Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Die Kosten für Heimfahrten zur Familie sind für verheiratete Arbeitnehmer grundsätzlich Werbungskosten im Sinne von § 9 EStG. Es ist in der Regel unerheblich, aus welchen Gründen der Arbeitnehmer seinen bisherigen Wohnsitz beibehält, wie oft er zu seiner Familie fährt und welches Verkehrsmittel er für seine Heimfahrten benutzt. Der Senat hält an seiner abweichenden bisherigen Rechtsprechung nicht fest.
GG Art. 6 Abs. 1, 11 Abs. 1, 12 Abs. 1; StAnpG § 1 Abs. 2; EStG §§ 9, 12; LStDV §§ 20 Abs. 2 Ziff. 2,
Normenkette
EStG § 9/1, § 12 Nr. 1; LStDV § 20 Abs. 2 Ziff. 2, § 27/4; StAnpG § 1 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1, Art. 11/1, Art. 12 Abs. 1
Tatbestand
I. -
Sachverhalt, Entscheidung des Finanzgerichts und Revisionsanträge
Der Steuerpflichtige (Stpfl.), ein 66 Jahre alter Lohnbuchhalter, hat seit dem Jahre 1957 an seinem Arbeitsort, 100 km vom Familienwohnort entfernt, ein möbliertes Zimmer. Er fährt jeweils zum Wochenende mit der Bundesbahn zu seiner Frau, die in einem eigenen Einfamilienhaus wohnt und ebenfalls Arbeitnehmerin ist. Für das Streitjahr 1963 begehrte der Stpfl. eine Lohnsteuerermäßigung wegen 52 Familienheimfahrten. Ferner machte er geltend, daß er die sofort fällig gestellte Vermögensabgabe mit dem Zeitwert von 1.260 DM bezahlt habe, und verlangte dafür den Abzug als Sonderausgaben. Das Finanzamt (FA) lehnte beide Anträge ab und wies auch den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Berufung hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) dessen Urteil in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 1964 S. 452 veröffentlicht ist, setzte für 48 Familienheimfahrten je 10 DM als Werbungskosten an; die Vermögensabgabe ließ es nicht zum Abzug als Sonderausgaben zu. Es führte aus: Der Stpfl. habe sich an seinem Arbeitsort vergeblich um eine geeignete Wohnung bemüht. Das FA habe denn auch in den vergangenen Jahren die Notwendigkeit des doppelten Hausstands anerkannt; die Verhältnisse hätten sich im Streitjahr nicht geändert. Unter diesen Umständen seien - entgegen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), z. B. im Urteil VI 200/61 U vom 10. August 1962 (BStBl 1962 III S. 453, Slg. Bd. 75 S. 512) - alle Familienheimfahrten steuerlich zu berücksichtigen; denn sie seien alle beruflich durch die auswärtige Beschäftigung des Stpfl. bedingt gewesen. Den Zeitwert der gezahlten Vermögensabgabe könne der Stpfl. hingegen nicht nach § 211 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 LAG als Sonderausgaben abziehen.
Das FA rügt mit der Revision unrichtige Anwendung von §§ 9 und 12 Ziff, 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG - (ß 20 LStDV). Es will gemäß dem BFH-Urteil VI 200/61 U (a. a. O) und Abschnitt 26 Abs. 1 Ziff. 3 LStR 1963 nur die Kosten für zwei Familienheimfahrten im Monat als Werbungskosten abgesetzt wissen. Es beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den lohnsteuerfreien Jahresbetrag auf 3.311 DM festzusetzen.
Der Stpfl., der Anschlußbeschwerde (die nunmehr als Revision zu behandeln ist) eingelegt hat, beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und 52 Familienheimfahrten zu je 11 DM als Werbungskosten sowie die Vermögensabgabe als Sonderausgaben anzuerkennen. Ferner beantragt er, ihm den durch die Ablehnung des Lohnsteuer-Freibetrages entstandene Zinsverlust von 124,62 DM zu erstatten.
