Leitsatz (amtlich)
Seit dem Inkrafttreten der FGO sind Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden von den FG nur darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen ein fehlerhafter Gebrauch gemacht wurde. Eine eigene Ermessensausübung durch die FG ist auch in Fällen des Veranlagungsermessens nur zulässig, wenn die Ermessensgrenzen so eingeengt sind, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich ist.
Normenkette
FGO § 102; EStG 1961 § 34 Abs. 1
Tatbestand
Der verstorbene steuerpflichtige Ehemann betrieb auf einem ihm gehörenden Grundstück eine Bäckerei und einen Kolonialwarenhandel. Dieses Grundstück stand dem weiteren Ausbau der Bundesstraße .. im Wege. Nach langjährigem Drängen der Bundesstraßenverwaltung und zur Vermeidung eines Zwangsenteignungsverfahrens veräußerte der steuerpflichtige Ehemann sein Anwesen im Streitjahr 1961 für einen Gesamtpreis von 195 000 DM. Infolge seines Alters, seiner Krankheit und einer Minderung der Erwerbsfähigkeit verzichtete er auf die Wiedereröffnung eines gleichartigen Gewerbebetriebs.
Der Revisionskläger (das FA) wandte auf den Veräußerungsgewinn den halben tariflichen Steuersatz von 15,94 v. H. an.
Der Einspruch blieb erfolglos.
Die Berufung führte zu einer Ermäßigung des Steuersatzes für den Veräußerungsgewinn auf 10 v. H. Das FG führte aus, da nach der Lage des Falles nur der Mindestsatz von 10 v. H. in Betracht komme, könne der Senat sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde ausüben.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Die Einkommensteuer für außerordentliche Einkünfte, zu denen auch Gewinne gehören, die bei der Veräußerung oder der Aufgabe eines Gewerbebetriebs (§ 16 EStG) erzielt werden, ist nach § 34 Abs. 1 EStG in den vor 1965 geltenden Fassungen auf 10 bis 30 v. H. der außerordentlichen Einkünfte zu bemessen. Die Bestimmung des innerhalb dieses Rahmens im einzelnen Fall anzuwendenden Steuersatzes ist eine Ermessensentscheidung des FA.
Nach Abschn. 198 Abs. 1 EStR 1961 ist der Steuersatz für die außerordentlichen Einkünfte regelmäßig in Höhe der Hälfte des durchschnittlichen Steuersatzes anzusetzen.
Eine Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde kann von den Steuergerichten nur auf Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch geprüft werden. Das Gericht kann nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen (vgl. Urteil VII 51/61 S vom 8. Mai 1962, BFH 75, 59, BStBl III 1962, 290, und die dort angeführte weitere Rechtsprechung). Etwas anderes gilt nur, wenn durch die Sachlage des Einzelfalls die Ermessensgrenzen ausnahmsweise so eingeengt sind, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich ist, während jede andere notwendig zu einem Ermessensfehler führen müßte (vgl. Gutachten des Großen Senats des BFH Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BFH 55, 277, BStBl III 1951, 107; Urteile des BFH IV 229/60 U vom 20. April 1961, BFH 73, 143, BStBl III 1961, 320; III 209/59 U vom 15. März 1963, BFH 76, 761, BStBl III 1963, 277, und VI 303/61 U vom 6. Dezember 1963, BFH 78, 220, BStBl III 1964, 86). Die Annahme des FG, das würde im Streitfall zutreffen, da nach Lage des Falles nur der Mindestsatz von 10 v. H. in Betracht komme, ist irrig. Wenn die Anwendung des halben Durchschnittssatzes ein Ermessensfehlgebrauch wäre, so käme an seiner Stelle keineswegs nur der Mindestsatz von 10 v. H. in Betracht, sondern jeder Satz zwischen dem halben Durchschnittssteuersatz und dem Mindeststeuersatz.
Dies galt nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH allerdings nicht, wenn Ermessensentscheidungen im Rahmen einer Steuerveranlagung oder Steuerfestsetzung zu treffen waren, wie das im Fall des § 34 Abs. 1 EStG früherer Fassung zutraf. Solche Ermessensentscheidungen sollten im Rahmen der Überprüfung der Steuerfestsetzung durch eigene Ermessensentscheidungen der FG ersetzbar sein (vgl. BFH-Urteile IV 44/50 S vom 2. Februar 1951, BFH, 55, 141, BStBl III 1951, 55, und IV 81/50 S vom 23. Februar 1951, BFH 55, 204, BStBl III 1951, 77, und den Hinweis in Nr. 6 des Gutachtens des Großen Senats Gr. S. D 1/51 S). Für diese unterschiedliche Behandlung des bei isolierten Ermessensentscheidungen ausgeübten Ermessens und des sogenannten Veranlagungsermessens ist seit Inkrafftreten der FGO kein Raum mehr. Die bisherige Rechtsprechung des BFH konnte sich nur auf die seit dem Inkrafttreten der FGO nicht mehr geltende Vorschrift des § 244 Satz 1 AO a. F. stützen, nach der die Rechtsmittelbehörden die Befugnisse hatten, die den FA im Besteuerungsverfahren gegeben waren. Nunmehr bestimmt § 102 FGO, daß, soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, das Gericht auch prüft, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Durch diese Vorschrift sollte nach ihrer Entstehungsgeschichte klargestellt werden, daß das Gericht die angegriffene Ermessensentscheidung nur auf Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch hin überprüfen kann. Ein Unterschied zwischen isolierten Ermessensentscheidungen und Ermessensentscheidungen im Rahmen der Steuerfestsetzung und Steuerveranlagung wird nicht mehr gemacht.
Diese Auslegung des § 102 FGO entspricht der Auslegung des dieser Vorschrift entsprechenden § 114 der Verwaltungsgerichtsordnung durch die ständige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 114, Anm. 5 und 6, und die dort angeführte Rechtsprechung). Das FG hat hiernach in unzulässiger Weise sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde gesetzt und mit eigenen Erwägungen begründet, statt sich darauf zu beschränken, sich mit den Erwägungen des FA auseinanderzusetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 68365 |
BStBl II 1969, 77 |
BFHE 1969, 110 |