Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristgerechter Eingang eines Schriftsatzes bei nachweislich unpräziser Aktenführung beim FG
Leitsatz (NV)
Eine nachweislich unpräzise Aktenführung beim FG darf sich nicht zu Lasten des Beteiligten auswirken, der den fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes beim FG nachzuweisen hat.
Normenkette
FGO § 68; ZPO § 444
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war mit 80 % an Personengesellschaften (GbR) beteiligt, für die jeweils Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gesondert festgestellt worden waren.
Im Anschluss an eine Außenprüfung vertrat der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) die Auffassung, dass die von der Klägerin bzw. GbR in den Jahren 1993 und 1994/1995 veräußerten drei Mehrfamilienhäuser einen gewerblichen Grundstückshandel begründeten und erhöhte dementsprechend für das Streitjahr 1993 die Einkommensteuer um rd. 1 Mio. DM. Betreffend Einkommensteuer 1995 ist wegen eines der genannten Veräußerungsgeschäfte ein weiteres Verfahren beim Finanzgericht (FG) anhängig.
Während der Klageverfahren erließ das FA am 24. August 2000 für 1993 und 1995 jeweils einen Einkommensteueränderungsbescheid aufgrund des § 53 des Einkommensteuergesetzes (EStG); für das Streitjahr wurde die Einkommensteuer um 66 DM herabgesetzt.
Ausweislich der FG-Akten ging beim FG am 31. August 2000 ein zweiseitiger Schriftsatz vom selben Tag wegen "Einkommensteuer 1995" ein, in dem beantragt wurde, den Änderungsbescheid vom 24. August 2000 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Obgleich dieser Schriftsatz die Einkommensteuer 1995 betraf, wurde er in der FG-Akte des Streitjahres 1993 abgeheftet. Der dazugehörige Briefumschlag befindet sich nicht mehr in den Akten des FG.
In der Folgezeit beantragte das FA wiederholt, die Sache im Hinblick auf den Nichtanwendungserlass des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) für das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Mai 1999 I R 118/97 (BFHE 188, 561, BStBl II 2000, 28), die abzuwartende Reaktion des BMF auf das BFH-Urteil vom 15. März 2000 X R 130/97 (BFHE 191, 360, BStBl II 2001, 530) und die zu erwartende Entscheidung des Großen Senats zu Az. GrS 1/98 formlos ruhen zu lassen. Einer solchen Verzögerung des Rechtsstreits hat die Klägerin nachdrücklich widersprochen; insbesondere sei sie als Beteiligte an einem Bauherrenmodell nicht selbst wie ein Bauunternehmer tätig, sondern nach ständiger Rechtsprechung des BFH erwerbe sie ein fertiges Gebäude. Es wurden insoweit mehrfach Schriftsätze gewechselt.
Im März 2003 stellte der Vorsitzende des Senats beim FG als Berichterstatter fest, dass der in der streitgegenständlichen Akte abgeheftete Antrag nach § 68 der Finanzgerichtsordnung in der bis einschließlich 2000 geltenden Fassung (FGO a.F.) nicht das Streitjahr 1993 betrifft. Er teilte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 7. März 2003 mit, dass der Einkommensteueränderungsbescheid für 1993 vom 24. August 2000 nicht zum Gegenstand des Verfahrens erklärt worden sei. Der Klägervertreter erwiderte mit Schriftsatz vom 17. März 2003 unter Vorlage eines "Original-Duplikats" seines Schreibens betreffend Einkommensteuer 1993 vom 31. August 2000, dass er auch für das Streitjahr 1993 einen Antrag nach § 68 FGO a.F. gestellt habe. Mit Schreiben vom 20. März 2003 bat das FG unter Beifügung einer Kopie des Schreibens vom 31. August 2000 das FA um Mitteilung, ob das Originalschreiben der Klägerin dem FA vorliege. Dies wurde vom FA verneint. Das vom Klägervertreter mit Schriftsatz vom 17. März 2003 übersandte "Original-Duplikat" befindet sich nicht in den dem erkennenden Senat vorgelegten FG-Akten.