II. - Beitrittsersuchen des Senats an den Bundesminister der Finanzen (BdF) und die Stellungnahme des BdF
Der Senat hatte, weil er die bisherige Rechtsprechung zur Behandlung der Kosten für Familienheimfahrten bei Arbeitnehmern nochmals grundsätzlich prüfen wollte, im März 1965 den BdF gemäß § 287 Ziff. 2 AO gebeten, dem Verfahren beizutreten, und hatte in dem Beitrittsersuchen geschrieben:
"Die Rechtsbeschwerde des Finanzamts ist nach der Rechtsprechung des Senats wohl begründet. Der Senat hat Abschn. 26 Abs. 1 Ziff. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien als eine für den Normalfall geeignete vernünftige Auslegung des Gesetzes anerkannt. - Die Rechtsprechung des Senats ist aber in der Fachliteratur, z. B. von Nissen ("Der Betrieb" 1963 Heft 48, Beilage 20, S. 6/7) kritisiert worden. Allerdings hat der Senat den Umständen des Einzelfalles, z. B. mehrere erziehungsbedürftige Kinder oder Erkrankung der Ehefrau, Rechnung getragen, und in solchen Fällen die Kosten wöchentlicher Heimfahrten gegebenenfalls auch die Fahrten mit dem eigenen Pkw, als Werbungskosten anerkannt (z. B. Urteil VI 257/62 vom 12. Juli 1963, "Der Betrieb" 1963 S. 1343). - Der Senat bittet um Ihre Stellungnahme, ob nach Ihrer Auffassung,
Abschn. 26 Abs. 1 Ziff. 3 LStR 1963 in der derzeitigen Fassung mit § 9 EStG vereinbar ist.
Inwiefern ist die Heranziehung der beamtenrechtlichen Vorschriften vertretbar?
Muß man nicht auch die Heimfahrten mit dem eigenen PKW unbeschränkt zulassen?
Können auch die Kosten für Heimfahrten mit dem Flugzeug abgesetzt werden?
Sind nur Heimfahrten am Wochenende zu berücksichtigen, oder auch Zwischenheimfahrten während der Woche?
Ist geplant, die vielen Zweifelsfragen, die sich ergeben, wenn Wohnort und Arbeitsort nicht zusammenfallen (vgl. die Zusammenstellung von Nissen, a. a. O., vor allem Abschn. III und IV), durch eine neue gesetzliche Bestimmung zu regeln?
Der BdF, der dem Verfahren beigetreten war, hat wie folgt Stellung genommen:
"Nach § 9 EStG sind Werbungskosten die Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. § 20 Abs. 2 Satz 2 LStDV definiert den Begriff ... dahin, daß Werbungskosten alle Aufwendungen sind, die die Ausübung des Dienstes mit sich bringt, soweit die Aufwendungen nicht nach der Verkehrsauffassung durch die allgemeine Lebensführung bedingt sind ... -
Geht man von diesem Begriff aus, so ergibt sich für die steuerliche Beurteilung der Kosten für Familienheimfahrten bei doppelter Haushaltsführung aus zwingenden persönlichen Gründen folgendes:
Anzahl der Familienheimfahrten Nach der bisherigen Fassung des Abschnitts 26 Abs. 1 Ziff. 3 LStR können nur Kosten für jeweils zwei Familienheimfahrten monatlich als Werbungskosten berücksichtigt werden. Der Senat hat diese Anordnung in seinem Urteil vom 10. August 1962 VI 200/61 U (BStBl 1962 III S. 453 gebilligt .... Ich bin der Auffassung, daß die bisherige Beschränkung auf die Kosten für zwei Fahrten im Monat nicht aufrechterhalten werden kann. Die Familienheimfahrten werden durch die berufsbedingte Trennung des Arbeitnehmers von seiner Familie verursacht. Ohne die Aufnahme der Arbeit an einem Ort außerhalb des Wohnsitzes der Familie würden dem Arbeitnehmer keine Aufwendungen für diese Fahrten erwachsen. Ist aber der Anlaß für die Entstehung der Aufwendungen berufsbedingt, so müssen sie auch als Werbungskosten anerkannt werden. Der Umstand, daß das Motiv für die Familienheimfahrt in der persönlichen Sphäre des Arbeitnehmers liegt, kann m. E. die Aufwendungen - auch nicht teilweise - zu Kosten der Lebensführung machen. In der Geltendmachung von Werbungskosten unterliegt der Arbeitnehmer keiner Einschränkung. Er muß deshalb für jede von ihm für erforderlich gehaltene Familienheimfahrt die Aufwendungen als Werbungskosten abziehen können .....
