Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz der Entscheidung des Tatrichters nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entbindet nicht von der Notwendigkeit, die für diese Überzeugung maßgeblichen Tatsachen und Umstände festzustellen und in der Entscheidung die wesentlichen daraus abgeleiteten Folgerungen nachvollziehbar darzustellen. Die nachvollziehbare Ableitung der tatrichterlichen Überzeugung aus den festgestellten Tatsachen ist Rechtsanwendung, die vom Revisionsgericht auch ohne Rüge zu überprüfen ist.
Orientierungssatz
Das Vorhandensein der wirtschaftlichen Existenzgrundlage im Inland, die die tägliche Anwesenheit im Inland erfordert, reicht nicht aus, den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland zu begründen, wenn der Steuerpflichtige jeweils nach Geschäftsschluß an seinen Wohnsitz im Ausland zurückkehrt. Der gewöhnliche Aufenthalt im Inland setzt voraus, daß der Steuerpflichtige seine Tätigkeit im Inland nicht unter Benutzung seiner im Ausland gelegenen Wohnung ausübt. Wer auch an Arbeitstagen am Arbeitsort im Inland übernachtet und sich nur an Wochenenden zu seiner Wohnung im Ausland begibt, der hat am inländischen Arbeitsort seinen gewöhnlichen Aufenthalt (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1 S. 1; AO 1977 § 9; EStG 1975 § 1 Abs. 3
Tatbestand
A. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb in den Streitjahren eine freiberufliche Praxis in Y, F-Straße. Diese Anschrift gaben er und seine Ehefrau auch als ihre Wohnanschrift in ihren Steuererklärungen an.
Der Kläger und seine Frau erklärten für die Streitjahre Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit des Klägers, ferner Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalvermögen sowie für 1975 einen Verlust aus Gewerbebetrieb.
Bei einer für die Streitjahre im Herbst 1976 durchgeführten Betriebsprüfung wurde folgendes festgestellt: Der Kläger und seine Ehefrau besaßen seit 1971 ein Einfamilienhaus in .../Belgien. Der Kläger und seine Ehefrau kündigten im Jahre 1971 ihren Mietvertrag über ihre Etagenwohnung in der F-Straße und brachten ihre Möbel in das Einfamilienhaus. Dem Kläger stand im Erdgeschoß des Hauses F-Straße als Teil der Wohnung, in der sich seine Praxisräume befanden, ein beruflich nicht genutzter Raum zur Verfügung. Darin befanden sich bei der Besichtigung durch die Betriebsprüferin ein Schrank, ein Couchtisch, ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, ein Polstersofa mit wulstigen Arm- und Rückenlehnen, drei Sessel, ein Garderobenschränkchen mit Spiegel und zwei Bücherregale aus unbearbeiteten Spanplatten, in denen Fachbücher des Sohnes des Klägers standen. In einem durch einen Vorhang abgetrennten Teil des Empfangszimmers befanden sich ein alter Elektroherd und ein oder zwei kleine Schränkchen. Außerdem war eine Toilette vorhanden, die auch von den Kunden benutzt wurde.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ging dem Bericht der Betriebsprüferin folgend davon aus, der Kläger habe im Inland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt. Das FA erließ auf § 222 Abs.1 Nr.1 der Reichsabgabenordnung (AO) gestützte Berichtigungsbescheide für 1973 und 1974 und den Einkommensteuerbescheid für 1975. In diesen Bescheiden wurden die Veranlagungen nach den Vorschriften für beschränkt Steuerpflichtige durchgeführt. Die Einsprüche gegen die Bescheide blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hat den Kläger als Beteiligten eidlich vernommen, wobei der Kläger erklärt hat, er habe in den Streitjahren an den Arbeitstagen stets in dem Wohnraum in der Praxis übernachtet. An den Wochenenden sei das auch dann der Fall gewesen, wenn er Bereitschaftsdienst gehabt habe, den er öfter für Kollegen übernommen habe. Im Wohnraum sei eine Doppelschlafcouch vorhanden gewesen. Sie habe normalerweise in dem Wohnraum gestanden. Zur Zeit der Betriebsprüfung sei sie für einige Tage in den Nebenraum gestellt worden, weil der Sohn des Klägers zu dieser Zeit einige Möbel in dem Wohnraum abgestellt habe. Er, der Kläger, habe das Einfamilienhaus in Belgien, das voll eingerichtet gewesen sei, in den Streitjahren so gut wie nicht benutzt. Es sei als Altersruhesitz angeschafft worden. Versuche, das Haus zu vermieten, seien erfolglos geblieben. Er habe das Haus unter großen Schwierigkeiten wieder verkauft und wohne jetzt in Y. Die Bemühungen, das Haus zu vermieten oder zu verkaufen, habe er aufgenommen, als sich steuerliche Schwierigkeiten durch die Betriebsprüfung abgezeichnet hätten.
Das FG hat der Klage stattgegeben. Auf Grund der Aussagen die der Kläger bei seiner Vernehmung als Beteiligter in der mündlichen Verhandlung gemacht habe, sei davon auszugehen, daß er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Streitjahren in Y gehabt habe.
