Entscheidungsstichwort (Thema)
"Kenntnis" i.S. § 171 Abs. 8 AO 1977 - Eintritt der Wirkungen einer vorläufigen Steuerfestsetzung
Leitsatz (amtlich)
"Kenntnis" i.S. § 171 Abs.8 AO 1977 verlangt positive Kenntnis des FA von der Beseitigung der Ungewißheit. Ein "Kennenmüssen" von Tatsachen steht der Kenntnis nicht gleich.
Orientierungssatz
1. Für den Eintritt der Wirkungen einer vorläufigen Steuerfestsetzung ist es unerheblich, ob die vorläufige Festsetzung zu Recht erfolgte, wenn der Bescheid insgesamt bestandskräftig geworden ist und Gründe für eine Nichtigkeit (der Vorläufigkeit der Festsetzung) nicht ersichtlich sind (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Parallelentscheidung: BFH, 26.8.1992, II R 108/90, NV.
Normenkette
AO 1977 § 171 Abs. 8, § 165 Abs. 1
Tatbestand
I. Streitig ist, ob dem Erlaß eines Schenkungsteuer-Änderungsbescheids der Ablauf der Festsetzungsfrist entgegensteht.
Mit notariell beurkundeten Erklärungen vom 7.November 1979 übertrug B u.a. an seine Tochter (Klägerin) einen Miteigentumsanteil an einem Grundstück. Als Gegenleistung wurde eine Schuldübernahme vereinbart. Durch schriftliche Erklärungen vom selben Tag übertrug B schenkweise auch einen Gesellschaftsanteil von 15 v.H. an der B OHG auf die Klägerin. Am 27.November 1979 forderte das beklagte Finanzamt (FA) die Klägerin zur Abgabe einer Schenkungsteuer-Erklärung betreffend die Grundstücksschenkung auf. Am 13.Dezember 1979 verlangte das FA von der Klägerin auch eine Schenkungsteuer-Erklärung für die Übertragung des Gesellschaftsanteils an der OHG. Die Schenkungsteuer-Erklärung der Klägerin für die Grundstücksschenkung ging am 16.Januar 1980 beim FA ein. Durch Bescheid vom 27.Mai 1980 setzte das FA gegen die Klägerin Schenkungsteuer in Höhe von 33 022 DM fest. Bei der Berechnung der Steuer wurde nur die Grundstücksübertragung berücksichtigt. Der Bescheid erging vorläufig nach § 165 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977). Er enthielt insoweit folgenden Hinweis: "Er ergeht endgültig, wenn
a) der Zeitpunkt
b) der steuerliche Wert
der mit Wirkung vom 1.1.1979 übertragenen GmbH-Anteile der Firma B GmbH
c) der gemäß Gesellschafterbeschluß vom 7.11.1979 mit Wirkung vom 1.10.1979 übertragene steuerliche Wert der Anteile an der Firma B OHG, für die eine Schenkungsteuererklärung bisher nicht vorliegt, und der Schenkungszeitpunkt hierfür
endgültig feststehen."
Die Schenkungsteuer-Erklärung der Klägerin für die Übertragung des Gesellschaftsanteils an der OHG ging beim FA am 7.Oktober 1980 ein. Auch danach verblieb es bei der vorläufigen Festsetzung vom 27.Mai 1980. Das FA rechnete zu diesem Zeitpunkt mit einer Außenprüfung bei der OHG und der GmbH. Diese Prüfungen wurden durchgeführt und mit Prüfungsberichten vom 18.Dezember 1984 abgeschlossen. Der Bericht über die Prüfung der GmbH wurde vom FA bereits im Mai 1985 schenkungsteuerrechtlich ausgewertet.