Wahl des Verkehrsmittels Nach der bisherigen Fassung des Abschnitts 26 Abs. 1 Ziff. 3 LStR können bei Familienheimfahrten nur die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel als Werbungskosten anerkannt werden. Der Senat hat diese Anordnung im Grundsatz gebilligt und nur für Sonderfälle, wie z. B. bei Schwerbeschädigten, bei besonders ungünstigen Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Eilfällen, den Abzug von Kosten für die Benutzung eines Kraftfahrzeugs als Werbungskosten zugelassen ... Ich bin der Meinung, daß auch diese einschränkende Auslegung nicht aufrechterhalten werden kann. Ebenso wie es dem Arbeitnehmer überlassen werden muß, wie viele Familienheimfahrten er für erforderlich hält, muß ihm auch die Wahl des Verkehrsmittels freigestellt werden. Ich halte es für bedenklich, bei Familienheimfahrten von Arbeitnehmern in den Mehrkosten, die bei der Benutzung eines Kraftfahrzeugs gegenüber der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels entstehen, Kosten der Lebensführung zu sehen, wenn in § 9 Ziff. 4 EStG für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte die Kosten für die Benutzung eines Kraftfahrzeugs ausdrücklich als Werbungskosten zugelassen werden. Im übrigen müssen, wenn die bisherige einschränkende Auslegung des Werbungskostenbegriffs in bezug auf die Wahl des Verkehrsmittels bei Familienheimfahrten den gesetzlichen Vorschriften entspräche, diese Auslegung auch für alle anderen Fälle gelten, in denen der Abzug von Fahrkosten als Werbungskosten oder Betriebsausgaben zu berücksichtigen ist. Ich bin deshalb der Auffassung, daß die Kosten für Familienheimfahrten auch dann in vollem Umfang Werbungskosten sind, wenn der Arbeitnehmer ein Kraftfahrzeug benutzt. Das gleiche muß gelten, wenn der Arbeitnehmer die Benutzung eines Flugzeugs für Familienheimfahrten für erforderlich hält.
Erstattung von Kosten einer Familienheimfahrt nach beamtenrechtlichen Vorschriften
Den für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes bestehenden Regelungen über die Erstattung von Kosten für Familienheimfahrten - im Bundesdienst werden für jeden Monat des Bezugs von Trennungsentschädigung die Kosten in Höhe der Fahrkosten in der niedrigsten Klasse eines öffentlichen, regelmäßig verkehrenden Beförderungsmittels ersetzt (ß 5 der Trennungsgeldverordnung vom 12. August 1965 BGBl I S. 808) - kommt, da sie nur den Charakter von Beihilfen haben und nicht die volle Erstattung der Kosten von Familienheimfahrten bezwecken, für die Geltendmachung von Kosten für Familienheimfahrten als Werbungskosten nur insoweit Bedeutung zu, als die Werbungskosten um die erstatteten Beträge zu kürzen sind.
... Abschließend darf ich zu der in dem Beitrittsersuchen unter Buchstabe f gestellten Frage bemerken, daß hierzu z. Z. nicht Stellung genommen werden kann. Die Frage ist m. E. auch nicht entscheidungserheblich.
III. -
Entscheidungsgründe
Entscheidung des Senats
Die Revisionen führen zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Die steuerliche Behandlung der Kosten für Familienheimfahrten bei auswärtiger Beschäftigung und für die regelmäßigen Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte berühren in gleicher Weise die Frage, wie die durch die Wahl des Wohnortes und des Arbeitsortes bedingten Ausgaben des Arbeitnehmers von den nicht abzugsfähigen Kosten der allgemeinen Lebensführung im Sinne des § 12 Ziff. 1 EStG abzugrenzen sind.
Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung haben die Kosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in immer größeren Umfang als Werbungskosten anerkannt. Während die Preußische Einkommensteuergesetze von 1891 und 1906 - entgegen der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts - die Kosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bei Arbeitnehmern nicht als Werbungskosten anerkannten (vgl. Strutz, Kommentar zur Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925, Bd. I § 16 EStG, Anm. 80 Abs. 2), wurden durch das EStG 1920 (und später) diese Kosten wenigstens zum Abzug zugelassen, soweit sie "notwendig" waren (z. B. § 13 EStG 1920, § 16 EStG 1925, § 9 Ziff. 4 EStG 1934 und später). Die Notwendigkeit war hinsichtlich der Lage der Wohnung und hinsichtlich des benutzten Verkehrsmittels zu prüfen. Grundsätzlich wurden nur die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel als notwendig anerkannt und auch nur dann, wenn der Stpfl. innerhalb des Einzugsgebiets seines Arbeitsorts wohnte (z. B. Urteil des RFH VI A 784/34 vom 7. November 1934, RStBl 1935 S. 124; VI A 995/34 vom 19. Dezember 1934, RStBl 1935 S. 338; BFH-Urteil IV 511/52 U vom 21. Mai 1953, BStBl 1953 III S. 197, Slg. Bd. 57 S. 510; Hartz-Over, Lohnsteuer, Stichwort: " Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte"). Wegen der fortschreitenden Motorisierung erkannte im Jahre 1955 der BFH in den Urteilen IV 453/53 U vom 3. März 1955 (BStBl 1955 III S. 104, Slg. Bd. 60 S. 268), IV 525/53 U vom 31. März 1955 (BStBl 1955 III S. 154, Slg. Bd. 60 S. 404), IV 382/54 U vom 31. März 1955 (BStBl 1955 III S. 156, Slg. Bd. 60 S. 407) auch die Kosten eines Kraftfahrzeugs (PKW) als "notwendig" an, wenn der Arbeitnehmer durch die Benutzung des PKW einen erheblichen Zeitgewinn erzielen konnte. Der Gesetzgeber hat dann weitergehend in § 9 Ziff. 4 EStG 1955 (ß 20 Abs. 2 LStDV, Abschn. 25 LStR 1955) das Wort "notwendig" in § 9 Ziff. 4 EStG überhaupt gestrichen. Seither werden Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bei einer Entfernung bis zu 40 km ohne weiteres als Werbungskosten anerkannt; bei größerer Entfernung nur wenn zwingende persönliche Gründe für die Wahl des weit entfernten Wohnortes vorliegen. Die Wahl des Verkehrsmittels steht seit dem Jahre 1955 im Belieben des Arbeitnehmers. Benutzt er für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ein eigenes Kraftfahrzeug, so werden die Werbungskosten durch Pauschbeträge abgegolten.
War ein Arbeitnehmer außerhalb seines Wohnorts beschäftigt und mußte er, weil er nicht täglich heimkehren konnte, an seinem Arbeitsort einen Hausstand einrichten, so wurden nach dem Erlaß des Reichsministers der Finanzen (RdF) vom 6. Dezember 1930 (RStBl 1930 S. 782) die Mehraufwendungen für den Unterhalt außerhalb des Hauses, vor allem die Mehrkosten des doppelten Hausstands, als Werbungskosten zum Abzug zugelassen. Die Kosten für Familienheimfahrten wurden, soweit der Arbeitgeber sie nicht ersetzte, erstmals in Abschn. 26 Ziff. 3 LStR 1950 als Werbungskosten anerkannte, und zwar nur die Kosten der öffentlichen Verkehrsmittel (unter Ausnutzung der bestehenden Tarifvergünstigungen) für zunächst eine und ab September 1955 für zwei Familienheimfahrten im Monat (Abschn. 26 Abs. 1 Ziff. 3 LStR 1955).
