Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts gegen das Urteil des Finanzgerichts kann auch bei der Geschäftsstelle des Finanzamts angebracht werden.
Eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO liegt nicht vor, wenn das Finanzamt im Zeitpunkt der Feststellung des Einheitswerts die betreffende Tatsache zwar nicht kannte, sie aber bei einwandfreier Bearbeitung der Sache kennen mußte.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Sache ist im zweiten Rechtsgang. Streitig ist die Bewertung des Strombezugsrechts der Beschwerdeführerin (Bfin.) bei der Einheitsbewertung ihres Betriebsvermögens auf den 21. Juni 1948. In dem sogenannten endgültigen Einheitswertbescheid vom 27. August 1955 hatte das Finanzamt das Strombezugsrecht gemäß § 15 Abs. 2 des Bewertungsgesetzes (BewG) mit 35.640 DM bewertet. Das Finanzgericht hatte den Wert auf 44.550 DM erhöht, weil es den Unkostenpauschsatz von 60 v. H. auf 50 v. H. gesenkt hatte. Der Senat hat in seinem Urteil III 291/56 vom 1. März 1957 das Urteil des Finanzgerichts und den Einheitswertbescheid aufgehoben. In den Gründen des Urteils wurde ausgeführt, daß für die Erteilung des sogenannten endgültigen Einheitswertbescheids kein Raum gewesen sei, weil bereits der vorangegangene, in den Akten als vorläufig bezeichnete Einheitswertbescheid vom 4. März 1954 in Wirklichkeit ein endgültiger Einheitswertbescheid gewesen sei. Weiter hat der Senat ausgeführt, es käme nur noch in Frage, ob der sogenannte vorläufige Einheitswertbescheid, der in Wirklichkeit ein endgültiger Bescheid gewesen sei, gemäß § 222 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) berichtigt werden könne. Falls es zu einer Berichtigungsfeststellung komme, beständen gegen die Einbeziehung des Strombezugsrechts in das Betriebsvermögen der Bfin. keine Bedenken.
Daraufhin hat das Finanzamt nunmehr eine Berichtigungsfeststellung vorgenommen. Der Einheitswert des Betriebsvermögens der Bfin. auf den 21. Juni 1948 wurde auf 62.100 DM festgestellt. Hierin ist der Wert des Strombezugsrechts mit 44.550 DM enthalten. Die Werte von 44.500 DM und 62.100 DM entsprechen den vom Finanzgericht in seinem Urteil im ersten Rechtsgang zugrunde gelegten Werten. In den dem Berichtigungsfeststellungsbescheid beigegebenen Erläuterungen war vom Finanzamt u. a. folgendes ausgeführt: Der Wert des Strombezugsrechts sei erstmals bei der Einheitsbewertung 1935 ermittelt worden, wobei man von jährlichen Stromeinnahmen von 2.280 RM und einem Unkostenpauschsatz von 60 v. H. ausgegangen sei. Der so ermittelte Wert von 18.000 RM sei bis zur Einheitsbewertung des Betriebsvermögens auf den 21. Juni 1948 beibehalten worden. Bei der Einheitsbewertung auf diesen Stichtag seien dem Sachgebietsleiter Zweifel aufgekommen, ob dieser Wert noch richtig sei. Da indessen die Ermittlungen wegen des Abschlusses der Einheitswertarbeiten nicht mehr hätten durchgeführt werden können, sei der Einheitswert zunächst vorläufig festgestellt worden. Die weiteren Ermittlungen sollten später vorgenommen werden. Erst durch Schreiben des Vertreters der Bfin. vom 23. August 1955 auf Anfrage des Finanzamts seien dem Finanzamt die in der Zeit vom 1. Juli 1948 bis 31. Dezember 1954 tatsächlich erzielten höheren Stromeinnahmen bekanntgeworden. Dieser Umstand sei eine neue Tatsache, die die Vornahme einer Berichtigungsfeststellung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO rechtfertige. In der Sprungberufung wendete sich die Bfin. in erster Linie gegen die Zulässigkeit der Berichtigungsfeststellung. Das Finanzamt habe den Wert des Strombezugsrechts geschätzt. Eine spätere anderweitige Schätzung sei keine neue Tatsache. Wenn das Finanzamt auf vorhergehende Ermittlungen verzichtet habe, müsse es unter Berücksichtigung von Treu und Glauben die sich daraus ergebenden Folgen tragen. Das Finanzgericht hat den Berichtigungsfeststellungsbescheid auf den 21. Juni 1948 aufgehoben. Den Gründen des angefochtenen Urteils liegen folgende überlegungen zugrunde: Das Finanzamt habe eine Schätzung des Werts des Strombezugsrechts vorgenommen. Es habe indessen vor der Schätzung alle erheblichen Unterlagen herbeischaffen, insbesondere nach den tatsächlichen Stromeinnahmen fragen müssen. Eine Unterlassung in dieser Beziehung gehe zu seinen Lasten. Tatsächlich hätten die Stromeinnahmen nicht die Grundlage für die Bewertung des Strombezugsrechts gebildet. Vielmehr habe das Finanzamt auf die Ermittlung der tatsächlichen Stromeinnahmen verzichtet.