Am 8.Mai 1985 erfuhr der zuständige Sachbearbeiter der Schenkungsteuer-Stelle des FA durch eine telefonische Mitteilung des FA C, daß der Betriebsprüfungsbericht für die OHG vorliege und ausgewertet sei. Mit der Bestandskraft der Bescheide sei nicht vor August 1985 zu rechnen. Darüber fertigte er einen Aktenvermerk. Tatsächlich wurden die Bescheide für den Einheitswert des Betriebsvermögens auf den 1.Januar 1979 bzw. 1980 bereits am 14.Juni 1985 zur Post gegeben und mit Ablauf der Einspruchsfrist bestandskräftig. Aufgrund der Wiedervorlageverfügung in der Schenkungsteuer-Akte auf den 25.September 1985 forderte der Sachbearbeiter der Schenkungsteuer-Stelle, der inzwischen gewechselt hatte, mit Schreiben vom 9.Oktober 1985 vom FA C die Betriebsprüfungs-Akte, die Einheitswert-Akte des Betriebsvermögens und die Bilanz-Akten der Firma B OHG unter der Bedingung an, daß "die Bescheide nach der Betriebsprüfung für den Zeitpunkt 1979 und 1980 Bestandskraft erlangt haben". Nachdem die Akten nicht eingegangen waren, erinnerte die inzwischen neue Sachbearbeiterin der Schenkungsteuer-Stelle mit Schreiben vom 5.Juni 1986 das FA C an die Aktenübersendung. Die Akten gingen daraufhin am 13.Juni 1986 beim FA ein. Die Schenkungsteuer wurde von ihm mit Änderungsbescheid vom 9.Dezember 1986 nach vorheriger Ankündigung der Besteuerungsabsicht endgültig auf 60 137 DM festgesetzt.
Hiergegen richtete sich die Klage. Mit dieser wurde Festsetzungsverjährung geltend gemacht.
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben und den Schenkungsteuer-Bescheid vom 9.Dezember 1986 und die diesen bestätigende Einspruchsentscheidung aufgehoben. Dem Erlaß des angefochtenen Bescheids habe die Festsetzungsverjährung entgegengestanden. Da das FA ursprünglich einen vorläufigen Steuerbescheid nach § 165 Abs.1 AO 1977 erlassen habe, sei die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs.8 AO 1977 nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewißheit beseitigt worden sei und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erhalten habe, abgelaufen. Der positiven Kenntnis sei der Fall gleichzustellen, daß das FA bei pflichtgemäßer Behandlung des Falles hätte Kenntnis haben müssen, weil es sonst auch dann gegen Festsetzungsverjährung geschützt wäre, wenn es den Fall aus Nachlässigkeit nicht mehr unter Kontrolle habe. Bei pflichtgemäßer Sachverhaltsermittlung habe das beklagte FA von den für die Steuerfestsetzung maßgebenden Werten spätestens im November 1985 Kenntnis haben müssen. Der endgültige Bescheid vom 9.Dezember 1986 sei daher mehr als ein Jahr nach dem maßgebenden Zeitpunkt und damit nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen.
Hiergegen richtet sich die Revision, mit der das FA Verletzung der Vorschrift des § 171 Abs.8 AO 1977 geltend macht. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Zwar ergeben die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils eine Verletzung des bestehenden Rechts, doch stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar (§ 126 Abs.4 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat § 171 Abs.8 AO 1977 zu Unrecht dahingehend ausgelegt, daß ein "Kennenmüssen" der Beseitigung der Ungewißheit der Kenntnis des FA gleichsteht. Der angefochtene Schenkungsteuer- Bescheid ist jedoch auch ausgehend von der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen und damit rechtswidrig.
1. Nach § 169 Abs.1 Satz 1 AO 1977 sind eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs.2 Nr.2 AO 1977 für die Schenkungsteuer, die für die in 1979 ausgeführte Schenkung entstanden ist, war zum Zeitpunkt des Erlasses des Schenkungsteuer-Änderungsbescheids am 9.Dezember 1986 bereits abgelaufen. Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nach § 171 Abs.8 AO 1977 nicht solange gehemmt, daß eine Festsetzung der Schenkungsteuer zu diesem Zeitpunkt noch zulässig gewesen wäre.