Diese Verwaltungsanweisung über die Behandlung der Familienheimfahrten erkannte der Senat für den Normalfall als eine nach § 217 AO mögliche Schätzung an (BFH-Urteile VI 200/61 U, a. a. O.; VI 257/62 vom 12. Juli 1963, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963 S. 449, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 9 Ziff. 4, Rechtsspruch 31, "Der Betrieb" 1963 S. 1443; VI 160/64 vom 6. November 1964, HFR 1965 S. 281, "Der Betrieb" 1965 S. 877), weil die Kosten für Familienheimfahrten eines von seiner Familie getrennten Arbeitnehmers durch das Arbeitsverhältnis verursacht und Werbungskosten seien. Da Familienbesuche aber gleichzeitig auch persönliche Gründe hätten und infolgedessen die Kosten der Familienheimfahrt zum Teil auch durch die allgemeine Lebensführung im Sinne des § 12 Ziff. 1 EStG bedingt seien, sei, weil die berufliche und die familiäre Veranlassung im Einzelfall kaum einwandfrei und eindeutig abzugrenzen seien, eine schätzungsweise Zerlegung der Kosten geboten. Wenn die LStR zwei Familienheimfahrten im Monat als Werbungskosten zuließen, so sei das für den Regelfall eine vertretbare Schätzung im Sinne des § 217 AO. Unter besonderen Umständen, z. B. bei der Erkrankung von Familienangehörigen oder wenn der Arbeitnehmer mehrere minderjährige Kinder habe, müßten allerdings auch mehr als zwei Familienheimfahrten im Monat anerkannt werden. Es sei ferner rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Verwaltung in der Regel nur die Kosten der öffentlichen Verkehrsmittel unter Ausnutzung der bestehenden Tarifvergünstigungen als Werbungskosten abziehen lasse; denn die Benutzung eines PKW beruhe im allgemeinen auf Bequemlichkeit und Liebhaberei. Kosten für Familienheimfahrten mit einem eigenen PKW müßten allerdings unter besonderen Umständen als Werbungskosten abgesetzt werden, so z. B. bei Schwerbeschädigten, bei besonders ungünstigen Verbindungen der öffentlichen Verkehrsmittel oder in Eilfällen.
Nach erneuter Prüfung der Rechtslage hält der Senat an dieser Rechtsprechung nicht fest, sondern erkennt nunmehr die Kosten für Familienheimfahrten grundsätzlich als Werbungskosten an.
Wie in der Grundsatzentscheidung VI 79/60 S vom 2. März 1962 (BStBl 1962 III S. 192, Slg. Bd. 74 S. 513) ausgesprochen ist, sind Werbungskosten alle Ausgaben die durch das Arbeitsverhältnis veranlaßt sind, soweit sie nicht in den Bereich der allgemeinen Lebensführung des Arbeitnehmers gehören.
Viele Ausgaben eines Arbeitnehmer stehen gleichzeitig mit dem Beruf und mit der privaten Lebensführung und Lebensgestaltung in Beziehung. Berühren Ausgaben den Beruf und die Lebensführung gleichzeitig und ist eine Aufteilung nicht eindeutig und leicht nachprüfbar möglich, so müssen die Kosten im ganzen einem der beiden Kreise zugewiesen werden. Dabei ist für die Einordnung als Werbungskosten oder Kosten der Lebensführung entscheidend, in welchen Bereich die Kosten ganz überwiegend gehören. Steht die berufliche Veranlassung normalerweise weit im Vordergrund, so sind die Ausgaben Werbungskosten, auch wenn sie nach der allgemeinen Lebenserfahrung gleichzeitig die private Lebensgestaltung berühren. Da es nicht möglich ist, die inneren Beweggründe, durch die sich ein Arbeitnehmer zu der Ausgabe bestimmen läßt, in jedem Fall zuverlässig festzustellen, ohne allzu sehr in die persönlichen Verhältnisse einzudringen, ist eine gewisse Typisierung unvermeidlich, wie sie übrigens der Gesetzgeber selbst in § 12 Ziff. 1 Satz 2 EStG ausdrücklich vorschreibt (Entscheidung des BFH I 256/55 U vom 25. September 1956, BStBl 1957 III S. 2. Slg. Bd. 64 S. 3).
