Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, beamtenrechtliche Fürsorgepflicht
Leitsatz (NV)
1. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat.
2. Die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht gilt nicht für die Festsetzung von Kindergeld.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat eine im Jahr 1986 geborene Tochter, die sich seit dem 1. September 2004 in Ausbildung zur Industriekauffrau befand.
In der Erklärung zu den voraussichtlichen Einkünften und Bezügen der Tochter für das Kalenderjahr 2005 vom 11. März 2005 gab der Kläger einen Bruttoarbeitslohn von 9 457 € an; Werbungskosten machte er nicht geltend. Mit Bescheid vom 22. April 2005 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter ab Januar 2005 auf, da deren Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2005 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2005 geltenden Fassung) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Mit Schreiben vom 1. Juni 2005 bat der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) um Nachzahlung des Kindergeldes, da die Einkünfte seiner Tochter nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge und des Arbeitnehmer-Pauschbetrages in Höhe von 920 € den Jahresgrenzbetrag nicht überschritten. Das BVerfG hatte in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Mit Bescheid vom 8. August 2005 setzte die Familienkasse daraufhin ab Mai 2005 Kindergeld fest. Für die Monate Januar bis April 2005 lehnte sie die Festsetzung von Kindergeld ab, da mit dem Bescheid vom 22. April 2005 die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig aufgehoben worden sei. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Im finanzgerichtlichen Verfahren legte der Kläger den Einkommensteuerbescheid der Tochter für das Jahr 2005 vor, in dem der Bruttoarbeitslohn mit 10 219 € und die Werbungskosten mit 1 613 € angesetzt waren. Die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge betrugen nach der vorgelegten Verdienstbescheinigung insgesamt 2 188 €. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom 8. August 2005, dem Kläger für die Monate Januar bis April 2005 Kindergeld zu gewähren. Es führte im Wesentlichen aus, die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 22. April 2005 stehe einer Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum nicht entgegen, da der Bescheid insoweit nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren sei.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis April 2005 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr (2005) hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 22. April 2005 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2005 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2005 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende April 2005 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 22. April 2005 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Der Bescheid vom 22. April 2005 ist entgegen der Auffassung des FG nicht nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag --wie im Streitfall-- allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur dann die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
4. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Familienkasse --entgegen der Auffassung des Klägers-- zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheids vom 22. April 2005 keine Kenntnis von der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 haben konnte.
Nach § 30 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 BVerfGG entscheidet das BVerfG in geheimer Beratung. Anschließend wird die Entscheidung schriftlich abgefasst, begründet und von den Richtern, die an ihr mitgewirkt haben, unterzeichnet. Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, ist die Entscheidung sodann öffentlich zu verkünden. Hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden, wird die Entscheidung den Beteiligten bekanntgegeben (§ 30 Abs. 3 BVerfGG). Bei öffentlichem Interesse an der Entscheidung ergehen Presseverlautbarungen, die vom Vorsitzenden und Berichterstatter gebilligt werden müssen und erst veröffentlicht werden dürfen, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Beteiligten zugegangen ist (§ 32 der Geschäftsordnung des BVerfG). In der Regel gibt die zuständige Geschäftsstelle die Pressemitteilungen einen Tag nach Veranlassung der Bekanntgabe hinaus (Schraft-Huber in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl., § 17a Rz 54). Da die Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 datiert, konnte auch die Familienkasse erst im Mai 2005 von der Entscheidung des BVerfG Kenntnis erlangt haben.
Ferner war die Familienkasse im Streitfall -entgegen der Auffassung des Klägers- nicht aufgrund der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht verpflichtet, den Kläger nach Erlass des Aufhebungsbescheids auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 hinzuweisen bzw. den Aufhebungsbescheid von Amts wegen aufzuheben. Dies schon deshalb nicht, weil die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht für die Festsetzung von Kindergeld nicht gilt. Denn juristische Personen des öffentlichen Rechts, welche das Kindergeld als Steuervergütung (vgl. § 31 Satz 3 EStG) festsetzen, sind insoweit nach § 72 Abs. 1 Satz 2 EStG Familienkasse und damit Finanzbehörde im Sinne der AO (vgl. auch Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 72 Rz 3).
Fundstellen
Haufe-Index 1802888 |
BFH/NV 2007, 2083 |