Nachdem der Klägervertreter bereits mit Schriftsatz vom 1. April 2003 dem FG Fotokopie des Postausgangsbuchs vom 31. August 2000 vorgelegt hatte, stellte er mit Schriftsatz vom 10. April 2003 Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Nach seinem Postausgangsbuch seien am 31. August 2000 in einem Briefumschlag für beide Einkommensteueränderungsbescheide vom 24. August 2000 Anträge gemäß § 68 FGO a.F. versandt worden. Ausweislich einer beigefügten Erklärung der Klägerin habe diese von dem Antrag nach § 68 FGO a.F. betreffend 1993 nur ein "Duplikat" und nicht versehentlich auch das Originalschreiben erhalten; die Unterlagen habe eine Mitarbeiterin ihres Ehemannes seinerzeit abgeheftet. Ferner sei zu beanstanden, dass sich in den FG-Akten nicht mehr der die Anträge nach § 68 FGO a.F. enthaltende Briefumschlag befinde. Der Frankierung hätte entnommen werden können, dass der Briefumschlag nicht nur ein Schreiben enthalten habe. Da in der Sache ferner laufend Schriftsätze ausgetauscht worden seien, habe der Klägervertreter davon ausgehen können, dass kein Anhaltspunkt für eine Unzulässigkeit der Klage vorliege.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Die Klägerin habe einen fristgerechten Antrag gemäß § 68 FGO a.F. für das Streitjahr 1993 nicht nachweisen können. Allein aus der Höhe der Frankierung des ―nicht aufbewahrten― Briefumschlags lasse sich dies nicht entnehmen.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme wegen Ablaufs der Jahresfrist nach § 56 Abs. 3 FGO nicht in Betracht, selbst wenn die Verzögerung allein auf in der Sphäre des FG liegende Gründe zurückzuführen wäre.
Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 56, 68 FGO (a.F.) und des Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Das FG behaupte zu Unrecht, innerhalb der Jahresfrist seien keine für eine Wiedereinsetzung sprechenden Tatsachen aus den Akten erkennbar gewesen. In Anbetracht des regen Schriftsatzaustausches habe für den Prozessbevollmächtigten kein Grund für die Annahme bestanden, der das Streitjahr betreffende Antrag nach § 68 FGO a.F. sei nicht zusammen mit dem Antrag betreffend Einkommensteuer 1995 beim FG eingegangen. Dem Postausgangsbuch vom 31. August 2000 sei klar zu entnehmen, dass am 31. August 2000 an das FG ein Brief betreffend 1993 und 1995 abgesandt worden sei. Da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Briefumschläge in den Akten der Gerichte aufzubewahren seien, könne das Fehlen des Briefumschlags, der beide Schriftsätze enthalten habe, nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Wäre er aufbewahrt worden, so hätte sich aus der Frankierung und seiner Größe ―brauner Fensterumschlag in DIN-A-5-Format― ergeben, dass er nicht ausschließlich den für 1995 geltenden Antrag enthalten habe. Die unrichtige Abheftung des 1995 betreffenden Antrags indiziere ein Versehen des FG bei der Bearbeitung der beiden Schriftsätze vom 31. August 2000. Zudem wäre bei ordnungsgemäßer Wahrnehmung der Prozessfürsorgepflicht die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass beim FG ein Antrag nach § 68 FGO a.F. zwar für 1995, trotz gleichen Streitgegenstandes aber nicht für das Jahr 1993 eingegangen sei.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, hilfsweise in der Sache materiell-rechtlich selbst zu entscheiden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Zu Unrecht hat das FG die Klage der Klägerin als unzulässig abgewiesen.
Nach § 68 FGO a.F. war ein nach Klageerhebung ergangener Bescheid, der den angefochtenen Verwaltungsakt änderte oder ersetzte, vom Kläger zum Gegenstand des Verfahrens zu erklären. Der Antrag war innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des neuen Verwaltungsaktes zu stellen. Im Streitfall ist davon auszugehen, dass auf Grund eines fristgerechten Antrags der Einkommensteueränderungsbescheid für 1993 vom 24. August 2000 Gegenstand des Verfahrens geworden ist.
1. Der BFH ist als Revisionsgericht nicht durch § 118 Abs. 2 FGO an der Prüfung gehindert, ob der Antrag nach § 68 FGO a.F. fristgerecht beim FG eingegangen ist.
Sachurteilsvoraussetzungen sind vom Revisionsgericht uneingeschränkt zu überprüfen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 12. Dezember 2001 XI R 88/98, BFH/NV 2002, 922; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 118 Rdnr. 45, m.w.N.). Die fristgerechte Antragstellung nach § 68 FGO a.F. ist Voraussetzung für das Rechtsschutzinteresse; fehlt der Antrag oder wird er nach Ablauf der Monatsfrist gestellt, ist die Klage mangels einer Sachurteilsvoraussetzung als unzulässig abzuweisen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. Oktober 2000 IX R 65/97, BFH/NV 2001, 785, m.w.N.).
2. Unter Würdigung der Gesamtumstände des Streitfalles ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der Antrag nach § 68 FGO a.F. betreffend 1993 in einem Briefumschlag zusammen mit dem Antrag betreffend 1995 an das FG abgesandt worden und dort ebenfalls ―fristgerecht― eingegangen ist.
a) Aus dem vom Klägervertreter auszugsweise kopierten Postausgangsbuch ergibt sich, dass am 31. August 2000 ein Brief, adressiert an das FG betreffend "… (Klägerin) gegen Finanzamt … 93+95" abgesandt wurde (vgl. auch z.B. zum Portobuch BFH-Zwischenurteil vom 13. November 1996 X R 30/96, BFH/NV 1997, 253). Da ausweislich der FG-Akten am 31. August 2000 ein Antrag nach § 68 FGO a.F. betreffend den Einkommensteueränderungsbescheid 1995 vom 24. August 2000 beim FG eingegangen ist und das beklagte FA das FA … ist, kann davon ausgegangen werden, dass mit der Bezeichnung "93+95" die Einkommensteuer dieser beiden Veranlagungszeiträume gemeint war. Dies wird durch den nachfolgenden Eintrag im Postausgangsbuch bestätigt, wonach der Klägervertreter der Klägerin und ihrem Ehemann am selben Tag u.a. die geänderten Einkommensteuerbescheide für 1993 und 1995 zugesandt hat. An der Ordnungsmäßigkeit des Postausgangsbuchs bestehen keine Zweifel.