Gegen dieses Urteil richten sich die Rechtsbeschwerden des Vorstehers des Finanzamts und der Bfin.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Das Urteils des Finanzgerichts ist dem Vertreter der Bfin. am 15. August 1957 zugestellt worden. Die Frist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde durch den Vorsteher des Finanzamts endete gemäß § 285 Abs. 2 AO am 16. September 1957 (15. September 1957 Sonntag). Die Rechtsbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts vom 22. August 1957 ist bei der Geschäftsstelle des Finanzamts am 22. August 1957 und beim Finanzgericht am 9. Oktober 1957 eingegangen. Das Rechtsmittel ist also nur dann rechtzeitig eingelegt, wenn der Eingang bei der Geschäftsstelle des Finanzamts genügte. Dies ist nach § 249 Abs. 3 AO zu bejahen. Sachlich ist die Rechtsbeschwerde begründet. Die Feststellungen des Finanzgerichts, daß der Wert des Strombezugsrechts vom Finanzamt geschätzt worden sei, daß die Stromeinnahmen nicht die Grundlage der Bewertung gebildet hätten, und daß das Finanzamt für seine Bewertung auf die Heranziehung der Stromeinnahmen verzichtet habe, stehen im Widerspruch zu dem klaren Akteninhalt. Dies ergibt sich insbesondere aus den dem Berichtigungsfeststellungsbescheid beigefügten Erläuterungen des Finanzamts. Der Auffassung des Finanzgerichts, daß das Finanzamt, wenn es die Ermittlung der tatsächlichen Stromeinnahmen für erheblich gehalten habe, ihre Durchführung jedoch aus Zeitmangel hinausschieben mußte, eine vorläufige Bewertung unter Vorbehalt späterer Ermittlungen habe vornehmen müssen, ist entgegenzuhalten, daß das Finanzamt tatsächlich diesen Weg beschritten hat. Nur ist die Durchführung der vorläufigen Bewertung mißglückt.
Hiernach war das angefochtene Urteil aufzuheben. Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, auf die Frage der Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde der Bfin. einzugehen, die lediglich wegen des vom Finanzgericht festgestellten Werts des Streitgegenstands eingelegt wurde.
Die Sache ist nicht spruchreif. Sie wird zur weiteren Nachprüfung an das Finanzgericht zurückverwiesen. Es ist zu ermitteln, ob das Finanzamt bereits im Zeitpunkt des Erlasses des sogenannten vorläufigen, in Wahrheit bereits endgültigen Einheitswertbescheids für das Betriebsvermögen der Bfin. auf den 21. Juni 1948 Kenntnis von den höheren Strompreisen hatte oder jedenfalls bei einwandfreier Bearbeitung des Falles Kenntnis haben mußte, oder ob diese Kenntnis erst durch das Schreiben der Bfin. vom 23. August 1955 erworben wurde. Letzteres behauptet das Finanzamt, während die Bfin. es in ihrer Berufungsbegründung sowie ihren Schriftsätzen vom 13. November 1957 und 3. April 1958 unter Beweisantritt bestreitet. Bei Kenntnis oder Kennenmüssen der Stromeinnahmen seitens des Finanzamts zur Zeit der Erteilung des sogenannten vorläufigen Einheitswertbescheids liegt keine neue Tatsache im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO vor. Sollte dem Urteil des Bundesfinanzhofs V 198/56 U vom 6. Dezember 1956, Slg. Bd. 64 S. 162, Bundessteuerblatt - BStBl - 1957 III S. 61) zu entnehmen sein, daß es auf das Kennenmüssen nicht ankomme, könnte der Senat dieser Auffassung nicht beitreten. Wenn sich die Tatsache zwar nicht aus den Einheitswertakten, wohl aber aus anderen Steuerakten