Leitsatz (amtlich)
Ein rechtskräftig abgeschlossener LStJA kann nicht allein deswegen wieder aufgerollt werden, weil der Steuerpflichtige nachträglich eine amtsärztliche Bescheinigung beibringt, in der rückwirkend eine höhere Erwerbsbeschränkung festgestellt wird, als sie bei dem LStJA auf Grund einer damals vorgelegten amtsärztlichen Bescheinigung angesetzt worden ist.
Normenkette
EStG § 33a Abs. 6, § 51 Abs. 1 Nr. 3; EStDV § 65; StAnpG § 4 Abs. 3 Nr. 2
Tatbestand
Das zuständige Gesundheitsamt hat dem Kläger und Revisionsbeklagten (Steuerpflichtigen) am 11. November 1965 amtsärztlich bescheinigt, daß er seit 1954 zu 70 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Bis dahin hat der Steuerpflichtige eine Bescheinigung besessen, wonach seine Erwerbsfähigkeit nur um 25 v. H. gemindert ist.
Der Steuerpflichtige beantragte noch im Jahre 1965 auf Grund der Bescheinigung vom 11. November 1965 bei dem FA – Beklagten und Revisionskläger –, nachträglich durch Gewährung der steuerfreien erhöhten Pauschbeträge die geminderte Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen und die seit dem Jahre 1954 überzahlte Lohnsteuer zu erstatten. Das FA lehnte eine rückwirkende Erstattung unter Hinweis auf das Urteil des BFH VI 227/64 U vom 23. April 1965 (BFH 82, 396, BStBl III 1965, 391) ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Mit der Klage beantragte der Steuerpflichtige die Erstattung von Lohnsteuer für die Jahre 1954 bis 1963. Er machte dabei insbesondere geltend, er sei im Jahre 1955 durch eine unrichtige Auskunft seitens des zuständigen Sachgebietsleiters des FA daran gehindert worden, sich sogleich um eine zutreffende Bescheinigung durch das Gesundheitsamt zu bemühen.
Die Klage hatte Erfolg, und zwar im wesentlichen aus folgenden Gründen: Nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 und Abs. 2 StAnpG seien zuviel gezahlte Steuern zu erstatten, wenn ein Merkmal, dessen Vorliegen das Gesetz für die Steuerermäßigung oder für eine sonstige Steuervergünstigung fordere, nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit weggefallen sei. Die amtsärztliche Bescheinigung über den Grad der Erwerbsminderung sei ein Merkmal in diesem Sinn. Die Bescheinigung sei nicht nur ein Beweismittel, sondern unbedingte Voraussetzung für die steuerliche Anerkennung der Erwerbsminderung. Der BFH habe selbst im Urteil VI 313/64 vom 30. November 1966 (BFH 88, 407, BStBl III 1967, 457) entschieden, daß die Steuerbehörden hinsichtlich des Beginns, des Endes und der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit an die Feststellungen der Gesundheits- und Versorgungsbehörden gebunden seien. Werde die Feststellung des Amtsarztes für die Vergangenheit geändert, so sei folglich ein Besteuerungsmerkmal mit Wirkung für die Vergangenheit weggefallen.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es trägt vor: Merkmal im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG sei der tatsächliche Lebensvorgang (Sachverhalt). „Merkmal” sei also nicht der für einen Sachverhalt zu erbringende Beweis. Im Streitfall sei die Erwerbsminderung des Steuerpflichtigen als Merkmal aufzufassen. Die Erwerbsminderung habe aber bereits 1954 bestanden, wenn der Steuerpflichtige sie auch erst später in vollem Umfang bewiesen habe. Versäume es ein Steuerpflichtiger, einen Sachverhalt zu belegen, dann könne er nicht in späteren Jahren durch Vorlage von Beweismitteln die Änderung inzwischen unanfechtbarer Steuerfestsetzungen erreichen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist begründet.