Mit seiner vom FG zugelassenen Revision macht das FA geltend, die angefochtene Entscheidung verletze § 16 des Steueranpassungsgesetzes --StAnpG-- (§ 9 der Abgabenordnung --AO 1977--).
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
B. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO-).
1. Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs.1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Haben sie weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, sind sie gemäß § 1 Abs.2 EStG 1971/1974 bzw. gemäß § 1 Abs.3 EStG 1975 beschränkt steuerpflichtig, wenn sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben und das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) zusteht.
2. Das FG hat im Ergebnis zu Unrecht angenommen, der Kläger sei im Inland unbeschränkt steuerpflichtig.
a) Der in § 1 EStG verwendete Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in § 14 StAnpG (§ 9 AO 1977) näher bestimmt. Der gewöhnliche Aufenthalt ist danach an die beiden Voraussetzungen geknüpft, daß (1.) der Steuerpflichtige sich im Inland tatsächlich aufhält, und zwar (2.) unter Umständen, die erkennen lassen, daß er im Inland "nicht nur vorübergehend verweilt". In seinem Urteil vom 9.Februar 1966 I 244/63 (BFHE 85, 540, BStBl III 1966, 522) hat der erkennende Senat dazu ausgeführt, daß das Vorhandensein der wirtschaftlichen Existenzgrundlage im Inland, die die tägliche Anwesenheit im Inland erfordere, nicht ausreiche, den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland zu begründen, wenn der Steuerpflichtige jeweils nach Geschäftsschluß zu seiner Familie in die außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes (GG) gelegene Wohnung zurückkehre (s. auch Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10.August 1983 I R 241/82, BFHE 139, 261, BStBl II 1984, 11, und vom 6.Februar 1985 I R 23/82, BFHE 143, 217, BStBl II 1985, 331). Insoweit gilt nichts anderes als bei sog. Grenzgängern, d.h. Arbeitnehmern, die sich an jedem Arbeitstag von ihrem Wohnort über die Grenze an ihre Arbeitsstätte begeben und nach Arbeitsschluß wieder an ihren Wohnort zurückkehren. Auch diese Personen haben im Inland nicht schon deswegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt, weil sie sich während der Arbeitszeit im Inland aufhalten (BFH-Urteile vom 1.März 1963 VI 119/61 U, BFHE 76, 580, BStBl III 1963, 212, und vom 5.Februar 1965 VI 334/63 U, BFHE 82, 290, BStBl III 1965, 352). Der gewöhnliche Aufenthalt im Inland setzt mithin voraus, daß der Steuerpflichtige seine Tätigkeit im Inland nicht unter Benutzung seiner im Ausland gelegenen Wohnung ausübt. Wer allerdings auch an Arbeitstagen am Arbeitsort im Inland übernachtet und sich nur an Wochenenden zu seiner Wohnung im Ausland begibt, der hat an dem inländischen Arbeitsort (jedenfalls) seinen gewöhnlichen Aufenthalt (vgl. BFHE 143, 217, BStBl II 1985, 331, m.w.N.).
b) Diese Voraussetzungen hat das FG bei seiner Entscheidung nicht verkannt. Soweit das FA mit seiner Revision unrichtige Anwendung des § 14 StAnpG rügt, geht es von einem anderen Sachverhalt als dem aus, den das FG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat; denn geht man --wie das FG annimmt-- davon aus, der Kläger habe mit seiner Ehefrau sein Einfamilienhaus an Werktagen und an Tagen mit Bereitschaftsdienst nicht aufgesucht, ist ein Verstoß des angefochtenen Urteils gegen § 14 StAnpG nicht erkennbar.
c) Gleichwohl kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, da es auf falscher Rechtsanwendung bei der Feststellung der Voraussetzungen des gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers im Inland beruht.
Auch wenn die Würdigung zur Feststellung der Voraussetzungen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale im wesentlichen zu den vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen gehört (BFH-Urteile vom 3.August 1977 I R 210/75, BFHE 123, 441, BStBl II 1978, 118, und in BFHE 143, 217, BStBl II 1985, 331, beide zu den tatsächlichen Voraussetzungen des gewöhnlichen Aufenthalts), ist nach dem Gesetz (§ 96 Abs.1 Satz 1 FGO) die subjektive Gewißheit des Tatrichters vom Vorliegen eines entscheidungserheblichen Geschehensablaufs bzw. Sachverhalts nur dann ausreichend und für das Revisionsgericht bindend, wenn sie auf einer logischen, verstandesmäßig einsichtigen Beweiswürdigung beruht, deren nachvollziehbare Folgerungen den Denkgesetzen entsprechen und von den festgestellten Tatsachen getragen sind (Löwe/Rosenberg, Großkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 24.Aufl., Bd.3, 1987, § 261 StPO Rz.12, 13, m.w.N.). Fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Folgerungen in der tatrichterlichen Entscheidung oder fehlt die nachvollziehbare Ableitung der Folgerungen aus den feststellten Tatsachen und Umständen, liegt ein Verstoß gegen die Denkgesetze vor, der als Fehler der Rechtsanwendung ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 13.Januar 1987 VII R 10/84, BFH/NV 1987, 728; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 118 Rz.20, 21). Die Anforderungen an die Tatsachenfeststellungen und an die Wiedergabe der aus ihnen abgeleiteten Folgerungen steigen in dem Maße, in dem das FG seiner Entscheidung einen vom Üblichen abweichenden Sachverhalt oder Geschehensablauf zugrunde legt.
