Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschäftsführerhaftung: ausgeschiedener Geschäftsführer und Nachfolgegeschäftsführer; Auswahlermessen

 

Leitsatz (NV)

1. Zur Frage der Erfüllung des Haftungstatbestandes nach §§ 34, 69 AO 1977

a) bei Auswahl der Überweisungsaufträge durch die kreditgebende Bank,

b) bei Fälligkeit der Steuern nach Niederlegung des Amtes durch den Geschäftsführer.

2. Zur Haftung des Nachfolgegeschäftsführers für die von seinem Vorgänger nicht an das FA abgeführten Steuern der Gesellschaft.

3. Kommt eine Haftung sowohl des ausgeschiedenen Geschäftsführers als auch des Nachfolgegeschäftsführers in Betracht, so muß das FA - spätestens in der Einspruchsentscheidung - sein Auswahlermessen begründen.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 34, 69, 191

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Geschäftsführer einer GmbH, die ihrerseits geschäftsführende Komplementärin einer GmbH & Co. KG (KG) war. Die KG, die im wesentlichen schultechnische Anlagen herstellte und vertrieb, befand sich seit 1978 in Zahlungsschwierigkeiten. Zum Zwecke der Sanierung der KG übernahm die R-Verwaltungs-GmbH Kommanditanteile der KG und Geschäftsanteile der GmbH. Der Kläger erklärte am 6. Dezember 1978 mit sofortiger Wirkung seinen Rücktritt als Geschäftsführer der GmbH, der von der R-Verwaltungs-GmbH als Mehrheitsgesellschafterin angenommen wurde. Am 1. März 1979 wurde über das Vermögen der KG das Konkursverfahren eröffnet.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger gemäß §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO 1977) wegen angemeldeter, aber nicht an das FA abgeführter Lohnsteuer und Kirchenlohnsteuer der KG für die Monate Oktober und November 1978 nebst Säumniszuschlägen durch Haftungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung in Höhe von insgesamt 117 329,63 DM in Anspruch. Die Haftung für November 1978 begründete das FA damit, daß der Kläger noch vor seinem Ausscheiden als Geschäftsführer am 24. November 1978 die Angestelltengehälter in Höhe der ungekürzten Nettobezüge im Wege einer Sammelüberweisung über die R-Bank ausgezahlt habe.

Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung mit folgender Begründung auf:

1. a) Hinsichtlich der Lohnsteuer für Oktober 1978 habe der Kläger den Haftungstatbestand nach den §§ 34, 69 AO 1977, § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) erfüllt, da er die ihm als Geschäftsführer obliegende Verpflichtung, die Steuerabzugsbeträge der KG rechtzeitig an das FA abzuführen, zumindest grob fahrlässig verletzt habe. Für den Fall, daß die finanziellen Mittel der KG nicht ausgereicht hätten, die vereinbarten vollen Arbeitslöhne einschließlich der Steuerabzugsbeträge zu zahlen, hätte er die Löhne nur gekürzt als Vorschuß oder Teilbetrag auszahlen dürfen, um aus den dann übrig bleibenden Mitteln die entsprechende Lohnsteuer abführen zu können (Urteil des Senats vom 20 April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521). Der Kläger habe aber trotz der akuten Zahlungsschwierigkeiten der KG die vollen Löhne und Gehälter ausbezahlt.

Sein Einwand, daß er von der R-Bank abhängig gewesen sei, könne ihn nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Beschluß des Senats vom 12. Juli 1983 VII B 19/83, BFHE 138, 424, BStBl II 1983, 655) nicht entlasten. Er hätte auch unter diesen Umständen die ihm von der Bank zur Zahlung der Nettolöhne zur Verfügung gestellten Mittel zum Zwecke der Zahlung der anteiligen Steuern entsprechend kürzen müssen. Falls er sich gegenüber der Bank nicht hätte durchsetzen können, hätte er sofort von seinem Posten als Geschäftsführer zurücktreten müssen.

