Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Zu den Begriffen "leitend" und "eigenverantwortlich" im Sinn des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 EStG 1960.
Die freiberufliche Tätigkeit des Arztes setzt voraus, daß er, von einfachen Routinefällen abgesehen, grundsätzlich seine Patienten selbst zu einer Zeit untersucht, zu der diese Untersuchung noch maßgebend für die Behandlung sein kann.
Wird bei mehreren örtlich abgegrenzten Tätigkeitsbereichen sachlich gleicher Art eine leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit nur in einzelnen von ihnen entfaltet, so liegt insoweit eine freiberufliche, im übrigen eine gewerbliche Tätigkeit vor.
Normenkette
EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1; GewStDV § 11 Abs. 4
Tatbestand
Zu entscheiden ist, ob die Tätigkeit des Bf. als freiberufliche Tätigkeit anzusehen ist.
Der Bf. ist Facharzt für orthopädische Chirurgie. Neben seiner Arztpraxis betreibt er eine Unfallklinik in X. und eine Zweiganstalt in Y. Im Jahre 1955 beschäftigte er sieben ärzte. Von der Gewerbesteuer ist der Bf. nach § 11 Abs. 4 GewStDV befreit.
Das Finanzamt versagte dem Bf. bei der Einkommensteuerveranlagung für 1957 den Freibetrag für freie Berufe (§ 18 Abs. 4 EStG). Es ist der Meinung, die Tätigkeit des Bf. sei wegen der Beschäftigung von qualifizierten Arbeitskräften nicht mehr als freiberuflich anzusehen.
Einspruch und Berufung des Bf. blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht bestätigte die Rechtsansicht des Finanzamts. Es wendete dabei § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG in dem vor dem Steueränderungsgesetz (StändG) 1960 geltenden Wortlaut an.
Der Bf. hat Rb. eingelegt. Er macht geltend, gemäß Art. 2 Abs. 7 StändG 1960 sei § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 EStG 1960 auch schon für den Veranlagungszeitraum 1957 anzuwenden. Nach dieser Bestimmung sei seine Tätigkeit als freiberufliche anzusehen. Im übrigen könne die sogenannte Vervielfältigungstheorie bei ärzten überhaupt nicht angewendet werden.
Entscheidungsgründe
Die Rb. mußte zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz führen.
I. - Das Finanzamt hat, wie der Bf. mit Recht geltend macht, übersehen, daß für den streitigen Veranlagungszeitraum 1957 bereits der § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 EStG in der erst im Jahre 1960 beschlossenen Fassung anzuwenden war (Art. 2 Abs. 7 StändG 1960). Danach ist ein Angehöriger eines freien Berufes im Sinne der Sätze 1 und 2 auch dann freiberuflich tätig, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient; Voraussetzung ist jedoch, daß er auf Grund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird; eine Vertretung im Fall vorübergehender Verhinderung steht der Annahme einer leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit nicht entgegen.
Mit der Einführung dieser Vorschrift ist zwar die von der Rechtsprechung entwickelte Vervielfältigungstheorie wesentlich eingeschränkt, jedoch nicht völlig beseitigt worden. Auch jetzt noch ist für die Abgrenzung der freiberuflichen von der gewerblichen Tätigkeit wesentlich, daß die selbständige Arbeit - wenn auch nicht mehr ausschließlich - auf der persönlichen Arbeitsleistung des selbständig Tätigen beruht. Das hat die Neufassung des Gesetzes eindeutig zum Ausdruck gebracht, wenn gefordert wird, daß der Berufstätige eigene Fachkenntnisse besitzen und leitend und eigenverantwortlich tätig sein muß.