Nach § 33a Abs. 6 EStG sind wegen der außergewöhnlichen Belastung Körperbehinderter durch Rechtsverordnung Pauschbeträge festzusetzen, die nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu staffeln sind. Diesem Auftrag ist der Verordnungsgeber in § 65 EStDV nachgekommen. Die Bundesregierung konnte auf Grund der ihr in § 51 Abs. 1 Nr. 3 EStG erteilten allgemeinen Ermächtigung zur Durchführung des § 33a Abs. 6 EStG auch die von ihr erstmals in § 65 Abs. 3 EStDV 1960 bestimmte Form des Nachweises anordnen, weil sie damit dem Vereinfachungsgedanken, auf dem § 33a Abs. 6 EStG beruht, entsprochen hat (vgl. das Urteil des Senats VI 313/64, a. a. O.).
Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, sind die Finanzbehörden nach dem vorgenannten Urteil an die gemäß § 65 Abs. 3 EStDV 1960 erfolgten Nachweise der Amtsärzte gebunden. Sie haben kein eigenes Nachprüfungsrecht; sie haben auch keine Möglichkeit, in anderer Weise die Feststellung zu treffen, ob und in welchem Grad der Steuerpflichtige erwerbsbeschränkt ist. Gleichwohl ist die amtsärztliche Bescheinigung entgegen der Auffassung des FG lediglich ein Beweismittel für die Erwerbsminderung, nicht aber „Merkmal” im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG.
Merkmal im Sinne der vorgenannten Vorschrift ist nicht das abstrakte Tatbestandsmerkmal eines Steuergesetzes selbst, sondern das konkrete Sachverhaltsmerkmal im Sinne eines rein tatsächlichen Lebensvorgangs bzw. des Einmündens eines solchen Lebensvorgangs in einen außersteuerrechtlichen gesetzlichen Tatbestand als eines steuerrechtlich bedeutsamen Sachverhalts (vgl. die Urteile des BFH II 162/62 U vom 4. März 1964, BFH 79, 210, BStBl III 1964, 308; I 143/64 S vom 28. Oktober 1964, BFH 81, 542, BStBl III 1965, 196). Der nachträgliche Wegfall eines Merkmals im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG bedeutet folglich, daß sich der Sachverhalt, der bei Erlaß des ursprünglichen Bescheides vorgelegen hat, durch eine nach Erlaß des Bescheides eingetretene Entwicklung geändert hat. Es genügt nicht, daß später lediglich Tatsachen bekannt werden, die bei Erlaß des ursprünglichen Bescheides bereits vorhanden gewesen sind (vgl. Woerner, Die Zurücknahme und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 2. Aufl., 1968, S. 98 f.). Bei anderer Würdigung eines gleichgebliebenen Sachverhalts auf Grund eines neuen Beweismittels ist das neue Beweismittel also kein Merkmal im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG (vgl. auch v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 4 StAnpG, Anm. 5 am Ende).
Die amtsärztliche Bescheinigung über die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist, wie der Senat schon in dem Urteil VI 227/64 U, a. a. O., dargelegt hat, trotz ihrer Bindungswirkung für die Finanzbehörden nur ein Beweismittel (vgl. auch Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar 2.-3. Aufl., § 4 StAnpG Anm. 4, S. 1390, und Heinlein, Deutsches Steuerrecht 1969 S. 199, 203). Sie ist lediglich ein Beleg für das Vorhandensein und den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Das konkrete Sachverhaltsmerkmal im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG ist im Streitfall das Vorliegen der Erwerbsminderung. Diese ist seit dem Jahre 1954 gleich geblieben. Die im Jahre 1965 erteilte amtsärztliche Bescheinigung, aus der sich ergab, daß die Erwerbsminderung höher anzusetzen sei, als in dem früheren amtsärztlichen Zeugnis angenommen worden war, hat steuerrechtlich nur die Bedeutung, daß nachträglich eine andere Beweisurkunde beigebracht worden ist. Dieser ist zwar zu entnehmen, daß dem Steuerpflichtigen für inzwischen rechtskräftig abgeschlossene Jahre eine höhere außergewöhnliche Belastung erwachsen war, als sie tatsächlich anerkannt wurde. Versäumt es aber ein Steuerpflichtiger, einen Sachverhalt rechtzeitig zu beweisen, dann kann er nicht in späteren Jahren durch Vorlage von Beweismitteln die Änderung inzwischen unanfechtbar gewordener Steuerfestsetzungen erreichen.