b) Das FA habe aber den Kläger ermessensfehlerhaft in voller Höhe als Haftungsschuldner für den Lohnsteuerrückstand Oktober 1978 in Anspruch genommen. Es habe den bis zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung erzielten Verwertungserlös von 26 759 DM aus dem Verkauf von Geräten der KG, die dem FA durch Vertrag vom 22. Februar 1979 von dem späteren Geschäftsführer N auch zur Sicherung der streitbefangenen Steuerrückstände übereignet worden waren, bei der Höhe der Haftungsschuld für den Monat Oktober 1978 zu Unrecht außer Betracht gelassen. Die Verrechnung dieses Verwertungserlöses durch das FA allein mit dem Lohnsteuerrückstand für Dezember 1978, für den der spätere Geschäftsführer N hafte, stehe im Widerspruch mit dem Wortlaut des Sicherungsübereignungsvertrages, in dem als zu sichernde Forderung auch der Lohnsteuerrückstand Oktober 1978 genannt sei. Das FA hätte bei nicht ausreichendem Verwertungserlös die Tilgungsreihenfolge nach § 225 Abs. 3 AO 1977 nach pflichtgemäßem Ermessen so bestimmen müssen, daß eine anteilige Anrechnung der erzielten Kaufpreiszahlungen auch auf den Lohnsteuerrückstand Oktober 1978 erfolgte, für den der Kläger hafte. Da es dem Senat verwehrt sei, über die Frage der Anrechnung des Verwertungserlöses auf die Haftungsschuld des Klägers eine abschließende Entscheidung zu treffen, müsse der Haftungsbescheid insoweit aufgehoben werden.

2. Hinsichtlich der Lohnsteuer für November 1978 seien die Voraussetzungen für eine Haftung des Klägers nicht gegeben. Zum Zeitpunkt der gesetzlich vorgeschriebenen Abführung dieser Steuern sei der Kläger nicht mehr Geschäftsführer und damit nicht mehr befugt gewesen, über Mittel der KG zu verfügen. Als Verschulden könne ihm deshalb nur zur Last gelegt werden, daß er nicht bei der Auszahlung der Löhne oder in den nachfolgenden Tagen die für die Abführung der Lohnsteuer erforderlichen Mittel abgesondert und für die künftige Zahlung bereitgehalten habe. Solange aber ein Geschäftsführer auch im Zustand äußerst eingeengter Liquidität seiner Firma realitätsbezogen noch erwarten könne, bis zum gesetzlichen Abführungszeitpunkt lasse sich die abzuführende Lohnsteuer aus den laufend eingehenden Geldern aufbringen, könne man es ihm nicht als grobe Pflichtverletzung anlasten, wenn er die erforderlichen Mittel nicht bereits vor Fälligkeit abgesondert zur Abführung bereithalte. Im Streitfalle habe die KG auch im November/Dezember 1978 noch laufende, über die abzuführende Lohnsteuer hinausgehende Zahlungseingänge gehabt. Die Sachlage sei nicht so gewesen, daß die Nichtbereitstellung der Mittel vor Fälligkeit notwendig die Nichtabführung der Lohnsteuer bei Eintritt der Fälligkeit habe zur Folge haben müssen. Angesichts dessen halte der Senat eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Klägers hinsichtlich der Nichtabführung der Lohnsteuer November 1978 nicht für gegeben.

Mit der Revision macht das FA geltend, die Ausführungen des FG, wonach der Kläger für die Abzugsbeträge für November 1978 nicht hafte, stünden im Widerspruch zu der auch vom FG dem Grunde nach bejahten Haftung für den Anmeldungszeitraum Oktober 1978. Der Kläger hätte angesichts der verzweifelten finanziellen Lage der KG und seiner Abhängigkeit in finanziellen Dispositionen von der R-Bank die Angestelltengehälter für November 1978 nur gekürzt auszahlen dürfen, um die darauf entfallenden Lohnsteuern zur Abführung an das FA zurückbehalten zu können. Mit der Auszahlung der vollen Gehälter habe er die ihm bekannte Pflicht des Geschäftsführers vorsätzlich verletzt.

Der Haftungsbescheid habe auch nicht wegen fehlerhafter Anrechnung der Verwertungserlöse für die dem FA sicherungsübereigneten Gegenstände aufgehoben werden dürfen. Das FA habe im Streitfall sein Ermessen bei der Anrechnung der Zahlungen von 26 759 DM gemäß § 225 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 AO 1977 allein dahin ausüben können, daß diese dem Nachfolgegeschäftsführer N als Haftungsschuldner zugute kamen. Denn N habe den Sicherungsübereignungsvertrag mit dem FA abgeschlossen, und die Bank, die Sicherungseigentümerin der Geräte gewesen sei, habe diese nur unter der Bedingung zugunsten des FA freigegeben, daß ein etwaiger Erlös bei den Haftungsschulden des N zur Anrechnung kommen werde. Der Lohnsteuerrückstand für Oktober und November 1978, für den der Kläger hafte, sei nur deshalb als zu sichernde Forderung in den Sicherungsübereignungsvertrag aufgenommen worden, um eine Übersicherung des FA zu vermeiden.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist nicht begründet.

