Leitsatz (amtlich)
Dem vom Zollschuldner beantragten Erlaß einer nach Zollvorschriften entstandenen Abgabenforderung wegen sachlicher Unbilligkeit nach § 131 AO steht nicht entgegen, daß nicht der (formale) Zollschuldner, sondern der eigentlich wirtschaftlich Beteiligte von der Einziehung betroffen wäre.
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Eine KG in D. und eine GmbH in F. bezogen im Rahmen der Bekanntmachung Nr. 76 der Einfuhr- und Vorratsstelle für Zucker (EVSt-Zuck) vom 9. August 1960 (Bundesanzeiger – BAnz – Nr. 152 vom 10. August 1960) Rohzucker aus Mittelamerika, der vor dem 1. Januar 1962 nach den Vorschriften des Zollgesetzes (ZG) 1939 zum Zollvormerklager der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) in H. abgefertigt wurde. Die KG und die GmbH konnten die sich aus der Bekanntmachung Nr. 76 ergebende Auflage, den Rohzucker im Inland raffinieren zu lassen, mangels freier Kapazitäten der inländischen Zuckerfabriken nicht erfüllen. Daraufhin genehmigte die EVSt-Zuck, den Rohzucker im Ausland raffinieren zu lassen. Auf Grund eines Erlasses des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 21. Februar 1962 verpflichtetete sich die EVSt-Zuck durch Rundschreiben vom 26. Februar 1962, den bei der Einfuhr des raffinierten Zuckers nach dem 1. Januar 1962 zu entrichtenden Zoll (Ausgleichsteuer) auf die nach dem Zuckergesetz vom 5. Januar 1951 zu erhebende Abschöpfung anzurechnen.
Das Zollvormerklager der Klägerin wurde am 1. Januar 1962 gemäß § 84 Abs. 1, § 90 Abs. 1 ZG vom 14. Juni 1961 (BGBl I 1961, 737, Bundeszollblatt 1961 S. 565 – BZBl 1961, 565 –) Zollaufschublager im Sinne des § 46 dieses Gesetzes mit der Folge, daß der Rohzucker als am 31. Dezember 1961 in den freien Verkehr entnommen und in das Zollaufschublager eingelagert galt. Der Rohzucker war damit eine zum freien Verkehr abgefertigte Ware, für die für die Dauer der Lagerung die Zahlung der Zuckersteuer und der Ausgleichsteuer aufgeschoben war (vgl. § 46 ZG 1961 in der am 1. Januar 1962 geltenden Fassung, § 8 des Zuckersteuergesetzes – ZuckStG – i. d. F. des Zweiten Verbrauchsteueränderungsgesetzes vom 16. August 1961, BGBl I 1961, 1233, BZBl 1961, 738, und § 15 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes – UStG – i. d. F. des Elften Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes – 11. UStÄndG – vom 16. August 1961, BGBl I 1961, 1330, BZBl 1961, 826).
Die KG und die GmbH beantragten am 26. Februar 1962 beim Hauptzollamt (HZA) D. bzw. am 2. März 1962 beim HZA F. für den Rohzucker die Bewilligung passiver Veredelungsverkehre. Die Verkehre wurden am 26. Februar bzw. 5. März 1962 bewilligt. Mit Schreiben vom 28. Februar 1962 teilte die KG dem Beklagten und Revisionsbeklagten (HZA H.) mit: Sie werde in H. eingelagerten Rohzucker zur Raffination ausführen und als Weißzucker wieder einführen. Der Rohzucker sei ausnahmsweise zum freien Verkehr abgefertigt worden, weil die deutschen Raffinationsbetriebe seine Abnahme und Umarbeitung aus wirtschaftspolitischen Gründen abgelehnt hätten; andernfalls wäre der Rohzucker auf Versendungsanmeldung an inländische Raffinationsbetriebe geliefert worden. Sie bitte, auch im Namen der GmbH, die für den Rohzucker entstandene Zuckersteuerschuld zu stunden und zu prüfen, welches Verfahren sie einleiten müsse, damit der Zuckersteuerbetrag erstattet werde, der auf die bei der Raffination im Ausland untergehende Menge entfalle. Mit Schreiben vom 7. März 1962 teilte die Klägerin der für sie zuständigen Zollstelle des HZA H. mit, sie bitte, den Stundungsantrag der KG als von ihr gestellt zu betrachten; für die auf den Raffinationsschwund entfallende Zuckersteuer werde zu gegebener Zeit ein Antrag auf Erlaß aus Billigkeitsgründen gestellt werden.
