen seien den Konen und Bildschirmen für Fernsehbildröhren vergleichbar. Offene Glaskolben ohne elektrische Ausrüstung zur Herstellung von Kathodenstrahlröhren für Fernsehempfänger gehörten zur Tarifnr. 70.21.

Auf den Vorlagebeschluß des Senats vom 16. Oktober 1973 VII K 6/71 (BFHE 110, 389) hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) durch Urteil vom 8. Mai 1974 Rs. 183/73 entschieden:

1. Der Ausdruck „offene unfertige Glaskolben und offen bearbeitete Glasröhren” der Tarifnr. 70.11 des GZT ist dahin auszulegen, daß er alle Glasgebilde erfaßt, die als Glasumhüllung von Lampen und Elektroröhren zu dienen bestimmt sind und die wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale der vollständigen oder fertigen Ware haben.

2.) Die Tarifst. 85.20 – C des GZT ist dahin auszulegen, daß sie alle Glasteile erfaßt, die als Glasumhüllung elektrischer Lampen zu dienen bestimmt sind und nicht unter die Tarifnr. 70.11 fallen.

In den Gründen dieser Entscheidung hat der EGH ausgeführt:

„Aus dem Wortlaut der Tarifnr. 70.11 … folgt, daß diese nicht nur die Formen aus Glas betrifft, die bei der Herstellung von elektrischen Lampen nach den herkömmlichen Verfahren verwendet werden, sondern sämtliche zur Herstellung solcher Lampen bestimmte Glasgebilde, ungeachtet des Verfahrens ihrer Herstellung …

Die Tarifnr. 70.11 findet nach dem Wortlaut, den sie … vor 1973 halte, nur auf die ‚unfertigen’ Erzeugnisse Anwendung. Dieser Begriff ist in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Tarifierungs-Vorschrift 2 a Satz 1 des Titels I des GZT auszulegen. Ihr zufolge ‚[gilt] jede Anführung einer Ware in einer Tarifnummer … auch für die unvollständige oder unfertige Ware, wenn sie die wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale einer vollständigen oder fertigen Ware hat’…

Zwar darf der Begriff des unfertigen Erzeugnisses nicht so verstanden werden, als erstrecke er sich auf jedes der Einzelteile, aus denen sich ein Erzeugnis zusammensetzt. Doch ist die allgemeine Tarifierungs-Vorschrift 2 a Satz 2 des Titels I des GZT zu berücksichtigen; danach ‚gilt’ jede Anführung einer Ware in einer bestimmten Tarifnummer ‚auch für die vollständige oder fertige oder nach den vorstehenden Bestimmungen als solche geltende Ware, wenn sie zerlegt gestellt wird’. Nach ihrem Wortlaut ist diese Bestimmung nur unter der Voraussetzung anwendbar, daß die nicht zusammengesetzten Teile gleichzeitig zur Verzollung gestellt werden.

Außerdem ist die Erläuterung zum Brüsseler Zolltarifschema zu berücksichtigen, die sich auf jene Vorschrift bezieht. Als nicht zusammengesetzte Waren sind danach ‚Waren anzusehen, deren verschiedene Teile dazu bestimmt sind, entweder durch einfache Hilfsmittel oder z. B. durch Vernieten oder Schweißen zusammengesetzt zu werden, wenn es sich dabei tatsächlich um einfaches Zusammensetzen handelt’. Es ist Sache des nationalen Richters zu entscheiden, ob das Aufschmelzen von Linsen auf die strittigen Reflektoren tatsächlich diesen Voraussetzungen entspricht.

Die beiden Sätze der Tarifierungs-Vorschrift 2 a des Titels I wurden … mit Wirkung vom 1. Januar 1972 dem GZT eingefügt. Es ist davon auszugehen, daß diese Auslegungsregeln zu dem Zweck aufgestellt wurden, in Sondervorschriften niedergelegte Auslegungspraktiken für den gesamten Zolltarif zu verallgemeinern, so daß sie rechtlich keine Neuerung darstellen, sondern auch auf die bereits vor dem 1. Januar 1972 getätigten Einfuhren anwendbar sind…

Die Tarifnr. 70.21 umfaßt ‚andere Glaswaren’, die Tarifnr. 85.20 ‚elektrische … Lampen’ einschließlich ‚Teile’ (heute Tarifstelle C). Nach der Vorbemerkung 1 b des Kapitels 85 … gehören ‚Glaswaren der Tarifnr. 70.11’ nicht zu diesem Kapitel. Demzufolge kann ein Erzeugnis, das nicht zur Tarifnr. 70.11 gehört, unter das Kapitel 85 fallen.

Nach der allgemeinen Tarifierungs-Vorschrift Nr. 3 a des Titels I geht die Tarifnummer mit der genaueren Warenbezeichnung den Tarifnummern mit allgemeiner Warenbezeichnung vor. Die Tarifstelle 85.20 C… ist spezieller als die eine Auffangfunktion erfüllende Tarifnr. 70.21 …”

 

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg.