Der Senat hält - wenn auch mit anderer Begründung - die Entscheidung der Vorinstanz, die den angefochtenen Haftungsbescheid insgesamt aufgehoben hat, im Ergebnis für zutreffend. Er ist der Auffassung, daß der Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung jedenfalls deshalb rechtswidrig ist, weil das FA seine Ermessensentscheidung, den Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, nicht ausreichend begründet hat.

1. Die vom Kläger vertretene KG war nach § 41a Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) verpflichtet, spätestens am zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteueranmeldungszeitraums (hier Kalendermonat) die in diesem Zeitraum von den Einkünften ihrer Arbeitnehmer durch Abzug vom Arbeitslohn einbehaltene Lohnsteuer an das Betriebsstätten-FA abzuführen. Diese Pflicht zur Steuerentrichtung hatte nach § 34 Abs. 1 AO 1977 i.V.m. § 35 Abs. 1 GmbHG der Kläger als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH und damit als mittelbarer Geschäftsführer der KG für diese zu erfüllen. Er haftet nach § 69 AO 1977, soweit infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung dieser Verpflichtung Steueransprüche nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind. Liquiditätsschwierigkeiten der Gesellschaft, wie sie das FG für die KG festgestellt hat, schließen nach ständiger Rechtsprechung des Senats die Haftung des Geschäftsführers für die Lohnsteuer nicht aus. Dieser darf bei nicht ausreichenden Zahlungsmitteln die Löhne nur gekürzt als Vorschuß oder Teilbetrag auszahlen, damit er aus den dann übrigbleibenden Mitteln die entsprechende Lohnsteuer an das FA abführen kann (vgl. Urteil in BFHE 135, 416, 420, BStBl II 1982, 521). Im Streitfall bestehen bereits Zweifel, ob der Kläger hinsichtlich des streitbefangenen Haftungszeitraums Oktober und November 1978 den Haftungstatbestand der §§ 34, 69 AO 1977 erfüllt hat.

a) Sollte die Nichtabführung der für den Monat Oktober 1978 einbehaltenen Steuerabzugsbeträge - wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgetragen hat und was nach der beherrschenden Stellung der Bank innerhalb der KG und deren nachfolgendem Verhalten naheliegt - darauf zurückzuführen sein, daß die Bank zwar den Überweisungsauftrag des Klägers hinsichtlich der Löhne, nicht aber denjenigen hinsichtlich der darauf entfallenden Steuern ausgeführt hat, so könnte dem Kläger auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, er habe trotz bestehender Zahlungsschwierigkeiten keine Kürzung der ausgezahlten Nettolöhne vorgenommen. Die Pflicht zur Lohnkürzung zum Zwecke der anteiligen Befriedigung des FA setzt voraus, daß der Geschäftsführer über einen bestimmten - wenn auch insgesamt nicht ausreichenden - Geldbetrag frei verfügen kann.

Die Pflichtverletzung des Klägers könnte in diesem Falle allenfalls darin bestehen, daß er die Entscheidung der Bank widerspruchslos hingenommen hat oder daß er nicht schon vor Auszahlung der Oktober-Löhne von seinem Amt als Geschäftsführer zurückgetreten ist, wenn er bereits zu diesem Zeitpunkt damit rechnen mußte, daß die Bank Mittel zur Entrichtung der Steuern nicht zur Verfügung stellen werde (vgl. BFH-Urteil vom 7. November 1963 V 45/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1964, 96, und Beschluß des Senats vom 12. Juli 1983 VII B 19/83, BFHE 138, 424, BStBl II 1983, 655). Ob Pflichtverletzungen in diesem Sinne vorliegen, könnte ohne eine Zurückverweisung der Sache an das FG zur Ermittlung der hierfür erforderlichen Tatsachen nicht entschieden werden. Wenn auch die Steuerabzugsbeträge für die vorangegangenen Monate nur mit Verspätung an das FA abgeführt werden konnten, so erscheint es doch fraglich, ob allein aufgrund dieser Feststellungen des FG eine - zumindest grob fahrlässige - Pflichtverletzung des Klägers darin gesehen werden kann, daß er nicht schon vor Auszahlung der Oktober-Löhne wegen bestehender Zweifel an der Freigabe der darauf entfallenden Lohnsteuer durch die Bank vor seinem Amt als Geschäftsführer zurückgetreten ist.