Die Klägerin entnahm ihrem Lager im Februar und März 1962 Rohzucker, den die KG und die GmbH im März und April 1962 im Rahmen der ihnen bewilligten passiven Veredelungsverkehre zur Raffination ausführten. Die durch die Entnahme des Rohzuckers fällig gewordene Zuckersteuer und Ausgleichsteuer entrichtete die Klägerin im Januar 1963. Der im Ausland aus dem Rohzucker gewonnene und eingeführte Weißzucker wurde gemäß § 52 ZG 1961 unter Erhebung von Zoll und Ausgleichsteuer zum freien Verkehr abgefertigt. Diese Eingangsabgaben wurden der KG und der GmbH gemäß dem Rundschreiben der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 durch Anrechnung auf die Abschöpfung erstattet.
Mit Schreiben vom 27. Februar und 22. April 1964 beantragte die KG in Vollmacht der Klägerin beim HZA H., ihr und der GmbH die von der Klägerin für den Rohzucker im Januar 1963 gezahlte Zuckersteuer und Ausgleichsteuer aus Billigkeitsgründen insoweit zu erstatten, als sie auf den bei der Raffination im Ausland untergegangenen Teil des Rohzuckers entfallen waren. Das HZA H. lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Oktober 1966 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies die dem Rechtsstreit beigetretene Oberfinanzdirektion (OFD) am 20. Februar 1968 mit folgender Begründung zurück:
Es lägen keine Gründe vor, die unter Berücksichtigung der für Billigkeitsmaßnahmen auf dem Gebiet des Eingangsabgabenrechts geltenden Grundsätze die begehrte Erstattung rechtfertigen könnten.
Die Klägerin habe im Rahmen ihres kaufmännischen Risikos die nachteiligen Folgen zu vertreten, die sich daraus ergeben hätten, daß die inländischen Zuckerfabriken eine Übernahme des Rohzuckers abgelehnt hätten. Diese Folgen könnten nicht durch eine Erstattung der als Eingangsabgabe erhobenen Zuckersteuer und Ausgleichsfeuer zu Lasten der Allgemeinheit beseitigt oder gemildert werden. Die Klägerin hätte den Rohzucker nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 ausführen und dadurch ihre Freistellung von der Zuckersteuer und der Ausgleichsteuer erreichen können. Allerdings hätten dann die KG und die GmbH im Ergebnis für den Weißzucker zusätzlich zur Zuckersteuer und Ausgleichsteuer auch Zoll entrichten müssen. Diese zusätzliche Belastung dürfe den auf den Raffinationsschwund entfallenden Zuckersteuer- und Ausgleichsteuerbetrag beträchtlich übersteigen. Die KG und die GmbH hätten demnach das nach zollrechtlichen Gesichtspunkten für sie günstigste Verfahren gewählt. Deshalb gehe der Einwand der Klägerin fehl, die KG und die GmbH hätten die sich aus der Wahl eines passiven Veredelungsverkehrs ergebenden Folgen nicht erkannt, weil das Zollgesetz 1961 erst einige Monate in Kraft gewesen sei.
Aus der von der EVSt-Zuck zugesagten Regelung ergäben sich im vorliegenden Fall keine Billigkeitsgesichtspunkte, die eine Erstattung von Eingangsabgaben für den Rohzucker rechtfertigen könnten. Die KG und die GmbH hätten im übrigen nach Erhalt des Rundschreibens der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 – abgesehen von einer Teilmenge – das eingeschlagene Verfahren noch ändern können.