ergeben haben sollte, deren Zuziehung bei der Einheitsbewertung vom Bearbeiter der Einheitswertsache billigerweise verlangt werden mußte, würde auch die Nichtberücksichtigung dieser Akten zu einer Ausschließung der Berichtigungsfeststellung führen müssen. Etwas anderes würde insoweit nur gelten, wenn die Bfin. ihrer eigenen Erklärungs- und Erläuterungspflicht nicht oder nicht ausreichend nachgekommen wäre. Sollten die weiteren Ermittlungen jedoch ergeben, daß das Finanzamt in dem maßgebenden Zeitpunkt zwar gewisse Zweifel an der Beibehaltung der bisherigen Stromeinnahmen hatte, die Klärung der Frage aber wegen des notwendigen Abschlusses der Bewertungsarbeiten auf später verschoben und zu diesem Zweck die mißglückte vorläufige Bewertung vorgenommen hatte, so wird die erst mit Eingang des Schreibens der Bfin. vom 23. August 1955 erlangte Kenntnis des Finanzamts über die Wirkliche Höhe der Stromeinnahmen noch als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gelten können. Anders läge die Sache nur, wenn das Finanzamt auf die Ermittlung der tatsächlichen Stromeinnahmen keinen Wert gelegt und sich unter Verzicht auf weitere Ermittlungen zu der sofortigen Bewertung entschlossen hätte. Dagegen spricht indessen, daß das Finanzamt zunächst eine vorläufige Bewertung unter Vorbehalt späterer Ermittlungen beabsichtigt und - wenn auch im Ergebnis ohne Erfolg - vorgenommen hat. Zu der Zugehörigkeit des Strombezugsrechts zum Betriebsvermögen hat der Senat bereits in seinem Urteil III 291/56 vom 1. März 1957 Stellung genommen. Die erneuten Ausführungen der Bfin. zu dieser Frage geben dem Senat keine Veranlassung, von seinem Standpunkt abzugehen. Ebenso ist die Bewertung des Strombezugsrechts gemäß §§ 15 Abs. 2 und 17 Abs. 3 BewG grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Ausführungen der Bfin. über Ansatz des Teilwerts und Gesamtbewertung greifen nicht durch. Auf die Urteile des Senats III 133 - 134/55 S vom 26. August 1955 (Slg. Bd. 61 S. 207, BStBl 1955 III S. 278) und III 200/55 S vom 13. Januar 1956 (Slg. Bd. 62 S. 165, BStBl 1956 III S. 62) wird Bezug genommen. Ebenso ist das Verlangen der Bfin., außer dem Unkostenpauschsatz noch weitere 25 v. H. der Stromeinnahmen abzuziehen, nicht gerechtfertigt. Fraglich könnte höchstens sein, ob der Pauschsatz von 50 v. H. zur Deckung aller Unkosten aus Stromabgabe für die Bfin. ausreicht. Das Finanzamt hatte bisher wohl auf Grund der Verhandlungen mit dem Müller L. vom 17. März 1937 (Rechtsvorgänger der Bfin.) einen Pauschsatz von 60 v. H. angenommen. In der bezeichneten Verhandlung war von L. darauf hingewiesen worden, daß ihm die Unterhaltung des ganzen Ortsnetzes sowie der Maschinenanlage obliege, und daß auch sein Zeitaufwand durch Bedienung der Anlage erheblich sei. Falls die Bfin. glaubhaft machen kann, daß sie mit dem Pauschsatz von 50 v. H. ihre Unkosten nicht decken kann, was bisher noch nicht erwiesen ist, kann Erhöhung des Pauschsatzes von 50 v. H. in Frage kommen. Der Wert des Streitgegenstands, den die Bfin. in ihrer Rechtsbeschwerde bemängelt, ist vom Senat in dem Urteil vom 1. März 1957 auf 22 v. H. von 28.600 DM = 6.292 DM festgestellt worden, da es sich um eine Einheitsbewertung auf den 21. Juni 1948 handelt.
Fundstellen
Haufe-Index 409112 |
BStBl III 1958, 326 |
BFHE 1959, 137 |
BFHE 67, 137 |