Die Frage, ob eine Ausgabe ganz vorwiegend in den Bereich des Berufs oder der privaten Lebensführung gehört, läßt sich nicht ein für allemal beantworten. Die Entwicklung der Verhältnisse und die allgemeine Auffassung über die Abgrenzung von Beruf und Privatleben spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wie dargelegt, hat sich die steuerliche Behandlung der Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie für Familienheimfahrten im Laufe der Jahrzehnte laufend geändert, indem diese Kosten in wachsendem Masse als Werbungskosten zugelassen wurden. Diese Entwicklung war in erster Linie durch den Wandel der Volkswirtschaft und die änderung der Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer bedingt. Während in früherer Zeit die Arbeitnehmer ihre Wohnung vorwiegend in der Nähe der Arbeitsstätte hatten, Arbeitsort und Wohnort also normalerweise zusammenfielen, fallen sie heute aus mancherlei Gründen immer mehr auseinander. Die Hauptrolle spielt dabei die Zusammenballung der Industrie in den schnell wachsenden Großstädten und die Nachteile, die mit dem Wohnen in den Industrieräumen, besonders für Kinder, verbunden sind. Dazu kommt, daß durch die modernen Verkehrsmittel, in erster Linie durch die schnell steigende Motorisierung, auch größere Entfernungen leicht und schnell überwunden werden können. Diese und auch manche andere Umstände in ihrer Gesamtheit veranlassen die Arbeitnehmer immer mehr, ihre Familienwohnung außerhalb des Arbeitsorts und weit von der Arbeitsstätte entfernt einzurichten.
Diesem Wandel der Verhältnisse müssen die Steuergerichte nach den allgemeinen Grundsätzen der Auslegung von Gesetzen und gemäß der ausdrücklichen Anordnung des § 1 Abs. 2 StAnpG Rechnung tragen.
Bei der Auslegung von steuerlichen Vorschriften sind auch die Wertungen des Grundgesetzgebers zu beachten, wie sie in den Grundrechten zum Ausdruck kommen. Nach Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) genießen alle Bürger Freizügigkeit im Bundesgebiet; sie können im Rahmen der Gesetze frei bestimmen, wo sie wohnen wollen. Ebenso haben alle Bürger nach Art. 12 Abs. 1 GG das Recht, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen. Desgleichen stehen nach Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der rechtlichem Ordnung. Die diesen Grundrechten immanenten Wertungen sind im Rahmen der Auslegungsmöglichkeiten, die die Steuergesetze bieten, angemessen zu berücksichtigen.
Nach diesen Grundsätzen sind die Kosten verheirateter Arbeitnehmer für die Fahrten zu ihrer Familie grundsätzlich als Werbungskosten zu berücksichtigen, gleichviel, aus welchen Gründen die Arbeitnehmer die Familienwohnung am bisherigen Wohnort beibehalten. Es ist unerheblich, ob der Arbeitnehmer seine Familie am bisherigen Wohnort beläßt, weil er am Arbeitsort keine geeignete und gleichwertige Wohnung findet oder weil er den bisherigen Wohnort für sich und die Familie aus persönlichen Gründen bevorzugt oder weil er wegen der Berufstätigkeit der Ehefrau den Familienwohnort nicht verlegen will. Unerheblich ist auch, wie weit die Familienwohnung und der Arbeitsort voneinander entfernt liegen, sofern nicht im Einzelfall die Umstände erkennen lassen, daß Gründe, die nur persönlich sind und mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun haben, die Wahl des Wohnorts bestimmten. Grundsätzlich kann der Arbeitnehmer auch frei bestimmen, wie oft er vom Arbeitsort aus zu seiner Familie heimkehren und welches Verkehrsmittel er dabei benutzen will. Seine nachgewiesenen Kosten kann er in allen Fällen als Werbungskosten geltend machen. Der Senat hat bisher z. B. die Kosten für Flugreisen in Sonderfällen als Werbungskosten anerkannt (Urteile VI 209/64 vom 29. Januar 1965, HFR 1965 S. 373, "Der Betrieb" 1965 S. 1386; VI 14/65 U vom 3. November 1965, BStBl 1966 III S. 75). An der Beschränkung auf Sonderfälle hält er nicht mehr fest.