Daraus, daß die HZÄ D. und F. passive Veredelungsverkehre bewilligt hätten, könnten die KG und die GmbH keine Rechte herleiten. Die HZÄ hätten lediglich den Anträgen entsprochen und keinen Anlaß gehabt, sich mit den für die Anträge maßgeblich gewesenen Gründen in bezug auf die Auswirkungen für die KG und die GmbH auseinanderzusetzen. Das Rundschreiben der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 sei der Zollverwaltung nicht übersandt worden. Es sei kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, daß die KG und die GmbH die Erstattungsregelung den HZÄ mitgeteilt hätten. Darüber hinaus enthalte der Antrag der KG auch keinen Hinweis darauf, daß es sich bei dem Rohzucker um Zollaufschublagergut gehandelt habe. Die KG und die GmbH seien nach Aktenlage nicht unzulässig beeinflußt worden. Sie allein hätten zu vertreten, daß sie Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hätten, die ggf. zu einem anderen finanziellen Ergebnis geführt hätten.
Die von der Klägerin daraufhin erhobene Klage mit dem Antrag, den Bescheid vom 13. Oktober 1966 samt der Beschwerdeentscheidung aufzuheben und das HZA H. zur Erstattung von 30 617,60 DM. Zuckersteuer und 4 059,80 DM Ausgleichsteuer zu verpflichten, wies das Finanzgericht (FG) im zweiten Rechtsgang durch Urteil vom 15. Januar 1974 mit folgender Begründung ab:
Abgaben könnten nach § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) erstattet werden, wenn ihre Einbehaltung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Der Gesetzgeber habe durch diese Vorschrift der Verwaltung die Möglichkeit gegeben, unbillige Härten auszugleichen, die sich bei der Anwendung der Steuergesetze infolge der Vielfalt und der Verschiedenheiten der bis in alle Einzelheiten nicht zu regelnden steuerlichen Nebentatbestände ergeben könnten. Grundsätzlich könne die Einziehung und Einbehaltung von Abgaben aus sachlichen Gründen nur dann unbillig sein, wenn angenommen werden dürfe, daß sie vom Gesetzgeber nicht gewollt sei.
Der ablehnende Bescheid über den Erstattungsantrag der Klägerin könne als Ermessensentscheidung (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) nur innerhalb der Grenzen des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gerichtlich nachgeprüft werden, nämlich nur darauf, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht habe. Es seien keine Gründe erkennbar, die die ablehnende Entscheidung als ermessensfehlerhaft erscheinen ließen.
Die Klägerin hätte sich zwar durch eine Ausfuhr des Rohzuckers nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 von der Zuckersteuer und der Ausgleichsteuer für den gesamten Rohzucker befreien können, und es wäre dadurch bei der Einfuhr des Weißzuckers für die KG und die GmbH kein Nachteil entstanden, weil diese von der EVSt-Zuck auf Grund des Rundschreibens vom 26. Februar 1962 hätten verlangen können, den Zoll und die anteilige Ausgleichsteuer auf die Abschöpfung anzurechnen. Die Behauptung der Klägerin, das beklagte HZA H. und das HZA D. hätten sie in Kenntnis der im Rundschreiben der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 vorgesehenen Regelung gezwungen, den Rohzucker nicht nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 auszuführen, sondern ihn zum passiven Veredelungsverkehr abfertigen zu lassen, sei nicht erwiesen.
Es sei nicht unbillig, daß das HZA H. Zuckersteuer und Ausgleichsteuer von der Klägerin auch für den Teil des Rohzuckers erhoben habe, der bei der Raffination im Ausland untergegangen, also nicht in die inländische Wirtschaft übergegangen sei. Der Rohzucker sei mit der gesetzlichen Umwandlung des Zollvormerklagers in ein Zollaufschublager Freigut geworden, also in den freien Verkehr getreten. Nach der Weigerung der Zuckerfabriken, ihn zu Weißzucker zu verarbeiten, hätten die KG und die GmbH es in der Hand gehabt, das richtige Verfahren zu wählen, um die Belastung mit Zuckersteuer und Ausgleichsteuer in ihrem Interesse möglichst geringzuhalten. Sie hätten sich dabei des für sie letztlich ungünstigeren passiven Veredelungsverkehrs bedient. Daß sie gezwungen gewesen seien, den Rohzucker im Ausland raffinieren zu lassen und ihn als Weißzucker wieder einzuführen, könne allein eine Unbilligkeit nicht begründen.