Unter Leitung ist nach der Verkehrsauffassung die Festlegung der Grundzüge für die Organisation des Tätigkeitsbereichs und die Durchführung der Tätigkeiten, die Fällung von Entscheidungen in grundsätzlichen Fragen und die überwachung des Ablaufs der Tätigkeiten nach den festgelegten Grundregeln zu verstehen. Da maßgeblich für die Einordnung in die freiberufliche Tätigkeit der persönliche Einsatz des Berufsträgers nicht nur bei der Leitung, sondern bei der Tätigkeit selbst ist, hat der Gesetzgeber ausdrücklich auch eine eigenverantwortliche Tätigkeit gefordert. Da es sich um eine Tätigkeit handeln muß, genügt nicht, daß der Berufsträger seinen Auftraggebern gegenüber die Verantwortung für die vereinbarungsgemäße Ausführung des Auftrags übernimmt. Nach außen kann auch jemand die Verantwortung für ein Werk übernehmen, ohne daß er auf sein Zustandekommen eingewirkt hat, weil er etwa im Vertrauen auf die Beachtung der von ihm in seiner leitenden Tätigkeit aufgestellten Grundregeln glaubt, diese Verantwortung übernehmen zu können. Nach Ansicht des Senats kommt es entscheidend darauf an, ob der Berufsträger auch tatsächlich in der Lage ist, die Verantwortung zu übernehmen. Das kann er nur, wenn er in einem solchen Ausmaße an der praktischen Arbeit - nicht notwendigerweise in jedem Einzelfall - beteiligt ist, daß er den seine Praxis aufsuchenden Personen die Behandlung zuteil werden lassen kann, die sie gerade von ihm, um dessen beruflichen Rufes willen sie sich an ihn gewendet haben, erwartet haben. Mit anderen Worten müssen die von ihm oder von Hilfskräften erbrachten Leistungen immer noch den Stempel seiner Persönlichkeit tragen. Der Berufsträger muß die geistig-sittliche Verantwortung vor dem Beruf und dem Mandantenkreis tragen (vgl. Kilian, Deutsches Steuerrecht 1962/1963 S. 179, 284). Dazu wird in der Regel bei einer ärztlichen Tätigkeit gehören, daß sich der Arzt - abgesehen von einfachen Routinefällen - durch eine persönliche Untersuchung ein Bild von dem Patienten macht, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem die Behandlung des Patienten noch zu beeinflussen ist. Denn im allgemeinen kann gerade ein Arzt eine eigene Verantwortung nur dann tragen, wenn er den Patienten, wenn auch nach Voruntersuchungen durch Hilfskräfte, selbst untersucht hat. Entgegen der Ansicht des Bf. ist es deshalb bei ärzten nicht ausgeschlossen, daß sie eine gewerbliche Tätigkeit im steuerrechtlichen Sinne ausüben. § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG läßt keine Ausnahme erkennen. Ein Arzt, der in seinem Tätigkeitsbereich nicht mehr leitend und eigenverantwortlich tätig ist, übt damit ein Gewerbe aus.
Die Abgrenzung im Einzelfalle liegt weitgehend auf dem Gebiet der Tatsachenwürdigung. Vorwiegend wird es z. B. von Bedeutung sein, wie viele Assistenzärzte der Bf. 1957 beschäftigte (bisher ist nur bekannt, daß es 1955 sieben ärzte waren), wie viele dieser ärzte in seiner Arztpraxis, wie viele in der Unfallklinik in X. und wie viele in der Zweiganstalt in Y. beschäftigt waren und wie viele Patienten dort jeweils behandelt wurden, welchen Teil seiner Zeit der Bf. auf die einzelnen Stellen verwendet, wie er seinen Tätigkeitsbereich organisiert hat, wie er ihn überwacht, insbesondere wieweit er Einfluß auf die Behandlung der Patienten hat. Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß die Leistung eines Arztes - auch gerade eines Unfallarztes - oft schnelle Entschlüsse erfordert, die für das Leben der Patienten entscheidend sein können und die - insbesondere bei der hier vorliegenden räumlichen Trennung der Tätigkeitsbereiche, deren Ausmaß im einzelnen noch aufzuklären sein wird - möglicherweise nur von einem gerade anwesenden Assistenzarzt getroffen werden können, also als dessen eigenverantwortliche Tätigkeit werden angesehen werden müssen. Dabei wird aber andererseits in Rechnung zu stellen sein, daß auch ein Arzt nicht ständig im Einsatz sein kann, so daß notwendigerweise eine Reihe von - selbst das Leben von Patienten betreffenden - Entscheidungen von einem Vertreter getroffen werden müssen. Das Finanzgericht wird zweckmäßigerweise eine gutachtliche Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums einholen zu der Frage, ob sich allgemeine Regeln aufstellen lassen für die Beantwortung der Frage, wann nach den hier entwickelten Grundsätzen der Arzt nicht mehr alle Patienten in der verlangten Form betreuen kann. Erst die Abwägung aller Umstände, über die bisher in den Akten keine Angaben vorhanden sind, wird ergeben, ob noch eine "leitende und eigenverantwortliche" Tätigkeit des Bf. bejaht werden kann.