Der Senat tritt dem BdF darin bei, daß die beamtenrechtlichen Vorschriften über die Erstattung von Kosten für Familienheimfahrten für die allgemeine Abgrenzung der Werbungskosten ohne Bedeutung sind, wie bereits im Urteil VI 200/61 U (a. a. O.) ausgesprochen ist.
Der Arbeitnehmer hat dem FA die tatsächlich entstehenden Fahrtkosten im Rahmen des Zumutbaren darzutun und auf Verlangen zu belegen (ß 171 AO). Ist im Lohnsteuerkarten-Eintragungsverfahren ungewiß, welche Fahrtkosten dem Arbeitnehmer in Zukunft voraussichtlich entstehen werden, so kann das Verfahren der vorläufigen Eintragung nach § 40 Abs. 3 Satz 1 EStG (ß 27 Abs. 4 LStDV) angewandt werden.
Nach diesen Grundsätzen konnte das FG im Streitfall die Ausgaben des Stpfl. für die wöchentlichen Familienheimfahrten mit der Bundesbahn in vollem Umfang als Werbungskosten ansetzen, gleichviel, ob der Stpfl. sich um eine Wohnung am Arbeitsort bemüht oder aus welchen Gründen er sich für die Beibehaltung der Wohnung am bisherigen Wohnort entschieden hatte. Die Entfernung von etwa 100 km ist bei den heutigen Verhältnissen auch nicht so erheblich, daß Anlaß zur Prüfung besteht, ob etwa vorwiegend Gründe der persönlichen Lebensgestaltung oder Annehmlichkeit den Stpfl. zur Beibehaltung des bisherigen Wohnorts bestimmt haben könnten.
Die Vorentscheidung war trotzdem aufzuheben, weil das FG die Zahl der Familienheimfahrten und die Höhe der Fahrtkosten nicht ausreichend festgestellt hat. Der Stpfl. war aufgefordert worden anzugeben, an wieviel Tagen er im Jahr 1963 gearbeitet hatte und wie oft er zu seiner Familie gefahren sei. Der Stpfl. beantwortete die Frage nach der Zahl der Familienheimfahrten nicht genau. Nach den Stempeln auf den eingereichten Anträgen auf Arbeiterrückfahrkarten hatte er nur 47 Familienheimfahrten gemacht. Das FG muß dem Stpfl. Gelegenheit geben, darzutun, ob er im Jahre 1963 noch etwa weitere Fahrten zum normalen Tarif gemacht hat. Es muß ferner die Höhe der Fahrpreise feststellen.
Unbegründet ist die Revision, soweit der Stpfl. den Abzug des Zeitwerts der Vermögensabgabe begehrt. Gemäß § 211 Abs. 1 Ziff. 1 LAG in der Fassung vom 1. Dezember 1965 (BStBl 1966 I s. 118) können nur die in Vermögensabgabe-Vierteljahresbeiträgen enthaltenen Zinsanteile, nicht aber die sofort fällig gestellten Abgabeleistungen in Höhe des Zeitwerts der Vermögensabgabe als Sonderausgaben abgezogen werden, wie das FG rechtlich einwandfrei ausgeführt hat. Die Tilgung dieser Schuld führt auch nicht zu Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung.
Die geltend gemachten Ansprüche wegen des Zinsverlustes kann der Senat in diesem Verfahren nicht prüfen. Diese Ansprüche kann der Stpfl. nur nach § 111 FGO gesondert geltend machen.
Fundstellen
Haufe-Index 412012 |
BStBl III 1966, 386 |
BFHE 1966, 39 |
BFHE 86, 39 |