Mit der Revision macht die Klägerin gellend:
Billigkeitsgründe seien insbesondere dann gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden müsse, daß dieser die zu entscheidende Billigkeitsfrage im Falle einer Regelung im Sinne der beabsichtigten Erlaßmaßnahme geregelt hätte. Im vorliegenden Falle werde die Frage durch den erklärten Willen des Gesetzgebers aus § 46 Abs. 11 ZG 1961 beantwortet. Das FG habe zunächst erkannt, daß sie bei einer Ausfuhr nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 den Erlaß aller auf dem Rohzucker lastenden Abgaben erreicht und auch einen Anspruch darauf gehabt hätte, daß der bei der Wiedereinfuhr der veredelten Ware seit dem 1. Januar 1962 festzusetzende Zoll nach der Regelung des Rundschreibens der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 erstattet werde. Das FG habe aber unterlassen zu prüfen, weshalb den in § 46 Abs. 11 ZG 1961 zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers nicht Rechnung getragen worden sei und ob Ermessensverletzungen durch Verwaltungsorgane zur Ablehnung des Billigkeitsantrages geführt hätten. Seine Entscheidung beruhe auf der Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Die Klägerin beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und das HZA D. zu verpflichten, ihr 30 617,60 DM Zuckersteuer und 4 059,80 DM Ausgleichsteuer zu erstatten, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das HZA H. und die dem Verfahren beigetretene OFD beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts und zur Verpflichtung der Verwaltung, die Klägerin zu bescheiden, während die Verpflichtung zum Erlaß des begehrten Verwaltungsakts nicht ausgesprochen werden konnte.
Das FG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Gegenstand der Klage ist der Bescheid des HZA H. vom 13. Oktober 1966 in der Gestalt, die er durch die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 20. Februar 1968 erhalten hat (vgl. § 44 Abs. 2 FGO). Der Bescheid enthält – wie das FG zutreffend ausgeführt hat – eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nach § 102 FGO nur dahin nachgeprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung des § 131 AO nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dabei ist zu beachten, daß die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinn „überschritten”, d. h. also auch unterschritten sein können. Das kommt dann in Betracht, wenn die Behörde die Grenzen ihres Ermessens enger ansieht als sie in Wirklichkeit sind (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 6. Juli 1976 VII R 98/73, BFHE 120, 2). Ein solcher Fall liegt hier vor.
§ 131 AO setzt das Bestehen einer Steuerschuld voraus und hat die Aufgabe, die gesetzmäßige steuerliche Belastung dort zu mindern oder zu beseitigen, wo sie sich auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles nach den Wertungen des Gesetzgebers als unbillig erweist (vgl. BFH-Urteile vom 9. Februar 1972 II R 99/70, BFHE 105, 172, BStBl II 1972, 503; vom 4. Juli 1972 VII R 103/69, BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806, und vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727). Es ist also jeweils mit dem Blick auf den Einzelfall und die Gestaltung des auf diesen anzuwendenden Besteuerungstatbestandes zu prüfen, ob die Besteuerung dieses Einzelfalles nicht nur unter den gesetzlichen Tatbestand, sondern auch unter die Wertungen des Gesetzgebers fällt oder umgekehrt diesen derart zuwiderläuft, daß die Erhebung der Steuer als unbillig erscheinen muß (BFH-Urteil II R 99/70).
