Entscheidungsstichwort (Thema)
Festsetzung von Prozesszinsen nach vorläufiger Auszahlung von Kindergeld aufgrund eines außergerichtlichen AdV-Verfahrens und anschließender Erledigung des Rechtsstreits durch Erlass der begehrten Festsetzung im gerichtlichen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
Zahlt die Familienkasse während des Klageverfahrens das begehrte Kindergeld aufgrund eines außergerichtlichen Eilverfahrens vorläufig aus, beginnt die Frist für die Festsetzung von Prozesszinsen nicht mit Ablauf des Jahres der Auszahlung (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO), sondern erst mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch auf Prozesszinsen entsteht. Erlässt die Familienkasse im weiteren Verlauf des Verfahrens den beantragten Kindergeldbescheid, entsteht der Anspruch auf Prozesszinsen zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Rechtsstreit aufgrund der übereinstimmenden Erklärungen der Beteiligten erledigt (§ 236 Abs. 2 Nr. 1 AO).
Normenkette
AO § 236 Abs. 1, 2 Nr. 1, § 239 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 4; EStG § 31 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte am 28. Januar 2002 Kindergeld für seinen am 6. Mai 1975 geborenen Sohn T ab Januar 2002.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Februar 2002 ab und wies den Einspruch als unbegründet zurück. Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Finanzgericht (FG), die dort am 14. Mai 2002 einging.
Auf seinen außerhalb des Klageverfahrens gestellten Antrag zahlte die Familienkasse am 23. Dezember 2002 im Wege der Aussetzung der Vollziehung an den Kläger das Kindergeld für seinen Sohn T für die Monate Januar 2002 bis Mai 2002 in Höhe von insgesamt 770 € aus.
Mit Schriftsatz vom 25. April 2003 beantragte der Kläger in dem Klageverfahren vorsorglich "für den Fall meines Obsiegens", ihm Prozesszinsen für das begehrte Kindergeld zu bezahlen. Am 15. Juni 2005 hob die Familienkasse den das Kindergeld ablehnenden Bescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung auf und bewilligte dem Kläger für dessen Sohn T Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2002 in Höhe von monatlich je 154 €, somit insgesamt 770 €. Nachdem die Beteiligten daraufhin den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten, erlegte das FG durch Beschluss vom 2. September 2005 der Familienkasse die Kosten des Verfahrens auf.
Am 19. Juni 2005 beantragte der Kläger bei der Familienkasse u.a. unter Hinweis auf seinen Schriftsatz vom 25. April 2003, ihm Prozesszinsen für den Zeitraum vom 14. Mai 2002 bis zum Zahlungseingang am 23. Dezember 2002 auf den jeweils fälligen Kindergeldbetrag zu zahlen. Diesen Antrag lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 18. Oktober 2005 unter Hinweis darauf ab, dass zwischenzeitlich Festsetzungsverjährung nach § 239 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) eingetreten sei. Der Einspruch blieb erfolglos.
Das FG wies die Klage ab.
In den Entscheidungsgründen seines Urteils führte es im Wesentlichen aus, der Anspruch auf Prozesszinsen sei verjährt. Nach § 239 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO habe die einjährige Festsetzungsfrist für Prozesszinsen nach § 236 AO mit Ablauf des Kalenderjahres begonnen, in dem das Kindergeld als Steuervergütung ausbezahlt worden sei, mithin im Streitfall nach der Auszahlung des Kindergeldes am 23. Dezember 2002 mit Ablauf des Kalenderjahres 2002, so dass der Anspruch auf Prozesszinsen am 1. Januar 2004 erloschen sei. Zwar seien die Vorschriften über die Ablaufhemmung (§ 171 AO) auf die Festsetzung der Prozesszinsen entsprechend anzuwenden. Aber die Voraussetzungen des § 171 Abs. 3 und § 171 Abs. 10 AO seien im Streitfall nicht erfüllt.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt, das FG-Urteil und den Bescheid vom 18. Oktober 2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. März 2006 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Prozesszinsen in Höhe von 26 € festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Klagestattgabe (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat zu Unrecht den Anspruch des Klägers auf Zahlung von Prozesszinsen in der geltend gemachten Höhe verneint.
1. Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis werden verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 233 AO). Zu den Ansprüchen aus einem Steuerschuldverhältnis gehört u.a. der Steuervergütungsanspruch (§ 37 Abs. 1 AO), mithin auch der Anspruch auf Kindergeld (§ 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--).