b) Im Zeitpunkt der Fälligkeit der Steuerabzugsbeträge für den Monat November 1978 (10. Dezember 1978) war der Kläger wegen seines am 6. Dezember 1978 erklärten Rücktritts von diesem Amt nicht mehr Geschäftsführer der KG. Es bestehen insoweit Zweifel an einer Pflichtverletzung, weil er jedenfalls zur fristgerechten Entrichtung der Steuern nicht mehr verpflichtet und nicht mehr in der Lage war. Nach den vorstehenden Ausführungen könnte dem Kläger auch die ungekürzte Auszahlung der Angestelltengehälter am 24. November 1978, worin das FA die maßgebliche Pflichtverletzung sieht, nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn ihm wegen der Auswahl sämtlicher durchzuführender Überweisungen durch die Bank keine freie Verfügungs- und Aufteilungsmöglichkeit über irgendeinen Geldbetrag verblieben war. Hinsichtlich der Steuerabzugsbeträge für den Monat November 1978 liegt es indessen näher, ein pflichtwidriges Verhalten des Klägers darin zu sehen, daß er überhaupt noch als Geschäftsführer Angestelltengehälter für November 1978 ausbezahlt hat, nachdem die Entrichtung der Lohnsteuer für Oktober 1978 aufgrund des Verhaltens der Bank endgültig fehlgeschlagen war. Der Senat hat aber Zweifel, ob bei Annahme einer Pflichtverletzung des Klägers für die Lohnsteuer November 1978 - sei es in Form der mangelnden Kürzung der Löhne und Bereithaltung der darauf entfallenden Steuern, sei es in Form des verspäteten Rücktritts vom Geschäftsführeramt - die für die Haftung nach § 69 AO 1977 erforderliche Kausalität gegeben wäre. Denn ob die Steuerabzugsbeträge am Fälligkeitstag (10. Dezember 1978) an das FA abgeführt worden wären und die eingetretene Steuerverkürzung somit vermieden worden wäre, hing auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Klägers letztlich von dem Verhalten des zu diesem Zeitpunkt handlungsbefugten Nachfolgegeschäftsführers ab.

Der Senat braucht die mit der Erfüllung des Haftungstatbestandes zusammenhängenden Fragen nicht zu entscheiden; denn der Haftungsbescheid war jedenfalls wegen mangelnder Begründung der Ermessensentscheidung des FA aufzuheben.

2. a) Im Streitfall kommt neben der Haftung des Klägers auch eine Haftung des Nachfolgegeschäftsführers N in Betracht. Dieser war nach § 34 Abs. 1, insbesondere Satz 2 AO 1977 verpflichtet, sowohl die für Oktober 1978 abzuführenden Steuerabzugsbeträge, die er bei seinem Amtsantritt als Steuerrückstand der KG bereits vorfand, als auch die erst während seiner Amtszeit - am 10. Dezember 1978 - fällig werdenden Lohnsteuern und Lohnkirchensteuern für November 1978 an das FA zu entrichten. Da er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist, obwohl er in der Folgezeit bis zur Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der KG noch Löhne und andere Verpflichtungen der KG beglichen hat, liegt auch für N hinsichtlich der streitbefangenen Steuerabzugsbeträge die Verwirklichung des Haftungstatbestands des § 69 AO 1977 nahe. Seiner Haftung steht nicht entgegen, daß - möglicherweise - schon der Kläger für diese Steuerrückstände haftet, denn die Verpflichtung zur Begleichung von Steuerrückständen besteht auch nach deren Fälligkeit für den nunmehr Verantwortlichen der KG fort. Der Nachfolgegeschäftsführer könnte sich allenfalls darauf berufen, daß er nur im Rahmen der verfügbaren Mittel zur Entrichtung dieser Steuerabzugsbeträge verpflichtet war, da ihm - anders als dem die Löhne auszahlenden Geschäftsführer - die Verpflichtung zur Kürzung der Löhne nicht entgegengehalten werden kann.