Es handelt sich um eine gegen die vZTA in der Gestalt der Einspruchsentscheidung gerichtete Anfechtungsklage im Sinne von § 40 Abs. 1 und § 44 Abs. 2 FGO. Für eine Verpflichtungsklage besteht hier kein Raum, weil die OFD die Erteilung einer vZTA nicht abgelehnt oder unterlassen hat (vgl. § 40 Abs. 1 FGO).

Der Rechtsstreit hat sich nicht etwa dadurch erledigt, daß nach der Erteilung der vZTA vom 11. August 1970 der GZT durch die VO (EWG) 1/72 vom 20. Dezember 1971 (ABlEG Nr. L 1 vom 1. Januar 1972 S. 1) neu gefaßt wurde. Durch diese Maßnahme ist die in der vZTA angewendete Tarifnr. 70.21 nicht materiell geändert worden und daher die vZTA nicht nach § 23 Abs. 3 ZG außer Kraft getreten (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 2. August 1967 VII 194/64, BFHE 90, 383).

Die vZTA und die sie bestätigende Einspruchsentscheidung waren aufzuheben, weil sie zu Unrecht die Reflektoren und die Linsen als „Andere Glaswaren” im Sinne der Tarifnr. 70.21 behandelt haben.

Die Reflektoren gehören zu den „offenen unfertigen Glaskolben” im Sinne der Tarifnr. 70.11. Der EGH hat durch sein Urteil vom 8. Mai 1974 klargestellt, daß der Ausdruck „offene unfertige Glaskolben und offene bearbeitete Glasröhren” der Tarifnr. 70.11 alle Glasgebilde erfaßt die als Glasumhüllung von Lampen und Elektroröhren zu dienen bestimmt sind und die wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale der vollständigen oder fertigen Ware haben. Daraus ergibt sich, daß alle „Glaskolben” im Sinne der Tarifnr. 70.11 auch solche Glasgebilde in Betracht kommen, die – wie die Reflektoren – nicht nur an einem, sondern auch am anderen Ende offen sind. Das wird in der Begründung des EGH-Urteils unterstrichen durch die Feststellung, daß nicht nur die beim herkömmlichen Lampenherstellungsverfahren verwendeten Glasformen, sondern auch auf andere Herstellungsverfahren zugeschnittene Glasformen hier erfaßt werden. Das wird letztlich auch dadurch gerechtfertigt, daß die Tarifnr. 70.11 ausdrücklich auch Glasröhren umfaßt, die zur Herstellung elektrischer Röhren bestimmt sind. „Unfertige” Glaskolben für elektrische Lampen sind die Reflektoren nach der Allgemeinen Tarifierungs-Vorschrift (ATV) 2 a Satz 1 deshalb, weil sie bereits die wesentlichen Beschaffenheitsmerkmale von Glaskolben elektrischer Lampen aufweisen.

Die Linsen sind Teile elektrischer Glühlampen im Sinne der nunmehrigen Tarifst. 85.20 C (früher 85.20 D). Denn sie sind nach ihrer Beschaffenheit und dem im Antrag auf Erteilung der vZTA dargelegten von der OFD nicht bezweifelten Verwendungszweck dazu bestimmt, die weite Öffnung der ebenfalls zur Herstellung elektrischer Glühlampen dienenden Reflektoren abzuschließen, fallen aber nicht unter die Tarifnr. 70.11 und sind daher nicht durch die Vorschrift 1 b zu Kapital 85 von diesem Kapitel ausgenommen. Das entspricht der Auslegung der Tarifst. 85.20 C im Urteil des EGH, in dessen Begründung festgestellt ist, daß die Tarifst. 85.20 C spezieller ist als die eine Auffangfunktion erfüllende Tarifnr. 70.21 und daher nach der ATV 3 a dieser vorgeht.

Für den Fall, daß die Reflektoren und die Linsen als zerlegte Ware zur Zollabfertigung gestellt werden, können sie dem Urteil des EGH zufolge nach der ATV 2 a Sätze 1 und 2 als einheitliche Ware tarifiert werden, sofern das Aufschmelzen der Linsen auf die Reflektoren als einfacher Arbeitsvorgang zu beurteilen ist und sich daher nur als ein Zusammensetzen darstellt. Als eine solche einheitliche Ware fallen sie gemeinsam unter die Tarifnr. 70.11, weil die ohnehin zu dieser Tarifnummer gehörenden Reflektoren in Verbindung mit den Linsen erst recht die Form eines Kolbens erhalten.

Der Senat mußte sich nach § 100 Abs. 1 FGO auf die Aufhebung der vZTA und der Einspruchsentscheidung beschränken, weil er nicht befugt ist, die vZTA inhaltlich zu ändern (vgl. § 100 Abs. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 514664

BFHE 1975, 560

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