Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Erlaß von Säumniszuschlägen
Leitsatz (NV)
Der Verwaltungsentscheidung, mit der ein (auch) auf sachliche Billigkeitsgründe gestützter und Steuerschulden und Säumniszuschläge betreffender Erlaßantrag abgelehnt wird, liegt nur dann eine vollständige Ermessensprüfung zu Grunde, wenn die Begründung der Entscheidung spezielle selbständige Erwägungen zur Frage des Erlasses der Säumniszuschläge enthält.
Normenkette
AO 1977 §§ 5, 227, 240; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb ein Spielwaren-Einzelhandelsgeschäft. Wegen seiner zwischen 1975 und 1979 fällig gewordenen Steuerschulden gewährte ihm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) wiederholt Vollstreckungsaufschub und entsprach den Abzahlungsvorschlägen des Klägers mit der Auflage, daß neben den Tilgungsraten die laufenden Steuerzahlungen erbracht würden. Diese Zahlungsabreden hat der Kläger jedoch nie eingehalten.
Nachdem am 8. Januar 1979 seine Geschäftsräume vollständig ausgebrannt waren, beantragte der Kläger beim FA, ihm die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Steuerschulden (insgesamt: 64 961,55 DM; davon 13 425 DM Säumniszuschläge - Sz) gemäß § 227 AO 1977 aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
Zur Begründung seines Erlaßbegehrens trug der Kläger vor, er könne sein Geschäft kurzfristig nicht wieder aufnehmen. Auch habe er keine Aussicht, durch das Arbeitsamt als leitender Angestellter mit einem entsprechenden Gehalt vermittelt zu werden. Er besitze zwar zusammen mit seiner Ehefrau eine im Jahre 1972 für 39 283,88 DM erworbene und vermietete Eigentumswohnung mit einem geschätzten Verkehrswert von ca. 70 000 DM und ein im Jahre 1974 für 162 500 DM erworbenes, eigengenutztes Einfamilienhaus mit einem geschätzten Verkehrswert von ca. 200 000 DM. Auch verfüge er über ein Vermögen (einschließlich Hausrat und Bargeld) in geschätzter Höhe von 3 300 DM. Dem stünden jedoch eine Überschuldung des Betriebsvermögens in Höhe von 107 700 DM sowie Privatschulden in Höhe von 203 000 DM gegenüber. Die aus der Feuerversicherung zu erwartende Entschädigung sei an Warenlieferanten wegen bestehender Schulden und vereinbarter Eigentumsvorbehalte verpfändet.
Am 23. April 1979 lehnte das FA den Erlaßantrag mit der Begründung ab, Unbilligkeit aus sachlichen Gründen scheide offensichtlich aus. Persönliche Billigkeitsgründe seien ebenfalls nicht gegeben, weil in der Zeit zwischen 1967 und der letzten Veranlagung im Jahre 1977 durchweg Gewinne erzielt worden seien. Hohe private Verschuldung könne nicht durch einen Steuererlaß ausgeglichen werden. Außerdem sei die wirtschaftliche Situation ausreichend durch das Entgegenkommen der Vollstreckungsstelle in der Vergangenheit (Ratenabkommen u. ä.) berücksichtigt worden. Bei der Entscheidung über einen Erlaß von Steuern und Sz sei auch stets die Erlaßwürdigkeit zu prüfen und in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß der Kläger die mit der Vollstreckungsstelle getroffenen Ratenabkommen nicht eingehalten habe.
Ende April/Anfang Mai 1979 eröffnete der Kläger ein neues Geschäft für Modellbau-Spielzeug, in dem auch seine Ehefrau, ebenso wie im früheren Geschäft, als Angestellte halbtags tätig ist.
Die zwischenzeitlich eingelegte Beschwerde wurde durch die Oberfinanzdirektion (OFD) zurückgewiesen, und zwar im wesentlichen mit der Begründung, in der Erhebung der rückständigen Beträge liege weder eine sachliche noch eine persönliche Unbilligkeit. Der Kläger habe sich in der Vergangenheit selbst dann nicht um die Tilgung der Steuerrückstände bemüht, wenn seine wirtschaftliche Lage dies zugelassen habe, wie eine Gegenüberstellung der Gewinnzahlen in den Jahren 1974 bis 1977 und der Entnahmen im gleichen Zeitraum zeige. Weder damit noch mit der Höhe der Rückstände habe der Brand irgendwelche Berührungspunkte. Zwar befinde sich der Kläger nach seinen Angaben zur Zeit in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Diese augenblickliche Zahlungsschwäche rechtfertige jedoch keinen Billigkeitserlaß, weil diese Situation im wesentlichen selbst verschuldet sei. Berücksichtigt werden müsse auch, daß dem Kläger über Jahre hin Vollstreckungsaufschub gewährt worden sei, er aber die in diesem Zusammenhang vereinbarten Ratenzahlungen nicht eingehalten habe. Unter diesen Umständen bedeute ein Erlaß, auch angesichts des Alters des Klägers, eine unangemessene Begünstigung. Er dürfe seine Steuerschulden nicht hinter anderen Verpflichtungen zurückstehen lassen, wie er das durch die Begleichung seiner privaten Schulden getan habe.