Der Senat braucht im Streitfall nicht zu prüfen, ob und in welchem Umfang der Nachfolgegeschäftsführer gegenüber der Bank die Zahlung der streitbefangenen Rückstände hätte durchsetzen können und ob er somit tatsächlich den Haftungstatbestand erfüllt hat. Denn jedenfalls ist die Ermessensentscheidung deshalb fehlerhaft, weil das FA in der Einspruchsentscheidung auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme des N nicht eingegangen ist.

b) Bei der Inanspruchnahme eines nach §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Insbesondere muß die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt.

Nach dem BFH-Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 kann zwar auf die Begründung der Ermessensentscheidung verzichtet werden, wenn diese Entscheidung durch die Rechtsentscheidung gewissermaßen vorgeprägt ist. Das soll dann der Fall sein, wenn den Haftungsschuldner ein schweres Verschulden trifft (nach dem Urteil: Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit). Es kann dahinstehen, ob diese zur Rechtslage nach § 109 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangene Entscheidung unter der Geltung des § 69 AO 1977 in den Fällen der grob fahrlässigen Pflichtverletzung, wie sie das FA in der Einspruchsentscheidung auch für den Kläger angenommen hat, überhaupt noch Anwendung finden kann. Zweifel daran ergeben sich deshalb, weil nach der neuen Rechtslage die grobe Fahrlässigkeit die Mindestverschuldensform schon für die Erfüllung des Haftungstatbestandes darstellt. Der Senat braucht auch nicht generell zu entscheiden, ob die Rechtsprechung von der stillschweigend sachgerechten Ermessensausübung in den Fällen Berücksichtigung finden kann, in denen die Verwaltung ein Auswahlermessen hinsichtlich mehrerer Haftungsschuldner auszuüben hat. Er ist indes der Auffassung, daß auf die Begründung des Auswahlermessens dann nicht verzichtet werden kann, wenn alle für die Haftung in Betracht kommenden Personen den Haftungstatbestand in derselben Verschuldensform verwirklicht haben. Daraus folgt für den Streitfall, daß das FA seine Ermessensentscheidung, den Kläger und nicht den Nachfolgegeschäftsführer N in Anspruch zu nehmen, begründen mußte, denn auch für N kommt - wie oben ausgeführt - hinsichtlich der streitbefangenen Steuerabzugsbeträge eine grob fahrlässige Pflichtverletzung i.S. der §§ 34, 69 AO 1977 in Betracht.

c) Die Einspruchsentscheidung des FA enthält umfangreiche Ausführungen über dessen Ermessenserwägungen. Dabei begründet das FA die Inanspruchnahme des Klägers damit, daß eine Befriedigung aus dem Vermögen der KG im Konkursverfahren nicht zu erwarten sei und eine Haftung der R-Beteiligungs-GmbH nach den §§ 74 und 75 AO 1977 nicht in Betracht käme. Die Begründung der Ermessensentscheidung geht aber auf die Möglichkeit einer Haftung des Nachfolgegeschäftsführers N nicht ein. Ausführungen zum Auswahlermessen hinsichtlich der Inanspruchnahme der beiden Geschäftsführer (des Klägers und des N) waren im Streitfall insbesondere deshalb geboten, weil in dem von N mit dem FA am 22. Februar 1979 abgeschlossenen Sicherungsübereignungsvertrag über Geräte der KG als zu sichernde Forderungen auch die streitbefangenen Lohnsteuerrückstände für die Monate Oktober und November 1978 genannt waren. Bei Bejahung einer Haftung des N auch für diese Steuerrückstände hätte sich für das FA die Frage, mit welchen Steuern die Erlöse aus dem Verkauf dieser sicherungsübereigneten Geräte zu verrechnen waren, auch unter Berücksichtigung der Interessen des N und der Bank, die zu dessen Gunsten die sicherungsübereigneten Geräte freigegeben hatte, in einem anderen, weiteren Sinne gestellt als von der Revision ausgeführt.

Da in den Verwaltungsentscheidungen in dieser Hinsicht jegliche Ausführungen zum Auswahlermessen fehlen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß das FA überhaupt keine Erwägungen zur Frage der Inanspruchnahme des anderen Geschäftsführers angestellt und damit für die Ermessensentscheidung wesentliche Umstände außer acht gelassen hat (Fall der Ermessensunterschreitung, vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 102 Anm. 6). Wegen der nicht ausreichenden Begründung der Ermessensentscheidung war der Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben. Das mit der Revision angefochtene Urteil des FG erweist sich im Ergebnis als zutreffend.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415466

BFH/NV 1988, 206

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