Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch des Beigeladenen auf rechtliches Gehör vor Erlaß eines Gerichtsbescheids
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Beigeladener hat nach dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs Anspruch darauf, sich nach erfolgter Beiladung zu dem Verfahren in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu äußern.
2. Das Gericht darf durch Gerichtsbescheid erst entscheiden, wenn allen Beteiligten im vorangegangenen schriftlichen Verfahren rechtliches Gehör gewährt worden ist.
Orientierungssatz
1. Im Streitfall konnte offen bleiben, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs vorliegt, wenn die Frist zur Stellungnahme durch den Beigeladenen ohne Vortrag eines Hinderungsgrundes verstreicht und ein Gerichtsbescheid vor Ablauf dieser Frist zwar ergeht, aber noch nicht zugestellt wird.
2. Wird in einem Gerichtsbescheid die Revision zugelassen, braucht der Beteiligte keinen Antrag auf mündliche Verhandlung zu stellen, um sein Rügerecht (hier: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nicht zu verlieren, selbst wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung entgegen dem Wortlaut des § 90a Abs. 2 FGO ausnahmsweise zulässig sein sollte.
3. Hat sich ein Verfahrensfehler des FG (hier: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör) auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt, so ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache jedenfalls ausgeschlossen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 60 Abs. 3, § 90a Abs. 2 Nr. 2, § 119 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin zu 1. (Klägerin) ist eine GmbH & Co. KG, die Beigeladenen und Revisionskläger zu 2. bis 6. (Beigeladene) deren ursprüngliche Gesellschafter bzw. Rechtsnachfolger von Gesellschaftern. Die Klägerin hat gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 1989 Klage erhoben. Streitig ist, ob Darlehensforderungen der Kommanditisten Sonderbetriebsvermögen II sind und inwieweit Rückzahlungen auf diese Darlehen wegen Überschreitung der Anschaffungskosten zu einem Gewinn führen.
Der erkennende Senat hat auf die zugelassene Revision im ersten Rechtsgang den zunächst ergangenen Gerichtsbescheid aufgehoben und die Sache zur Nachholung der unterlassenen Beiladung an das Finanzgericht (FG) zurückverwiesen (Urteil vom 15. Mai 1997 IV R 61/96, BFH/NV 1997, 866).
Mit Beschluß vom 28. April 1998 lud das FG die Beigeladenen zu 2. bis 5. notwendig bei. Zur Begründung verwies das FG auf das vorangegangene Revisionsurteil und forderte die Beigeladenen auf, binnen einer Frist von drei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses zu erklären, ob sie Anträge stellen und Ausführungen zur Sache machen wollten. Der Beschluß wurde den gemeinsamen Prozeßbevollmächtigten der Beigeladenen und der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 20. Mai 1998 zugestellt.
Am 18. Mai 1998 erging ein weiterer Beiladungsbeschluß, mit dem auch die Beigeladene zu 6. notwendig beigeladen wurde. Die Begründung des Beschlusses erschöpft sich in dem Hinweis auf das vorangegangene Revisionsurteil. Eine Aufforderung zur Stellungnahme enthält der Beschluß nicht. Die Zustellung an die Prozeßbevollmächtigten erfolgte am 2. Juni 1998.
Bereits am folgenden Tag, dem 3. Juni 1998, erließ das FG einen klageabweisenden Gerichtsbescheid, der in den Urteilsgründen nahezu identisch mit dem ersten Gerichtsbescheid ist. Erneut ließ das FG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.
Mit der Revision machen die Klägerin und die Beigeladenen geltend, den Beigeladenen sei das rechtliche Gehör versagt worden. Die Darlehen seien kein Sonderbetriebsvermögen, zumindest seien höhere Anschaffungskosten zu berücksichtigen. Der gewinnerhöhenden Erfassung der Darlehensrückzahlungen stehe eine tatsächliche Verständigung entgegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur erneuten Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die Vorentscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beigeladenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 119 Nr. 3 FGO).
a) Die Beigeladenen haben den Verfahrensfehler ordnungsgemäß gerügt. Sie haben nicht nur die Tatsachen bezeichnet, aus denen sich der Verfahrensverstoß ergibt (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO), sondern darüberhinaus im einzelnen angegeben, was sie noch vorgetragen hätten, wenn ihnen das rechtliche Gehör ordnungsgemäß gewährt worden wäre, und daß bei Berücksichtigung dieses Vorbringens die Entscheidung anders hätte ausfallen können. Es kommt deshalb vorliegend nicht auf die dem Großen Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) vorliegende Frage an, ob derart substantiierte Ausführungen für die ordnungsgemäße Rüge eines den gesamten Streitstoff erfassenden Gehörsverstoßes erforderlich sind (Vorlagebeschluß vom 8. April 1998 VIII R 32/95, BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676).