Die Klägerin hat zudem durch Vorlage eines Duplikats des Schriftsatzes vom 31. August 2000 betreffend 1993 zumindest glaubhaft gemacht, dass der Klägervertreter am 31. August 2000 auch in Sachen Einkommensteuer 1993 einen Antrag nach § 68 FGO a.F. schriftsätzlich erstellt hat.
b) Obgleich sich ein Antrag nach § 68 FGO a.F. betreffend Einkommensteuer 1993 nicht in den Akten des FG befindet, sprechen in Anbetracht der nachweislich unpräzisen Aktenführung beim FG die Umstände dafür, dass ein solcher Antrag beim FG seinerzeit eingegangen ist.
Der Antrag betreffend Einkommensteuer 1995 wurde nach Eingang in der Klageakte betreffend 1993 abgeheftet. Es liegt daher die Annahme nahe, dass der Bearbeiter, der den Antrag für 1995 in der Klageakte für 1993 abgeheftet hat, den 1993 betreffenden Antrag irrtümlicherweise als Duplikat angesehen und ihn aus diesem Grund nicht abgeheftet hat. Der Klägervertreter hat ferner, nachdem er vom Vorsitzenden Richter am 7. März 2003 auf das Fehlen des Antrags nach § 68 FGO a.F. für 1993 hingewiesen worden war, ausweislich seines Schriftsatzes vom 17. März 2003 dem FG das sich in seinen Klageunterlagen befindliche Schreiben vom 31. August 2000 als "Duplikat-Original" übersandt. Auffallenderweise ist auch dieses Duplikat trotz seiner möglicherweise wegen § 56 Abs. 2 Sätze 3, 4 FGO rechtserheblichen Bedeutung nicht in den FG-Akten abgeheftet. Auf dem Schriftsatz vom 17. März 2003 ist hierzu lediglich handschriftlich vermerkt "s. Votentasche (zu Bl. 78)". Die Votentasche ist jedoch leer.
c) Die aufgezeigten Umstände lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass der Klägervertreter den Antrag nach § 68 FGO a.F. betreffend das Streitjahr 1993 zusammen mit dem Antrag betreffend 1995 abgesandt hat, beide Anträge beim FG eingegangen sind, aber aufgrund eines Versehens beim FG der Antrag für 1993 nicht abgeheftet worden ist. Zugunsten der Klägerin ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass sich der Umschlag des am 31. August 2000 abgesandten Briefs nicht mehr in den Akten befindet. Aus seiner Größe und/oder der Frankierung ließe sich möglicherweise entnehmen, dass er ―wie von dem Prozessbevollmächtigten behauptet― tatsächlich zwei Schriftsätze mit jeweils zwei Blättern enthielt.
Werden Briefumschläge, die fristwahrende Schriftsätze enthalten, nicht aufbewahrt, so darf sich dies nach dem in § 444 der Zivilprozessordnung enthaltenen, allgemein gültigen Rechtsgedanken nicht zu Lasten des Beteiligten auswirken, der den fristgerechten Eingang des Schriftsatzes nachzuweisen hat (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss des 2. Senats vom 16. Dezember 1975 2 BvR 854/75, BVerfGE 41, 23, 28; Beschluss der Dritten Kammer des 2. Senats vom 26. März 1997 2 BvR 842/96, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1997, 1770; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. April 1960 II C 68.58, BVerwGE 10, 270; BFH-Urteil vom 28. Februar 1978 VII R 92/74, BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390; Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. April 1972 7 RU 17/69, NJW 1973, 535). Diese Grundsätze gelten auch im Streitfall, in dem der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Absendung des Briefs durch Vorlage eines Auszugs aus seinem Postausgangsbuch nachgewiesen hat.
3. Da von einem fristgerecht gestellten Antrag nach § 68 FGO betreffend Einkommensteuer 1993 auszugehen ist, ist über die Frage der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung nach Ablauf der Jahresfrist gemäß § 56 Abs. 3 FGO nicht mehr zu entscheiden.
4. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen, weil es ―auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung― keine Feststellungen zum Vorliegen eines gewerblichen Grundstückshandels getroffen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1153609 |
BFH/NV 2004, 1106 |