Gegenstand des von der Klägerin durch die KG mit deren Schreiben vom 27. Februar und 22. April 1964 gestellten Erstattungsantrages sind die auf den Raffinationsschwund entfallenden Anteile an Zuckersteuer und Ausgleichsteuer, die die Klägerin im Januar 1963 für den im Februar und März 1962 aus dem Zollaufschublager entnommenen Rohzucker entrichtet hat. Als dieser Rohzucker nach seiner Einfuhr zum damaligen Zollvormerklager der Klägerin abgefertigt wurde, entstanden nach § 8 ZuckStG (i. d. F. vom 19. August 1959, BGBl I 1959, 645, BZBl 1959, 482), § 1 Nr. 3, § 15 Abs. 2 UStG, § 45 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Nr. 1, § 101 Abs. 1 ZG 1939 in der Person der Klägerin eine bedingte Zuckersteuerschuld und eine bedingte Ausgleichsteuerschuld, die nach § 45 Abs. 2 Satz 2 ZG 1939 unbedingt werden konnten durch Entnahme des Rohzuckers in den freien Verkehr. Auf Grund des § 84 Abs. 1 Satz 2 ZG 1961 galt der Rohzucker als am 31. Dezember 1961 aus dem Zollvormerklager in den freien Verkehr entnommen und beim Inkrafttreten des Zollgesetzes 1961 am 1. Januar 1962 in das nunmehrige Zollaufschublager eingelagert. Die bei der Abfertigung des Rohzuckers zum Zollvormerklager bedingt entstandenen Steuerschulden waren also mit dem Inkrafttreten des Zollgesetzes 1961 am 1. Januar 1962 unbedingt geworden und der Rohzucker in den freien Verkehr getreten. Solange der Rohzucker im nunmehrigen Zollaufschublager verblieb, war die Zahlung der Steuern gemäß § 46 Abs. 1 ZG 1961 aufgeschoben. Die Entnahme des Rohzuckers aus dem Zollaufschublager im Februar und März 1962 hatte nur zur Folge, daß die Steuern fällig wurden (vgl. § 46 Abs. 7 und 8 ZG 1961).
Bei der Prüfung der Frage, ob eine nach Zollvorschriften entstandene Abgabenforderung im Sinne des § 131 AO unbillig ist, muß die Behörde alle Umstände des Lebensvorganges berücksichtigen, der für die Entstehung der Abgabenforderung ursächlich war, auch Einflüsse Dritter auf das Verhalten dessen, der den Besteuerungstatbestand verwirklicht hat. Das Zollrecht knüpft nämlich die Entstehung einer Abgabenforderung nur an die Erfüllung sehr formaler Voraussetzungen, insbesondere an eine vom Zollbeteiligten beantragte Abfertigung zum freien Verkehr oder zu einem besonderen Zollverkehr, nimmt also von dem Lebensvorgang, der dem Antrag des Zollbeteiligten zugrunde liegt, und von der wirtschaftlichen Bedeutung des beantragten Verkehrs für den Zollbeteiligten keine Kenntnis. Der Zweck des § 131 AO, im Einzelfall die gesetzesgemäße Abgabenforderung auf das billige Maß zurückzuführen, also an die Stelle der formalgesetzlichen Rechtmäßigkeit die materielle Gerechtigkeit treten zu lassen, wäre im Zollrecht nur unvollkommen erreichbar, wenn statt des gesamten dem Abfertigungsantrag zugrunde liegenden wirtschaftlichen Lebensvorganges nur die näheren Umstände des Abfertigungsantrags und der Abfertigung selbst berücksichtigt würden.