Das angefochtene Urteil beruht auf der Erwägung, dem Kläger sei nicht zu widerlegen gewesen, daß das von den Betriebsprüfung als unzulängliche Schlafgelegenheit erwähnte Polstersofa dem Sohn des Klägers gehört habe und dort nur kurzzeitig abgestellt gewesen sei und daß dem Kläger und seiner Ehefrau in den Streitjahren aber eine Doppelschlafcouch zur Verfügung gestanden habe. Daraus folgert das FG, dem Kläger habe ein möbliertes Wohnschlafzimmer nebst --nach Aussage des Klägers-- in den Streitjahren vollständig eingerichteter Küche, Waschgelegenheit und Toilette zur Verfügung gestanden, so daß es glaubhaft sei, daß er und seine Ehefrau an Werktagen und an Wochenenden bei Bereitschaftsdiensten dort übernachtet hätten. Die solchermaßen zum Ausdruck gebrachte tatrichterliche Überzeugung vom gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers weicht von einem üblichen und zu erwartenden Verhalten ab. Wer sich ein Einfamilienhaus baut, dorthin seine Wohnungseinrichtung bringt und seine bisherige Wohnung aufgibt, von dem erwartet man, daß er fortan in dem neuen Haus mit seiner Familie leben werde. Für eine das Revisionsgericht bindende Feststellung des vom Kläger behaupteten abweichenden Verhaltens durfte das FG sich daher nicht allein auf die Sachdarstellung des Klägers verlassen. Gegen die Sachdarstellung des Klägers spricht, daß er in vorgerücktem Alter stand, in dem möblierten Zimmer in seiner Praxis kein Familienleben führen konnte und dergleichen auch nicht behauptet und daß unklar ist, wie der Kläger und seine Ehefrau sich angesichts der beengten Verhältnisse in dem Raum mit frischer Wäsche versorgt haben und wie eine auch nur geringfügige Vorratshaltung mit Lebensmitteln zur Zubereitung der erforderlichen Speisen möglich gewesen sein soll. Sollten der Kläger und seine Ehefrau Wäsche täglich aus einer Wäscherei und Lebensmittel ebenfalls täglich aus Lebensmittelgeschäften bezogen haben, hätte dies anhand geeigneter Beweismittel --etwa durch Vernehmung der Lieferanten oder anhand von Rechnungen-- festgestellt werden müssen. Ferner fehlt jede Feststellung darüber, wie groß die Entfernung zwischen dem Einfamilienhaus und der Praxis ist, in welcher Zeit diese Strecke unter gewöhnlichen Umständen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden konnte. Es ist auch nicht erkennbar, wie das FG zu der Annahme gelangt ist, der Kläger habe keinen eigenen PKW besessen. Eine entsprechende Auskunft der deutschen und belgischen Kfz-Zulassungsstellen sind weder in dem angefochtenen Urteil noch im Protokoll über die mündliche Verhandlung erwähnt. Soweit das FG schließlich meint, dem Kläger sei nicht zu widerlegen gewesen, daß sich in dem möblierten Zimmer eine Doppelschlafcouch befunden habe, und infolgedessen von deren Vorhandensein ausgeht, verkennt es die Beweislast; auch dies ist ein Fehler der Rechtsanwendung, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt (s. dazu BFH-Urteil vom 22.Januar 1985 VIII R 29/82, BFHE 143, 71, BStBl II 1985, 308; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, § 96 Rz.23, 24, m.w.N.).
d) Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO). Unbeschadet der im zweiten Rechtsgang zu treffenden erneuten Entscheidung über die Klage weist der Senat vorsorglich darauf hin, daß aus verfassungsrechtlicher Sicht Bedenken dagegen bestehen, den Kläger, falls sein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland für die Streitjahre nicht feststellbar sein sollte, zu einer höheren Einkommensteuer heranzuziehen, als sie sich bei unbeschränkter Steuerpflicht ergäbe. Insoweit nimmt der Senat auf die Entscheidungen in den Sachen I R 219/82 (BFHE ..., ...) und I R 205/82 Bezug.
Fundstellen
Haufe-Index 62328 |
BStBl II 1988, 944 |
BFHE 154, 7 |
BFHE 1989, 7 |
BB 1988, 2167-2168 (LT1) |
DB 1988, 2441-243 (LT) |
DStR 1988, 653 (S) |
HFR 1989, 11 (LT) |