Leitsatz (amtlich)
Bei der Ermessensentscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners für Mineralölsteuer, die durch zweckwidrige Verwendung unbedingt geworden sein soll, ist auch im Falle der Steuerhinterziehung die Möglichkeit eines Erlasses der Mineralölsteuerschuld aus Billigkeitsgründen zu berücksichtigen, wenn feststeht, daß das Mineralöl zu einem begünstigten Zweck verbraucht worden ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 71, 191 Abs. 1; MinöStDV § 23 Abs. 3 Nr. 2; AO 1977 § 191 Abs. 5
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt --HZA--) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) für Mineralölsteuer in Höhe von 115 668,30 DM mit der Begründung als Haftenden in Anspruch, er habe in der Zeit von Ende 1976 bis zum 21.Mai 1982 steuerbegünstigtes Heizöl aus verschiedenen Verteilerverkehren illegal an sich gebracht und der Steueraufsicht entzogen. Dadurch habe er --gemeinsam mit W-- eine Abgabenhinterziehung begangen. Der Einspruch führte zur Änderung des Steuerhaftungsbescheids, indem die Haftungsforderung auf 103 123,40 DM herabgesetzt wurde. Im übrigen wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Nach Klageerhebung setzte das HZA die Haftungsforderung --durch Änderungsbescheid-- erneut herab, und zwar auf 98 368,90 DM. Der Kläger machte den Änderungsbescheid zum Gegenstand des Klageverfahrens.
Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung und den Änderungsbescheid im wesentlichen mit der Begründung auf, die bedingte Steuer für das Heizöl sei entgegen der Auffassung des HZA nicht dadurch unbedingt geworden, daß der Kläger das Heizöl --durch Unterschlagung-- fremden Verteilerverkehren und damit der Steueraufsicht entzogen habe. Das FG ließ die Revision zu.
Zur Begründung seiner Revision wendet sich das HZA gegen die Auffassung des FG, die bedingte Steuer sei durch die Unterschlagung nicht unbedingt geworden. Außerdem macht das HZA unter Hinweis auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung geltend, es sei nicht ermessensfehlerhaft, bei der Inanspruchnahme des Haftenden nach § 191 der Abgabenordnung (AO 1977) Billigkeitsgründe nicht zu prüfen. Darüber hinaus seien für einen Erlaß der Haftungsschuld sachliche Billigkeitsgründe nicht gegeben und persönliche Billigkeitsgründe nicht vorgebracht worden.
Das HZA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Entscheidung des FG, durch die die Verwaltungsentscheidungen wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben worden sind, ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Bescheide des HZA sind auch dann rechtswidrig, wenn der Senat entsprechend der Auffassung des HZA davon ausgeht, daß die bedingte Steuer für die streitbefangenen Heizölmengen durch das Verhalten des Klägers unbedingt geworden ist und der Kläger eine Steuerhinterziehung begangen hat. Denn den Ausführungen des HZA in der Einspruchsentscheidung ist zu entnehmen, daß das HZA bei der Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden von seinem Ermessen nach § 191 Abs.1 AO 1977 nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. § 102 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats hat die Finanzbehörde bei Anwendung des § 191 Abs.1 AO 1977 nach ihrem Ermessen (Entschließungsermessen) darüber zu entscheiden, ob sie den Haftenden auf Zahlung des Haftungsbetrages in Anspruch nehmen will (vgl. Urteil des Senats vom 8.November 1988 VII R 78/85, BFHE 155, 17, 20, BStBl II 1989, 118). Die Ausübung dieses Entschließungsermessens ist fehlerhaft, wenn die Finanzbehörde dabei Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art außer acht läßt, die nach dem Sinn und Zweck der Ermessensvorschrift zu berücksichtigen gewesen wären (Urteil des Senats vom 4.Oktober 1988 VII R 53/85, BFH/NV 1989, 274).
Dem Zweck der Ermächtigung zur Inanspruchnahme des Haftenden nach § 191 Abs.1 AO 1977 ist, wie durch den Zusammenhang dieser Vorschrift mit der Regelung in § 191 Abs.5 Satz 1 Nr.2 AO 1977 bestätigt wird, zu entnehmen, daß die Finanzbehörde bei der Ausübung des Entschließungsermessens auch zu berücksichtigen hat, ob die Steuer, für die der Steuerhinterzieher haftet, erlassen werden kann oder gar muß. Denn das Ziel der Inanspruchnahme des Steuerhinterziehers als Haftenden ist darin zu erblicken, den Hinterzieher zum Ersatz des Schadens --bezüglich der verkürzten Steuer oder der zu Unrecht gewährten Steuervorteile-- heranzuziehen, der dem Gläubiger durch die Entziehung entstanden ist (BFHE 155, 17, 21, BStBl II 1989, 118). An einem zu ersetzenden Schaden in diesem Sinne kann es schon dann fehlen, wenn ein Erlaß der Steuer aus Billigkeitsgründen in Betracht kommt. Außerdem entspricht es der Akzessorietät der Haftungsschuld, auch dem Haftungsschuldner --im Rahmen der Ermessensausübung-- die Vorteile zugute kommen zu lassen, die der Hauptschuldner durch einen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen erlangen kann (vgl. Urteil des Senats vom 26.Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, 519, BStBl II 1988, 859).