Die Abfertigung des Rohzuckers zum Zollvormerklager der Klägerin und deren Belastung mit der Zuckersteuer und der Ausgleichsteuer waren dadurch verursacht, daß es der KG und der GmbH nicht gelungen war, gemäß der sich aus der Bekanntmachung der EVSt-Zuck vom 9. August 1960 ergebenden Auflage, den Rohzucker einer inländischen Zuckerfabrik zur Raffination zuzuleiten. Denn wäre ein solcher Herstellungsbetrieb zur Abnahme des Rohzuckers bereit gewesen, dann hätten die KG und die GmbH bei der Einfuhr des Rohzuckers gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 ZuckStG, § 12 der Durchführungsbestimmungen zum Zuckersteuergesetz (ZuckStDB) vom 19. August 1959 (BGBl I 1959, 647, BZBl 1959, 484) als Zollbeteiligte unter Abgabe einer Versendungsanmeldung beantragen können, den Rohzucker zur unversteuerten Verbringung in den Herstellungsbetrieb abzufertigen. Mit einer solchen Abfertigung wäre zwar auch eine bedingte Zuckersteuerschuld entstanden; diese wäre aber gemäß § 12 Abs. 5 ZuckStDB mit der Aufnahme des Rohzuckers in den Herstellungsbetrieb wieder weggefallen. Nach der Raffination des Rohzuckers im inländischen Herstellungsbetrieb hätte eine Zuckersteuerschuld nur noch für den Weißzucker nach § 4 Abs. 1 ZuckStG entstehen können; die bei der Raffination untergegangene Rohzuckermenge wäre unversteuert geblieben. Eine Ausgleichsteuerschuld wäre allerdings – mangels einer dem § 9 Abs. 1 Nr. 2 ZuckStG entsprechenden Regelung – auch hier entstanden, wenn auch nicht in der Person der Klägerin, sondern der KG bzw. der GmbH.
Die EVSt-Zuck brachte durch die Genehmigung, den Rohzucker entgegen der sich aus ihrer Bekanntmachung vom 9. August 1960 ergebenden Auflage im Ausland raffinieren zu lassen, und durch die im Rundschreiben vom 26. Februar 1962 geregelte Anrechnung des Zolls für den im Ausland raffinierten Zucker auf die Abschöpfung zum Ausdruck, daß Rohzuckerimporteure keinen Nachteil daraus erleiden sollten, daß der Rohzucker nicht in einem inländischen Betrieb raffiniert werden konnte. Die Anrechnungsregelung des Rundschreibens der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 bot die Möglichkeit, auf die rein zollrechtlich günstigere Lösung der Raffination des Rohzuckers im Ausland, nämlich seine Entnahme aus dem Zollaufschublager, die Entrichtung der für ihn entstandenen Zuckersteuer- und Ausgleichsteuerschuld und seine Überführung in passive Veredelungsverkehre zu verzichten und statt dessen den Rohzucker nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 unter zollamtlicher Überwachung auszuführen, dadurch den Erlaß der für ihn entstandenen Zuckersteuer- und Ausgleichsteuerschuld zu erwirken und den Weißzucker unter Entrichtung der für ihn in Betracht kommenden Eingangsabgaben sowie deren teilweise Anrechnung auf die Abschöpfung einzuführen. Als sich die KG und die GmbH am 26. Februar bzw. 2. März 1962 für die erstgenannte, für sie wirtschaftlich ungünstigere Lösung entschieden, war von ihnen nicht ohne weiteres zu erwarten, daß sie die Bedeutung der erst am 26. Februar 1962 von der EVSt-Zuck getroffenen Regelung und die dafür geeignete zollrechtliche Behandlung des Rohzuckers erkannten, zumal seit dem Inkrafttreten des neuen Zollgesetzes am 1. Januar 1962 erst zwei Monate vergangen waren.
Der vorliegende Steuerfall der Klägerin hängt somit eng mit den Maßnahmen zusammen, die die KG und die GmbH auf Grund von Regelungen der EVSt-Zuck zu der Frage getroffen haben, wo der Rohzucker raffiniert werden darf. Der Steuerfall ist dadurch verursacht worden, daß die KG und die GmbH das ursprüngliche Verlangen der EVSt-Zuck, den Rohzucker im Inland raffinieren zu lassen, mangels freier Kapazitäten der inländischen Zuckerfabriken nicht erfüllen konnten. Seine Lösung durch eine die Klägerin von der Zuckersteuer- und der Ausgleichsteuerschuld befreiende Ausfuhr des Rohzuckers nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 unterblieb wohl deshalb, weil die KG und die GmbH in einer von ihnen nicht herbeigeführten Situation die Bedeutung der Regelung des Rundschreibens der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 für eine solche Lösung nicht rechtzeitig erkannt haben. Hätte der Rohzucker entsprechend dem ursprünglichen Verlangen der EVSt-Zuck im Inland raffiniert werden können, wäre seine Abfertigung zum Zollvormerklager der Klägerin nicht notwendig gewesen und für die bei der Raffination untergegangene Menge eine Zuckersteuerschuld nicht entstanden. Hätten die KG und die GmbH bei der Ausfuhr des Rohzuckers zur Raffination im Ausland erkannt, daß infolge der Regelung des Rundschreibens der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 die rein zollrechtlich ungünstige Lösung einer Ausfuhr nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 und Entrichtung der vollen Eingangsabgaben für den einzuführenden Weißzucker die günstigere geworden war, wäre die Zuckersteuer- und die Ausgleichsteuerschuld der Klägerin für den Rohzucker entfallen und für die bei der Raffination untergegangene Menge keine neue Steuerschuld entstanden.