Die vorstehenden Erwägungen gelten nicht nur für die Streitjahre 1960 bis 1963, für die § 65 Abs. 3 EStDV die Form des Nachweises der Erwerbsminderung normierte. Sie gelten vielmehr auch für die hier ebenfalls betroffenen Jahre 1954 bis 1959, für die die Finanzverwaltung von sich aus die Vorlage von amtlichen Unterlagen zur Bestätigung der Erwerbsminderung forderte (vgl. Abschn. 194 Abs. 3 EStR 1956 bis 1958). Auch in diesem Falle waren die amtlichen Unterlagen nur Beweismittel, nicht aber Merkmal im Sinne des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG.
In dem Urteil VI 113/56 U vom 20. September 1957 (BFH 65, 571, BStBl III 1957, 452) hat der Senat allerdings in einem Fall, in dem das FA wegen des Grades der Erwerbsbeschränkung einen noch nicht rechtskräftigen Rentenbescheid zugrunde gelegt hatte, entschieden, es sei in der Regel auch steuerlich zu beachten, wenn von den Versorgungsbehörden rückwirkend ein höherer Grad der Erwerbsminderung anerkannt wird. Diese Auffassung hat der Senat vertreten, obwohl, wie es zweckmäßig gewesen wäre, das FA die Eintragung nicht nach § 27 Abs. 3 LStDV (vgl. auch § 100 Abs. 1 AO) für vorläufig erklärt hatte. Damals war aber schon bei der Eintragung des Pauschbetrages für die Erwerbsminderung die Höhe der Erwerbsminderung streitig gewesen. Der Steuerpflichtige hatte sich mit dem von der Versorgungsbehörde anerkannten Grad der Erwerbsminderung nicht zufrieden gegeben. Hier lag der Sachverhalt also anders als im Streitfall, so daß sich der Steuerpflichtige auf diese Entscheidung nicht berufen kann. Der Senat hat schon in dem Urteil VI 227/64 U (a. a. O.) ausgeführt, daß die Entscheidung nicht gilt, wenn bei der Steuerfestsetzung kein Streit oder keine Ungewißheit über den Grad der Erwerbsminderung bestand.
Bei den Verfügungen, um die es im vorliegenden Verfahren geht, ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Steuerpflichtigen – und zwar auch der Höhe nach – nicht ernstlich streitig gewesen; der Steuerpflichtige hat sich vielmehr mit der Auskunft des FA, daß er eine höhere Steuerbegünstigung nicht beanspruchen könne, zufrieden gegeben und ist bei den jeweiligen Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren selbst nur von einer Erwerbsminderung von 25 v. H. ausgegangen. Wenn das – möglicherweise rechtsirrtümlich – deshalb geschehen sein sollte, weil der Steuerpflichtige vom FA eine unrichtige Auskunft erhalten hat, so rechtfertigt dies doch nicht, daß unanfechtbar gewordene Steuerfestsetzungen wieder aufgerollt werden.
Das FG kann sich für seine Rechtsansicht auch nicht auf das Urteil des BFH VI 307/63 U vom 24. November 1965 (BFH 84, 358, BStBl III 1966, 129) beziehen. In jenem Rechtsstreit hat der BFH zwar die Ersetzung einer unrichtigen Lohnbescheinigung des Arbeitgebers durch eine berichtigte Lohnbescheinigung als Wegfall eines Besteuerungsmerkmals im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG angesehen. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Ansicht aufrechterhalten werden kann. Jedenfalls aber liegt der Sachverhalt doch so anders, daß er mit dem vorliegenden nicht ohne weiteres verglichen werden kann.
Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Einspruchsentscheidung ist zutreffend. Die Klage gegen die Einspruchsentscheidung war deshalb als unbegründet abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 557463 |
BStBl II 1969, 681 |
BFHE 1969, 479 |