Mit dem Bescheid vom 27.Mai 1980 hat das FA die Schenkungsteuer vorläufig festgesetzt i.S. von § 165 Abs.1 AO 1977. Für den Eintritt der Wirkungen der vorläufigen Festsetzung ist es unerheblich, ob die vorläufige Festsetzung zu Recht erfolgte, da der Bescheid insgesamt bestandskräftig geworden ist und Gründe für eine Nichtigkeit (der Vorläufigkeit der Festsetzung) nicht ersichtlich sind (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25.April 1985 IV R 64/83, BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648; vom 9.September 1988 III R 191/84, BFHE 154, 430, BStBl II 1989, 9). Nach § 171 Abs.8 AO 1977 endete daher im Streitfall die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Kenntnis des FA über die Beseitigung der Ungewißheit.
"Kenntnis" i.S. § 171 Abs.8 AO 1977 verlangt positive Kenntnis der Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewißheit (vgl. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 171 Anm.9; Ruban bei Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Rz.95 zu § 171 AO 1977; Kühn/Kutter/ Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Bem.8 zu § 165 AO 1977).
Ein bloßes "Kennenmüssen" von Tatsachen, die das FA bei pflichtgemäßer Ermittlung erfahren hätte, steht der Kenntnis nicht gleich. Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, mit der gerade die früher bestehende Unklarheit bei der Auslegung des § 145 Abs.2 Nr.4 der Reichsabgabenordnung, der für den Beginn der Frist nur auf die Beseitigung der Ungewißheit abstellte, ausgeräumt werden sollte. Der von der Rechtsprechung zur Auslegung des § 173 AO 1977 entwickelte Grundsatz, daß nachträglich bekannt gewordene Tatsachen von den Behörden dann nicht nach Treu und Glauben (als "neue") berücksichtigt werden können, wenn die Behörde diese bei gehöriger Erfüllung ihrer Ermittlungspflicht schon vor der Steuerfestsetzung hätte feststellen können (vgl.BFH-Urteil vom 17.Oktober 1989 VII R 58/87, BFHE 158, 466, BStBl II 1990, 249 mit weiteren Nachweisen), läßt sich auf § 171 Abs.8 AO 1977 nicht übertragen. Der gegenteiligen Auffassung des FG, das sich insoweit auf Tipke/Kruse (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Tz.11 zu § 165 AO 1977) stützt, folgt der Senat nicht. Für die Anwendungsbereiche der beiden Vorschriften bestehen insoweit unterschiedliche Vertrauenssituationen. Nach einer von vornherein endgültigen Steuerfestsetzung weiß der Steuerpflichtige regelmäßig nicht, welche Tatsachen im einzelnen dem FA bekannt waren. Er kann aber davon ausgehen, daß dem FA alle ermittlungsfähigen relevanten Tatsachen auch vorlagen. Gegenüber einer späteren Änderung der Festsetzung ist er dann nach Treu und Glauben insoweit --unter bestimmten Voraussetzungen-- in seinem Vertrauen geschützt. Demgegenüber besteht die Besonderheit der vorläufigen Festsetzung nach § 165 Abs.1 AO 1977 gerade darin, daß dem Steuerpflichtigen die für das FA bestehende Ungewißheit und damit regelmäßig auch die dem FA "fehlenden" Tatsachen bekannt werden. Bis zur Kenntnis des FA von diesen Tatsachen --die der Steuerpflichtige in den meisten Fällen ggf. selbst herbeiführen kann --besteht daher keine Vertrauensschutz erzeugende Situation und damit kein Anlaß, den Lauf der Frist nach § 171 Abs.8 AO 1977 bereits mit einem "Kennenmüssen" des FA von der Beseitigung der Ungewißheit beginnen zu lassen.
Im Streitfall ist es nach dem Wortlaut der Anordnung der Vorläufigkeit und dem der dazu gegebenen Begründung zumindest nicht eindeutig, wodurch die Ungewißheiten eigentlich hätten beseitigt werden sollen. Dieser Zweifel ist durch Auslegung der im Bescheid zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen des FA zu klären. Dabei können die eine Vorschenkung betreffenden Ungewißheiten (Buchst.a und b der Begründung), die --zwischen den Beteiligten unstreitig-- im Mai 1985 beseitigt wurden, außer Betracht bleiben.