2. Der Anspruch der Beigeladenen auf rechtliches Gehör ist dadurch verletzt worden, daß sie sich vor Erlaß der Vorentscheidung nicht zum Verfahren haben äußern können.
a) Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO gewährleisten den Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit, sich zu den der Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern und ihre für wesentlich gehaltenen Rechtsansichten vorzutragen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteil vom 30. Oktober 1986 IV R 175/84, BFHE 148, 119, BStBl II 1987, 89; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, § 119 Rz. 10 a, jeweils m.w.N.). Entscheidet das Gericht, bevor eine von ihm gesetzte Frist zur Stellungnahme verstrichen ist, wird das Recht zur Äußerung verletzt (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 119 FGO Tz. 17). Von besonderer Bedeutung ist die Gelegenheit zu schriftlicher Stellungnahme, wenn das FG durch Gerichtsbescheid entscheiden will. Weil damit die Möglichkeit für die Beteiligten entfällt, sich entweder in der mündlichen Verhandlung zu äußern oder aber aus freien Stücken auf diese Gelegenheit zur Äußerung zu verzichten, muß im Rahmen des dem Gerichtsbescheid vorangehenden schriftlichen Verfahrens rechtliches Gehör gewährt werden (Senatsurteil vom 2. Juli 1998 IV R 39/97, BFHE 186, 299, BStBl II 1999, 28). Denn der Verlust der Möglichkeit zur Stellungnahme innerhalb der Tatsacheninstanz kann nach einem Gerichtsbescheid endgültig sein. Läßt nämlich das FG die Revision zu, ist der sonst grundsätzlich zulässige Antrag auf mündliche Verhandlung nicht statthaft (§ 90a Abs. 2 Nr. 2 FGO).
b) Im Streitfall hatte das FG den Beigeladenen zu 2. bis 5. eine Frist zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Bekanntgabe des Beiladungsbeschlusses gesetzt. Der Gerichtsbescheid erging aber, nachdem erst zwei Wochen der Frist verstrichen waren. Darin liegt eine Verletzung des Rechts der Beigeladenen zu 2. bis 5. auf Äußerung zu dem Rechtsstreit. Allerdings ist nach Aktenlage innerhalb der dreiwöchigen Frist keine Stellungnahme eingegangen, obwohl der Gerichtsbescheid bis dahin noch nicht zugestellt war. Mit der Revision wird nicht vorgetragen, daß die Beigeladenen zu 2. bis 5. an einer fristgerechten Stellungnahme gehindert gewesen wären. Für einen solchen Fall wird die Auffassung vertreten, ein Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs liege nicht vor (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Februar 1996 3 B 24.96, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310, § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 43; Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 119 FGO Rz. 86).
c) Der Senat kann offenlassen, ob er sich dieser Auffassung anschließen könnte, denn unzweifelhaft liegt ein Gehörsverstoß in bezug auf die Beigeladene zu 6. vor. Der sie betreffende Beiladungsbeschluß ist nur einen Tag vor Ergehen des Gerichtsbescheids zugestellt worden. Unabhängig von der Frage, bis wann angesichts fehlender Aufforderung zur Stellungnahme die Möglichkeit zur Äußerung hätte bestehen müssen, ist in diesem Fall die Beschneidung des Rechts zur Äußerung und damit ein Gehörsverstoß evident. Denn es war objektiv ausgeschlossen, vor Erlaß des Gerichtsbescheids eine Stellungnahme bei dem FG anzubringen. Eine solche Vorgehensweise des Gerichts macht die vom Gesetz gerade zur Ermöglichung einer umfassenden Teilnahme an dem Prozeß zwingend vorgeschriebene Beiladung zur Farce. Daß die Prozeßbevollmächtigten der Beigeladenen zugleich auch die Klägerin in dem Verfahren vertreten, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Denn es ist nicht auszuschließen, daß aus der Sicht eines Beigeladenen andere oder zusätzliche Gesichtspunkte wesentlich sind, die in das Verfahren eingeführt werden sollen.
d) Die Beigeladenen haben ihr Rügerecht nicht dadurch verloren, daß sie gegen den Gerichtsbescheid nicht Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt haben. Da in dem Gerichtsbescheid die Revision zugelassen worden ist, war ein Antrag auf mündliche Verhandlung nicht statthaft (§ 90a Abs. 2 Nr. 2 FGO). In einem solchen Fall braucht der Beteiligte keinen Antrag auf mündliche Verhandlung zu stellen, um sein Rügerecht nicht zu verlieren, selbst wenn ein Antrag auf mündliche Verhandlung entgegen dem Wortlaut des § 90a Abs. 2 FGO ausnahmsweise zulässig sein sollte (BFH-Urteil vom 29. Juli 1997 VII R 51, 52/97, BFH/NV 1998, 220).
3. Der Verfahrensfehler hat zur Folge, daß die Vorentscheidung ohne sachliche Nachprüfung aufzuheben ist. Aufgrund des § 119 Nr. 3 FGO wird vermutet, daß das Urteil auf der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruht. Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache deshalb jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn sich der Verstoß auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt hat (vgl. BFH in BFHE 186, 102, BStBl II 1998, 676 unter B. III. 2. c, m.w.N.). So verhält es sich im Streitfall, denn die Beigeladenen haben sich überhaupt nicht zu dem Rechtsstreit äußern können.
Fundstellen
Haufe-Index 56523 |
BFH/NV 1999, 1282 |
BStBl II 1999, 531 |
BFHE 188, 273 |
BFHE 1999, 273 |
BB 1999, 1369 |
DB 1999, 1435 |
DStRE 1999, 685 |
DStRE 1999, 685-687 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1999, 651 |
StE 1999, 414 |