Auch die Klage blieb erfolglos. Sie wurde vom FG vor allem wegen fehlender Erlaßwürdigkeit abgewiesen. Zu dem vom Kläger begehrten Erlaß der Sz enthalten weder das FG-Urteil noch die vorausgegangenen Entscheidungen der Finanzverwaltung besondere Erwägungen.
Mit der Revision begehrte der Kläger zunächst Erlaß von Abgaben in Höhe von insgesamt 51 303,60 DM (Steuern in Höhe von 30 490,60 DM und Sz in Höhe von 20 813 DM), und zwar unter Bezugnahme auf einen Kontoauszug der Steuerkasse des FA vom 5. November 1980.
Dieses Begehren änderte er später, nach Ablauf der Revisions- und Revisionsbegründungsfrist, auf Steuern und Sz im Gesamtbetrag von 64 961,55 DM, d. h. auf die Beträge, die den bisherigen Gegenstand des Verfahrens gebildet hatten. Mit weiterem Schriftsatz vom 30. September 1987 (Eingang beim BFH: 1. Oktober 1987) schränkte er sein Begehren auf den Erlaß der Sz in Höhe von 13 425 DM ein. Damit wendet sich der Kläger dagegen, daß die Ablehnung seines auf den Erlaß der Sz gerichteten Antrags bisher keine besondere Würdigung erfahren habe. Der Gesichtspunkt der Überschuldung sei ebenso unberücksichtigt geblieben wie derjenige, daß die Höhe der in Frage stehenden Sz zum Teil auf - im Vergleich zu den späteren Veranlagungen - überhöhten Steuervorauszahlungen beruhe.
Der Kläger beantragt, das FA unter Aufhebung des angefochtenen FG-Urteils sowie der ablehnenden Entscheidungen des FA und der OFD zum Erlaß von Sz in Höhe von 13 425 DM zu verpflichten.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die auf die Sz begrenzte Revision ist begründet.
Das FG-Urteil enthält eine Rechtsverletzung insofern, als es unberücksichtigt läßt, daß weder FA noch OFD das auf Erlaß der Sz gerichtete Begehren des Klägers einer selbständigen Prüfung unterzogen haben. Das wäre erforderlich gewesen, weil es sich insoweit um selbständige Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i. S. des § 37 AO 1977 handelt, die einer selbständigen rechtlichen Würdigung gerade auch im Erlaßverfahren bedürfen.
Gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 können Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen gemäß § 37 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 3 AO 1977 auch die Ansprüche auf Sz zählen, ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.
Die Entscheidung hierüber ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Das bedeutet, daß die Gerichte die Rechtmäßigkeitsprüfung von Verwaltungsakten, die ein Erlaßbegehren ablehnen, darauf zu beschränken haben, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. auch § 5 AO 1977). Zum erstgenannten Fall der Verletzung äußerer Ermessensgrenzen zählt auch der Fall der Ermessensunterschreitung, daß nämlich die Behörde von der ihr gesetzlich zugestandenen Befugnis der Ermessensausübung keinen Gebrauch gemacht hat (Tipke/Kruse, AO/FGO, 12. Aufl., § 5 AO 1977 Tz. 20, m. w. N.). Ein solcher Verstoß ist hier darin zu sehen, daß eine spezielle Prüfung des auf Erlaß der Säumniszuschläge gerichteten Begehrens des Klägers unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Unbilligkeit unterblieben ist. Die Erwägungen, die Finanzbehörden und Vorinstanz zur Erlaßwürdigkeit angestellt haben, sind in diesem Zusammenhang unbeachtlich, weil der Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen Erlaßwürdigkeit nicht voraussetzt (Tipke/Kruse, a. a. O., § 227 AO 1977 Tz. 49 ff., m. w. N.).
Ein Abgabenerlaß aus sachlichen Gründen setzt voraus, daß die Einziehung der Abgabe im Einzelfall, vor allem mit Rücksicht auf den gesetzlichen Zweck ihrer Erhebung, nicht mehr zu rechtfertigen ist (Urteil des BFH vom 13. Juli 1976 VIII R 236/72, BFHE 119, 443, BStBl II 1977, 125, 126) oder daß sie den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 490 f.). Weil aber die Wertungen des Gesetzgebers schon bei der Auslegung des gesetzlichen Abgabentatbestands zu berücksichtigen sind, müssen bei der Billigkeitsprüfung solche Erwägungen grundsätzlich unbeachtet bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt (vgl. die zuvor zitierten BFH-Urteile, m. w. N.).