Das HZA H. und die OFD waren somit verpflichtet zu prüfen, ob die sich aus dem Verhalten der EVSt-Zuck, der KG und der GmbH ergebenden Besonderheiten des Steuerfalles der Klägerin nach den Wertungen des Gesetzgebers die Einbehaltung der Zuckersteuer und der Ausgleichsteuer für den bei der Raffination untergegangenen Teil des Rohzuckers als unbillig erscheinen lassen. Die für die Ablehnung des Erstattungsantrags maßgeblichen Ausführungen in der Beschwerdeentscheidung der OFD zeigen, daß die OFD diese Aufgabe nicht hinreichend erkannt und damit nicht ihren gesamten Ermessensspielraum ausgeschöpft hat. Es kommt nicht allein auf den von ihr in den Vordergrund gestellten Umstand an, daß die Klägerin bzw. die hinter ihr stehenden Importeure eine bestimmte Zollbehandlung gewählt haben, sondern weshalb sie statt einer möglichen und für sie günstigeren Behandlung die ebenfalls mögliche, für sie ungünstigere gewählt haben. Die OFD hat bei ihren Erwägungen außer acht gelassen, daß die KG und die GmbH den Rohzucker im Rahmen einer behördlichen Einfuhrregelung bezogen hatten, die die Auflage umfaßte, ihn im Inland raffinieren zu lassen. Diese Einengung der Dispositionsfreiheit muß bei der Entscheidung der Frage berücksichtigt werden, welches kaufmännische Risiko die KG und die GmbH in bezug auf die Bereitschaft inländischer Raffinationsbetriebe zur Verarbeitung des Rohzuckers zu tragen hatten und inwieweit die Klägerin sich anrechnen lassen mußte, daß die inländischen Betriebe die Verarbeitung gegenüber der KG und der GmbH ablehnten. Die OFD hat auch nicht den sachlichen Zusammenhang gewürdigt, der zwischen der ursprünglichen Auflage der EVSt-Zuck, den Rohzucker im Inland raffinieren zu lassen, und der im Rundschreiben vom 26. Februar 1962 von der EVSt-Zuck getroffenen Entlastungsregelung besteht und zeigt, daß die EVSt-Zuck die Rohzuckerimporteure vor Nachteilen bewahren wollte, die sich aus der Unmöglichkeit ergaben, Rohzucker im Inland raffinieren zu lassen. Der OFD ist zwar darin zuzustimmen, daß die KG und die GmbH nicht verpflichtet waren, von den ihnen am 26. Februar und 5. März 1962 bewilligten passiven Verdelungsverkehren auch Gebrauch zu machen, vielmehr nach Kenntnis von dem Rundschreiben der EVSt-Zuck vom 26. Februar 1962 die Klägerin hätten veranlassen können, den noch im Zollaufschublager befindlichen Rohzucker nach § 46 Abs. 11 ZG 1961 auszuführen. Die OFD hat aber nicht geprüft, ob es der KG und der GmbH möglich war, rechtzeitig zu erkennen, daß die in dem Rundschreiben getroffenen Regelung Anlaß zu einer solchen Änderung des bereits eingeschlagenen zollrechtlichen Weges gab. In diesem Zusammenhang kann von Bedeutung sein, daß die Importeure, wie sich aus dem Schreiben vom 28. Februar 1962 an das beklagte HZA H. eindeutig ergibt, nach einem Weg suchten, die Besteuerung des Schwundes zu vermeiden. Der Umstand, daß sich die HZÄ D. und F. bei der Bewilligung der passiven Veredelungsverkehre gegenüber der KG und der GmbH richtig verhielten, war kein Hindernis, die Einbehaltung der von der Klägerin für die später im Ausland untergegangene Rohzuckermenge entrichteten Steuern als unbillig zu beurteilen. Es kommt nicht darauf an, ob alle Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, sondern ob die Einbehaltung dieser Steuern materiell unbillig ist.