Ein Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen i.S. von § 236 AO entsteht, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird. Dies gilt entsprechend, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlass des beantragten Verwaltungsakts erledigt hat (§ 236 Abs. 2 Nr. 1 AO). In diesem Fall ist der zu erstattende bzw. zu vergütende Betrag grundsätzlich vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen (§ 236 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz AO). Der Zweck der Vorschrift besteht darin, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruches für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. November 2000 XI R 31/00, BFHE 196, 1, BStBl II 2002, 119).
2. Im Streitfall hat die Familienkasse mit Verfügung vom 15. Juni 2005 dem Klagebegehren in vollem Umfang entsprochen, indem sie den angefochtenen Bescheid vom 5. Februar 2002 in Gestalt der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung aufgehoben und dem Kläger für die Monate Januar bis Mai 2002 Kindergeld in Höhe von jeweils 154 € gewährt hat. Daraufhin haben die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Mit dem Eingang der letzten Erledigungserklärung war die Rechtshängigkeit beendet (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 138 Rz 11, m.w.N.).
Da dem Kläger das Kindergeld am 23. Dezember 2002 (vorläufig) ausgezahlt worden war, ist ein Anspruch auf Verzinsung des Kindergeldes ab 14. Mai 2002, dem Tag der Rechtshängigkeit (§ 66 FGO), bis zum 23. Dezember 2002 entstanden.
3. Entgegen der Auffassung des FG war der Zinsanspruch des Klägers nicht verjährt.
a) Auf die Zinsen sind die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist beträgt ein Jahr (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie beginnt in den Fällen des § 236 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer erstattet oder die Steuervergütung ausgezahlt worden ist (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO).
b) Der Rechtsanspruch des Klägers auf Prozesszinsen ist erst mit der Erledigung des Rechtsstreits durch den Erlass der begehrten Kindergeldfestsetzung im Kalenderjahr 2005 entstanden (§ 236 Abs. 2 Nr. 1 AO). Dieser Zeitpunkt ist auch maßgeblich für den Beginn der Festsetzungsfrist. Der noch im Kalenderjahr 2005 vom Kläger geltend gemachte Zinsanspruch war mithin noch nicht verjährt.
Dem steht nicht entgegen, dass die Familienkasse das Kindergeld im Wege der Aussetzung der Vollziehung bereits im Dezember 2002 vorläufig ausbezahlt hat. Denn das Kindergeld wurde nicht endgültig zur Erledigung des Rechtsstreits i.S. von § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO, sondern vorläufig aufgrund eines vom Kläger angestrengten außergerichtlichen Verfahrens gewährt.
Nach der Rechtsprechung des BFH entsteht der Rechtsanspruch auf Prozesszinsen i.S. von § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO nur, wenn der erledigte Rechtsstreit ursächlich für die Herabsetzung der Steuer war (BFH-Urteil vom 15. Oktober 2003 X R 48/01, BFHE 204, 1, BStBl II 2004, 169). Dementsprechend ist auch der Wortlaut des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO --"in den Fällen des § 236"-- dahingehend zu verstehen, dass für den Beginn der Festsetzungsfrist ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Rechtsanspruch i.S. von § 236 AO und der Auszahlung der Steuervergütung bestehen muss. Die Anwendung des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO setzt somit voraus, dass der Anspruch auf Prozesszinsen bereits entstanden ist. Ist die Steuervergütung tatsächlich --wie im Streitfall-- bereits früher aus anderen Gründen ausbezahlt worden, so hat dies lediglich Bedeutung für die Dauer des Zinslaufs, nicht aber für den Beginn der Festsetzungsfrist. Dadurch ist sichergestellt, dass die einjährige Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO nicht vor dem Entstehen des Rechtsanspruchs auf Prozesszinsen in Lauf gesetzt wird bzw. sogar ablaufen kann.
Es widerspräche im Übrigen auch dem Sinn und Zweck der Regelung des § 236 AO, wenn durch eine vorläufige Auszahlung des streitbefangenen Betrages im Wege einer außergerichtlichen Eilentscheidung während eines u.U. mehrere Jahre dauernden Klageverfahrens dem berechtigten Anspruch auf Prozesszinsen die Grundlage entzogen werden könnte.
4. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil ist aufzuheben. Die Familienkasse wird verpflichtet, dem Antrag des Klägers entsprechend Prozesszinsen in Höhe von 26 € festzusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 1718718 |
BFH/NV 2007, 1001 |
BStBl II 2007, 598 |
BFHE 2008, 405 |
BFHE 216, 405 |
BB 2007, 930 |
DStRE 2007, 858 |