Für den Erlaß von Sz, die gemäß § 240 Abs. 1 AO 1977 - ebenso wie früher nach § 1 StSäumG - schon dann zu entrichten sind, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird, bedeutet dies vorab, daß es auf die Frage des Verschuldens des Klägers bei der Säumnis im Rahmen der Erlaßprüfung ebensowenig ankommt wie auf sonstige Begleitumstände. Das in der Revisionsbegründung vorgetragene Argument überhöhter Vorauszahlungen geht daher fehl. Außerdem ist nicht erkennbar, daß es dem Kläger nicht möglich und nicht zumutbar gewesen wäre, die zu Grunde liegenden Vorauszahlungsfestsetzungen rechtzeitig anzugreifen (BFH-Urteil vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611). Als fehlerhaft indessen erweist sich das angefochtene Urteil, weil es die Verwaltungsentscheidungen bestätigt, obgleich diese keine Ermessenserwägungen zur Erhebung der Sz enthalten. Insoweit aber war eine besondere Prüfung unter dem Gesichtspunkt sachlicher Unbilligkeit unerläßlich. Nach neuerer Rechtsprechung des BFH ist es als mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar und als zwingender sachlicher Grund für den Erlaß von Sz anzusehen, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung von Steuern wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich war und die Ausübung des mit der Erhebung von Sz beabsichtigten Zahlungsdrucks daher ihren Sinn verloren hatte (BFH-Urteile vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; vom 8. März 1984 I R 44/80, BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415, und in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Dieser Gedanke ist inzwischen dahin weiterentwickelt worden, daß ein Erlaß von Sz aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht in jedem Falle Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen im konkursrechtlichen Sinne voraussetzt (Urteil in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 491 f.; vgl. auch Birk, DStR 1987, 388). Vielmehr kann die Anforderung von Sz im Einzelfall z. B. auch dann sachlich unbillig sein, wenn die einstweilige Verschonung von der Zwangsvollstreckung im Wege des Vollstreckungsaufschubs an Stelle einer an sich möglichen oder gebotenen Stundung gewährt wurde. Hierbei kommt hauptsächlich solchen Fällen Bedeutung zu, in denen Ratenzahlungen als Maßnahmen i. S. des § 258 AO 1977 eingeräumt wurden, um auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen für eine längere Zeitspanne Rücksicht zu nehmen. Richteten sich in einem solchen Fall die vereinbarten Raten nach der äußersten Grenze der Zahlungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, so kann regelmäßig davon ausgegangen werden, daß die Säumniszuschläge ihren Zweck als Druckmittel zur Zahlung des gesamten Steuerbetrages verloren hatten (Urteil in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 492).
Im Streitfall ist nicht auszuschließen, daß Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Klägers zu den maßgeblichen (Fälligkeits-)Zeitpunkten einen (Teil-)Erlaß sachlich rechtfertigen. Vor allem aber muß die Möglichkeit einer solchen Billigkeitsmaßnahme unter Berücksichtigung der Vollstreckungsverschonung und der hierfür maßgebenden Gründe erwogen werden. Die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen und Ermessensüberlegungen sind vom FA nachzuholen.
Um letzteres zu ermöglichen, waren das angefochtene Urteil ebenso wie die in dieser Sache ergangenen Verwaltungsentscheidungen insoweit aufzuheben, als sie einer Neubescheidung des Erlaßbegehrens des Klägers hinsichtlich der Sz entgegenstehen (§ 101 Satz 2, § 126 Abs. 3 FGO).
Wegen des weitergehenden, auf Verpflichtung zum Erlaß gerichteten Begehrens (§ 101 Satz 1 FGO), war die Revision, soweit sie der Kläger nicht mit Schriftsatz vom 30. September 1987 (am 1. Oktober 1987) zurückgenommen hat (§ 125 Abs. 1 FGO), mangels Spruchreife zurückzuweisen - dies allerdings ohne Kostennachteile für den Kläger (Tipke/Kruse, a. a. O., § 101 FGO Tz. 5).
Der nach § 143 Abs. 1 FGO zu treffenden Kostenentscheidung waren im Hinblick auf die Teilrücknahme zwei Streitwerte zu Grunde zu legen (BFH-Urteil vom 6. Juni 1984 II R 184/81, BFHE 141, 333): Das ergab (unter Berücksichtigung des weitestgehenden, auf Erlaß in Höhe von 64 961,55 DM gerichteten Antrags und des Klageerfolgs) für die Zeit bis zum 30. September 1987 einen Kostenanteil des Klägers von 4/5 und einen solchen des Beklagten von 1/5 (§ 136 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 135 Abs. 1 und § 136 Abs. 2 FGO). Für die Zeit ab 1. Oktober 1987 hat die gesamten Kosten des Revisionsverfahrens das FA zu tragen (§ 135 Abs. 1 FGO; zur Selbständigkeit der in Frage stehenden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis und der entsprechenden Streitgegenstände vgl. BFH-Urteil vom 19. Oktober 1982 VII R 45/80, BFHE 136, 449, BStBl II 1983, 51).
Fundstellen
Haufe-Index 415397 |
BFH/NV 1988, 546 |