II. - Sollte das Finanzgericht bei der Prüfung zu dem Schluß kommen, daß eine leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit des Bf. hinsichtlich einzelner Teilbereiche nicht mehr vorliegt, während sie in einem anderen Teilbereich z. B. bei der Praxis an einem anderen Ort, noch ausgeübt wird, so müßte die Tätigkeit in diesem Teilbereich als freiberufliche angesehen werden, wenn eine Abgrenzung möglich ist. Der erkennende Senat hat seit 1957 in ständiger Rechtsprechung im Anschluß an eine Entscheidung des I. Senats (IV 200/51 U vom 12. September 1951, BStBl 1951 III S. 197, Slg. Bd. 55 S. 487) die Ansicht vertreten, wenn ein Steuerpflichtiger zum Teil eine freiberufliche, zum Teil eine gewerbliche Tätigkeit ausübe, seien diese Tätigkeiten gesondert zu behandeln, es sei denn, das sie so miteinander verflochten seien, daß überhaupt nur eine einheitliche Tätigkeit angenommen werden könne und daß eine Trennung der Einnahmen - selbst durch Schätzung - nicht möglich sei (vgl. die Urteile des Bundesfinanzhofs IV 390/55 U vom 28. März 1957, BStBl 1957 III S. 182, Bd. 64 S. 490; IV 235/60 U vom 16. Februar 1961, BStBl 1961 III S. 210, Slg. Bd. 72 S. 574; IV 208/58 vom 2. März 1961, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Gewerbesteuergesetz, § 2 Abs. 1 Rechtsspruch 134; IV 270/60 U vom 18. Januar 1962, BStBl 1962 III S. 131, Slg. Bd. 74 S. 344 IV 318/59 U vom 16. März 1962, BStBl 1962 III S. 302, Slg. Bd. 75 S. 89; IV 394/58 U vom 30. August 1962, BStBl 1963 III S. 42, Slg. Bd. 76 S. 116). Zwar handelte es sich in den bisher entschiedenen Fällen immer um zwei verschiedenartige Tätigkeiten, z. B. Steuerberatung und Buchführung, Schriftstellerei und Selbstverlag, während hier eine gleichartige Tätigkeit vorliegt, die sich nur in drei verschiedenen örtlichen Bereichen entfaltet. In dem genannten Urteil IV 318/59 U (a. a. O.) hat der Senat aber schon angedeutet, daß auch eine gleichartige Tätigkeit abgespaltet werden kann. Es handelte sich damals um einen Gartenarchitekten, der zum Teil nur Entwürfe lieferte (= freiberufliche Tätigkeit), zum Teil auch (nach der Planung) die Anlage des Gartens ausführte (= gewerbliche Tätigkeit). Hier sollte die reine Planungstätigkeit gesondert behandelt werden. Wenn auch damals noch eine gewisse Abgrenzung durch das teilweise Hinzutreten einer andersartigen Tätigkeit gegeben war, so ist doch nicht einzusehen, weshalb bei völlig gleichartiger Tätigkeit, die an sich ihrer Art nach als freiberuflich anzusehen ist, und die in einem abtrennbaren Teilbereich eigenverantwortlich in der für die Tätigkeit typischen Weise durchgeführt wird, nur deshalb das Merkmal der Freiberuflichkeit verneint werden sollte, weil in anderen Bereichen die eigenverantwortliche Tätigkeit verneint werden muß. Der Gedanke, daß die gesamte Tätigkeit, also auch die Tätigkeit in dem einen (im wesentlichen selbst betreuten) Bereich leiden müsse, wenn andere Bereiche hinzugenommen werden, ist (ebensowenig übrigens wie bei der übernahme weiterer verschiedenartiger Tätigkeiten) nur ein scheinbares Argument, weil gerade nach § 18 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 3 EStG 1960 Voraussetzung der Bejahung der freiberuflichen Tätigkeit in dem Teilbereich ist, daß in ihm neben der leitenden immer noch eine eigenverantwortliche, also ausreichende Tätigkeit entfaltet wird.
Fundstellen
Haufe-Index 410992 |
BStBl III 1963, 595 |
BFHE 1964, 750 |
BFHE 77, 750 |