Verbleibende Ungewißheiten sind demnach Zeitpunkt und Wert der Schenkung der OHG-Anteile. Die Ungewißheit über den Zeitpunkt der Ausführung der Zuwendung (§ 9 Abs.1 Nr.2 des Erbschaftsteuergesetzes, ErbStG 1974) wurde bereits mit Abgabe der Steuererklärung beseitigt. Danach lagen insoweit keine Ungewißheiten mehr vor, die von einem Dritten hätten ausgeräumt werden können. Die Ungewißheit über den Wert der Anteile (vgl. § 12 Abs.5 ErbStG 1974) wurde mit dem Vorliegen des Betriebsprüfungs-Berichts beendet. Damit lag aus der Sicht des FA zuverlässiges und die Zweifel beseitigendes Zahlenmaterial vor. Die Begründung der Vorläufigkeit kann nicht dahingehend ausgelegt werden, daß für das Entfallen der Ungewißheit auf die Bestandskraft der Auswertungsbescheide (Bescheide über Einheitsbewertung des Betriebsvermögens) abzustellen sei. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Formulierung in der Begründung des Bescheids sprechen für diese Auslegung. Die Bestandskraft der Bescheide über die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens ist rechtlich ohne Bedeutung für die Schenkungsteuer, insbesondere besteht keine Bindung an die auf einen vom hier maßgeblichen Stichtag abweichenden Stichtag bestandskräftig festgestellten Werte (vgl. § 12 Abs.5 ErbStG 1974 in der für den Streitfall geltenden Fassung). Für die schenkungsteuerrechtliche Beurteilung ist die Frage der Bestandskraft der Einheitswert-Bescheide nicht unmittelbar entscheidungserheblich.
Vom Vorliegen des bereits ausgewerteten Betriebsprüfungs-Berichts hat das FA in der Person des zuständigen Sachbearbeiters der Schenkungsteuer-Stelle am 8.Mai 1985 Kenntnis erhalten. Damit hatte das FA positiv Kenntnis, daß die im vorläufigen Bescheid bezeichneten Ungewißheiten beseitigt waren. Nicht erforderlich war es dafür, daß ihm der Inhalt des Betriebsprüfungs-Berichts und der diesen auswertenden Bescheide bereits im einzelnen bekannt war. Sich den Betriebsprüfungs-Bericht nunmehr zu beschaffen, war ausschließlich Sache der dem FA obliegenden Ermittlungspflicht. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Ablaufhemmung nach § 171 Abs.8 AO 1977 lag daher im Mai 1985. Der über ein Jahr danach erlassene Änderungsbescheid erging daher nach Ablauf der nach § 171 Abs.8 AO 1977 zunächst gehemmten Festsetzungsfrist.
2. Das FG hat das FA auch verpflichtet, "die vorläufige Steuerfestsetzung im Bescheid vom 27.5.1980 zu beseitigen". Dies käme einer Endgültigkeitserklärung und damit dem Erlaß eines endgültigen Bescheids gleich. Nach endgültigem Ablauf der Festsetzungsfrist ist jedoch auch ein solcher Bescheid nach § 169 Abs.1 Satz 1 AO 1977 einerseits nicht mehr zulässig, andererseits auch nicht mehr erforderlich. Die Zurückweisung der Revision war daher mit der Maßgabe zu verbinden, daß diese ins Leere gehende Anordnung des FG entfällt.
Fundstellen
Haufe-Index 64113 |
BStBl II 1993, 5 |
BFHE 169, 9 |
BB 1992, 2137 (L) |
DB 1992, 2535-2536 (LT) |
DStR 1992, 1616 (KT) |
DStZ 1993, 188 (KT) |
HFR 1993, 59 (LT) |
StE 1992, 604 (K) |