Leitsatz (amtlich)
1. Ein Antrag auf mündliche Verhandlung liegt auch in der Absichtserklärung des Klägers, den festzusetzenden Steuerbetrag noch in einer mündlichen Verhandlung bestimmen zu wollen (Anschluß an BFH-Beschluß vom 9.Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679).
2. Beantragt der Kläger, das Klageverfahren gemäß § 74 FGO wegen einer beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerde (Parallelverfahren) auszusetzen, und kündigt er an, die Klage zurückzunehmen, falls das BVerfG zu seinem Nachteil entscheide, so kann das Ermessen des FG in dem Sinne auf Null reduziert sein, daß das Klageverfahren auszusetzen ist.
3. Die nach § 74 FGO vorgreifliche Entscheidung bzw. Feststellung muß für das auszusetzende Verfahren nicht bindend sein.
4. Durch die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO soll u.a. verhindert werden, daß der BFH bzw. das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle "überschwemmt" werden, ohne daß dies der Klärung des vorgreiflichen Rechtsproblems dient.
Orientierungssatz
1. In den Fällen der zulassungsfreien Verfahrensrevision ist der BFH als Revisionsgericht auf die Prüfung der Verfahrensfehler i.S. des § 116 Abs. 1 FGO beschränkt. Ist deshalb eine auf § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO gestützte Revision begründet, so ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. § 126 Abs. 4 FGO findet in einem solchen Fall keine Anwendung (vgl. Literatur).
2. Ein Beteiligter ist im Verfahren vor dem FG nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten (§ 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO), wenn das FG in einem Rechtsstreit mit einem Streitwert bis zu 500 DM ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, obwohl ein Beteiligter eine solche nach Art. 3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG beantragt hatte (vgl. BFH-Beschluß vom 9.6.1986 IX B 90/85).
3. Parallelentscheidung: BFH, 18.7.1990, I R 10/90, NV.
4. Parallelentscheidung: BFH, 18.7.1990, I R 11/90, NV.
Normenkette
FGO §§ 74, 116 Abs. 1 Nr. 3, § 126 Abs. 4; VGFGEntlG Art. 3 § 5 S. 2
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte vor dem Niedersächsischen Finanzgericht (FG) gegen den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA-) wegen Einkommensteuer 1983 geklagt, weil das FA nach Auffassung des Klägers die Einkommensteuer 1983 unter Anwendung des Progressionsvorbehalts gemäß § 32b des Einkommensteuergesetzes (EStG) um 357 DM zu hoch festgesetzt hatte. Im Klageantrag zur Klageschrift vom 16.Dezember 1988 hatte der Kläger sinngemäß beantragt, die Einkommensteuer 1983 "auf einen entsprechend dem spätestens in der mündlichen Verhandlung bestimmten Betrag herabzusetzen". Aus der Klagebegründung ergibt sich, daß die Klage nur vorsorglich mit Rücksicht auf eine beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1176/88 anhängige Verfassungsbeschwerde erhoben wurde. Der Kläger beantragt ausdrücklich, das Klageverfahren ruhen zu lassen, bis über die Verfassungsbeschwerde entschieden sei. Er kündigte an, die Klage zurückzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen werde.
Das FG wies die Klage durch eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß Art.3 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) aus den Gründen der Einspruchsentscheidung des FA ab. Es verzichtete auf die Darstellung eigener Entscheidungsgründe gemäß § 105 Abs.5 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Das Urteil wurde dem Kläger am 24.November 1989 zugestellt. Er legte am 20.Dezember 1989 beim FG eine nur auf § 116 Abs.1 Nr.3 FGO gestützte Revision ein. Zur Begründung legte er dar, daß er vor dem FG nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten gewesen sei, weil das FG unter Verletzung des Art.3 § 5 VGFGEntlG ohne mündliche Verhandlung über die Klage entschieden habe.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Niedersächsischen FG vom 17.Oktober 1989 VIII 828/88 aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. A. Die Revision ist zulässig.
Nach § 116 Abs.1 Nr.3 FGO kann gegen das Urteil eines FG auch ohne Zulassung Revision eingelegt werden, wenn sie auf den in der Vorschrift genannten besonders schweren Verfahrensmangel gestützt wird. Dem genügt die vom Kläger am 20.Dezember 1989 eingelegte Revision. Sie wird auf die Behauptung gestützt, das FG habe in einem Rechtsstreit mit einem Streitwert bis zu 500 DM ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden, obwohl der Kläger eine solche nach Art.3 § 5 VGFGEntlG beantragt hatte. Der Kläger trägt insoweit vor, der von ihm in der Klageschrift gestellte Antrag beinhalte die Prozeßerklärung, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu wünschen. Hierin hat der IX.Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) in einem vergleichbaren Fall einen Verfahrensfehler i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3 FGO gesehen (Beschluß vom 9.Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679).
B. Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. Ein Beteiligter ist im Verfahren vor dem FG nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten, wenn das FG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, obwohl ein Beteiligter eine solche nach Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG beantragt hatte (vgl. BFH in BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679). Dazu ergibt sich aus dem Rubrum und den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung, daß das FG über die Klage des Klägers wegen Einkommensteuer 1983 ohne mündliche Verhandlung entschied. Ferner ergibt sich aus der Klagebegründung des Klägers, daß der Streitwert unter 500 DM lag. Bei dieser Sachlage ist es von entscheidungserheblicher Bedeutung, daß nach dem Antrag laut Klageschrift des Klägers beantragt wurde, die Einkommensteuer 1983 auf einen in der mündlichen Verhandlung endgültig zu bestimmenden Steuerbetrag herabzusetzen. Der IX.Senat des BFH hat in BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679 eine vergleichbare Erklärung dahin interpretiert, daß der Kläger die Durchführung der mündlichen Verhandlung wünschte. Dieser Auffassung schließt der erkennende Senat sich an. Dann aber mußte das FG im Streitfall von Art.3 § 5 Satz 2 VGFGEntlG ausgehen. Es mußte mündlich verhandeln. Das tatsächlich ohne mündliche Verhandlung erlassene Urteil vom 17.Oktober 1989 beruht auf einem Verfahrensfehler i.S. des § 116 Abs.1 Nr.3 FGO.
2. Nach allgemeiner Auffassung ist der BFH als Revisionsgericht in den Fällen der zulassungsfreien Verfahrensrevision auf die Prüfung der Verfahrensfehler i.S. des § 116 Abs.1 FGO beschränkt (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 116 Rdnr.4 m.w.N.). Ist deshalb die auf § 116 Abs.1 Nr.3 FGO gestützte Revision begründet, so ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, ohne daß dem BFH eine Entscheidung in der materiellen Streitfrage gestattet wäre. § 126 Abs.4 FGO findet in einem solchen Fall keine Anwendung (Gräber/Ruban, a.a.O., § 126 Rdnr.7 m.w.N.).
3. Für den zweiten Rechtszug weist der erkennende Senat vorsorglich auf folgendes hin:
a) Obwohl die Entscheidung gemäß § 74 FGO über die Aussetzung des Klageverfahrens eine Ermessensentscheidung des FG ist, kann ein Verfahrensfehler anzunehmen sein, wenn das FG sein Ermessen fehlerhaft ausübt. Das FG muß bei seiner Entscheidung prozeßökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abwägen. Sprechen alle Erwägungen ausschließlich oder doch ganz überwiegend für die Aussetzung des Verfahrens, so ist das Ermessen des FG in dem Sinne auf Null reduziert, daß das Klageverfahren ausgesetzt werden muß.
b) Bei der Abwägung prozeßökonomischer Gesichtspunkte hat das FG zu beachten, daß die vorgreifliche Entscheidung bzw. Feststellung für das auszusetzende Verfahren nicht bindend sein muß (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 74 Rdnr.2). Es genügt, daß das andere Verfahren irgendwie für die Entscheidung erheblich ist, d.h. daß es irgendeinen rechtlichen Einfluß auf das auszusetzende Verfahren hat (vgl. BFH-Urteil vom 16.Dezember 1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600). Durch die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO soll u.a. verhindert werden, daß der BFH bzw. das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle "überschwemmt" werden, ohne daß dies der Klärung des vorgreiflichen Rechtsproblems dienen würde. Droht deshalb ein entsprechendes "Überschwemmen" im Falle der Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens, so spricht auch dies dafür, daß ausgesetzt werden muß. Schließlich hat das FG seine eigene Arbeitsbelastung zu berücksichtigen. Es geht nicht an, Entscheidungen in Verfahren vorzuziehen, deren Aussetzung gemäß § 74 FGO ausdrücklich beantragt wurde, wenn dafür ältere und gewichtigere Verfahren liegen bleiben müssen.
c) Die Interessen der Beteiligten sprechen jedenfalls dann für eine Aussetzung des Verfahrens, wenn sie diese Aussetzung beantragen. Beantragt nur der Kläger die Aussetzung gemäß § 74 FGO, so kann es auf den Widerspruch des FA dann nicht ankommen, wenn dafür keine schützenswerten Interessen geltend gemacht werden können. Daran wird es regelmäßig fehlen, wenn die Aussetzung des Verfahrens mit Rücksicht auf eine beim BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde mit der Ankündigung beantragt wird, die Klage zurücknehmen zu wollen, wenn das BVerfG zum Nachteil des Antragstellers entscheidet. In einem solchen Fall sprechen regelmäßig alle vernünftigen Gründe für eine Aussetzung des Verfahrens, weshalb dem Antrag stattzugeben ist.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs.2 FGO. Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Revisionsverfahren war gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes wegen unrichtiger Sachbehandlung durch das FG abzusehen.
Fundstellen
Haufe-Index 63107 |
BFHE 161, 409 |
BB 1990, 2179 (L) |
DB 1990, 2306 (LT) |
DStR 1990, 631 (KT) |
DStZ 1991, 218 (KT) |
HFR 1990, 691 (LT) |
StE 1990, 386 (K) |