Der Antrag der Klägerin auf teilweise Erstattung der von ihr geschuldeten und entrichteten Zucker- und Ausgleichsteuer an die KG und die GmbH erklärt sich wohl daraus, daß die Klägerin ihre steuerliche Belastung auf diese beiden Gesellschaften abwälzen konnte. Als Steuerschuldnerin ist sie befugt, einen Erlaß zu beantragen. Selbst wenn nicht sie die Steuer letzlich getragen hat, sondern die hinter ihr stehenden Importeure, steht das einer Billigkeitsmaßnahme nach § 131 AO nicht entgegen, weil der dem Steuerfall der Klägerin zugrunde liegende Lebensvorgang die KG und die GmbH wirtschaftlich betrifft und die Klägerin dabei als Lagerinhaberin nur eine Hilfsrolle spielte. Der Senat hat in dem Urteil vom 17. Dezember 1974 VII R 56/72 (BFHE 115, 2, BStBl II 1975, 462) dahingestellt gelassen, ob die in § 131 Abs. 1 Satz 1 AO angesprochenen Billigkeitsgründe in der Person des Steuerschuldners selbst vorliegen müssen oder ob es darauf ankommt, wer durch die Einziehung der Steuer wirtschaftlich betroffen ist. Der Gesetzeswortlaut „… können Steuern erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre”, spricht dafür, daß es zumindest bei sachlichen Billigkeitsgründen auf die Steuer, nicht dagegen den Steuerschuldner ankommt. Jedenfalls aber bejaht der Senat die Möglichkeit der Einbeziehung von den Steuerschuldner wirtschaftlich nicht betreffenden Umständen für Fälle der vorliegenden Art, in denen der Zollschuldner nur formal für den eigentlich mit den Abgaben Belasteten, von dessen Weisungen er abhängig ist, tätig wird.
Somit waren das FG-Urteil, der Bescheid des HZA H. vom 13. Oktober 1966 und die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 20. Februar 1968 aufzuheben.
Soweit die Klägerin darüber hinaus begehrt, das HZA H. zur Erstattung von 30 617,60 DM Zuckersteuer und 4 059,80 DM Ausgleichsteuer zu verpflichten, war die Revision zurückzuweisen; es verbleibt insoweit bei der Klageabweisung durch das FG. Der Senat kann die aufgehobene Ermessensentscheidung des HZA H. nicht durch eine eigene Entscheidung ersetzen; die Ermessensgrenzen sind im vorliegenden Fall nicht etwa so eingeengt, daß nur eine bestimmte Entscheidung über die Billigkeitsfrage möglich wäre (vgl. BFH-Urteil vom 26. September 1968 IV R 53/68, BFHE 94, 110, BStBl II 1969, 77). Der Senat konnte nur gemäß § 101 Satz 2 FGO das HZA H. verpflichten, die Klägerin unter Beachtung seiner Rechtsauffassung zu bescheiden.
Da die Klägerin nicht mit ihrem vollen Begehren durchgedrungen ist, erscheint es dem Senat angemessen, die gesamten Kosten des Verfahrens nach § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO der Klägerin und dem HZA H. je zur Hälfte aufzuerlegen (vgl. Urteil vom 1. Februar 1977 VII R 62/75, BFHE 121, 371, 378, BStBl II 1977, 370, 373).
Fundstellen
Haufe-Index 514734 |
BFHE 1979, 129 |