Das entspricht auch der Regelung in § 191 Abs.5 Satz 1 Nr.2 AO 1977, nach der ein Haftungsbescheid nicht mehr ergehen kann, soweit die gegen den Steuerschuldner festgesetzte Steuer erlassen worden ist. Zwar ist die Finanzbehörde nach der genannten Vorschrift auch nach Erlaß der Steuer dann nicht gehindert, einen Haftungsbescheid zu erlassen, wenn die Haftung auf einer Steuerhinterziehung des Haftungsschuldners beruht (§ 191 Abs.5 Satz 2 AO 1977). Daraus folgt aber nicht, daß der Erlaß der Steuer auch bei der Ausübung des Entschließungsermessens nach § 191 Abs.1 AO 1977 nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die unmittelbare Wirkung der Regelung in § 191 Abs.5 Satz 2 AO 1977 besteht lediglich darin, daß der Weg zum Erlaß eines Haftungsbescheids auch bei Vorliegen einer Voraussetzung, die nach Satz 1 des § 191 Abs.5 AO 1977 den Erlaß eines Haftungsbescheids unterbindet, wieder frei ist.
Aus Satz 2 dieser Vorschrift wird zwar zu folgern sein, daß bei Ausübung des Entschließungsermessens nach § 191 Abs.1 AO 1977 die Frage des Erlasses einer Steuer in der Regel unberücksichtigt bleiben darf, wenn der Haftungsschuldner eine Steuerhinterziehung begangen hat. Auch bei Anerkennung eines solchen Grundsatzes ist die Berücksichtigung der Erlaßfrage aber zumindest dann nicht entbehrlich, wenn der aufgezeigte Zweck der Inanspruchnahme des Haftenden, den durch die Hinterziehung entstandenen Schaden auszugleichen, Anlaß dazu gibt. Das kommt immer dann in Betracht, wenn feststeht, daß gerade das Verhalten des Hinterziehers dazu geführt hat, daß ein Schaden nicht eingetreten ist (vgl. BFHE 155, 17, 21), und wenn der Steuerschuldner aus diesem Grunde in der Regel auch einen Erlaß der Steuer erlangen kann. Das trifft in den Fällen, in denen der Haftende das Heizöl dem Verheizen zugeführt hat, zu (vgl. BFHE 155, 17, 23). In diesen Fällen kann der Steuerschuldner einen Erlaß aus Billigkeitsgründen grundsätzlich ohne besondere Schwierigkeiten erreichen (vgl. Dienstanweisung Abs.12 in Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung --VSF-- V 0442).
Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist die Ausübung des Entschließungsermessens durch das HZA im Streitfall schon deshalb fehlerhaft, weil das HZA die Frage, ob ein Erlaß der Steuerschuld aus Billigkeitsgründen zu erreichen oder zu gewähren gewesen wäre, nicht berücksichtigt hat, obwohl sich ihm, wie auch der Einspruchsentscheidung zu entnehmen ist, die Frage eines Erlasses der Steuer geradezu aufgedrängt hat. Das HZA hat nach den Ausführungen zur Begründung seiner Einspruchsentscheidung bei der Ausübung seines Entschließungsermessens zwar berücksichtigt, ob ein Erlaß der Haftungsschuld aus Billigkeitsgründen zu berücksichtigen war. Die Frage nach einem Erlaß der Steuer hat es aber erkennbar nicht in seine Ermessenserwägungen einbezogen.
Das ist für eine fehlerfreie oder fehlerhafte Ausübung des Entschließungsermessens nicht schon deshalb unschädlich, weil das HZA bei seiner Ermessensausübung, wie sich ebenfalls aus den Ausführungen zur Begründung der Einspruchsentscheidung ergibt, davon ausgegangen ist, die Steuerschuldner hätten nicht ermittelt werden können. Es ist nicht auszuschließen, daß das HZA sein Entschließungsermessen --ggf. in Benehmen mit den ihm übergeordneten Behörden (Oberfinanzdirektion --OFD-- und Bundesminister der Finanzen --BMF--)-- auch ohne Kenntnis der Steuerschuldner anders ausgeübt hätte, wenn es berücksichtigt hätte, daß auch bereits die Möglichkeit eines Erlasses der Steuerschuld ein Grund sein kann, von der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners abzusehen. Dafür spricht im Streitfall vor allem, daß das HZA selbst nach den Ausführungen zur Begründung der Einspruchsentscheidung die Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden gerade deshalb als "ungerecht" empfunden hat, weil das Heizöl tatsächlich dem Verheizen zugeführt worden ist, und sich an der Berücksichtigung dieses Umstandes aus Billigkeitsgründen erkennbar nur deshalb gehindert gesehen hat, weil es der Auffassung war, eine Billigkeitsmaßnahme betreffend die Haftungsschuld nicht in seine Erwägungen zur Inanspruchnahme des Klägers als Haftenden einbeziehen zu dürfen. Danach ist zumindest nicht auszuschließen, daß das HZA sein Entschließungsermessen anders ausgeübt hätte, wenn es auch die Frage nach dem Erlaß der Steuerschuld in seine Erwägungen einbezogen hätte. Dadurch wäre der Weg zu einer vom HZA als gerechter empfundenen Lösung freigeworden, den es wegen seiner Auffassung, die Frage nach einem Erlaß der Haftungsschuld nicht berücksichtigen zu dürfen, für versperrt gehalten hat.
Fundstellen
Haufe-Index 62702 |
BFH/NV 1989, 41 |
BStBl II 1990, 284 |
BFHE 157, 467 |
BFHE 1990, 467 |
BB 1989, 2177-2178 (LT1) |
HFR 1990, 4 (LT) |