Leitsatz (amtlich)
Das Vorliegen einer Betriebsübertragung im ganzen im Sinne der Haftungsvorschrift des § 75 AO 1977 wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Übernehmer den Betrieb nur dann in der bisherigen Weise fortführen kann, wenn er an der Stelle des Veräußerers in das Vertragsnetz eines anderen Unternehmens eintritt (hier: Kundendienstverträge des Inhabers eines Kfz-Werkstattbetriebs mit Automobilfirmen).
Orientierungssatz
1. § 75 AO 1977 bezweckt, die in dem Unternehmen als solchem liegende Sicherung für die sich auf seinen Betrieb gründenden Steuerschulden durch den Übergang des Unternehmens in andere Hände nicht verlorengehen zu lassen. Die Haftung knüpft deshalb an die Übereignung eines Unternehmens (oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes) im ganzen an. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen bedeutet danach "den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens", d.h. der durch das Unternehmen repräsentierten "organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen", die dem Unternehmen dienen oder zumindest seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Übernehmer das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann (BFH).
2. NV: Die Ermessenserwägungen für eine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner müssen in der Regel von der Verwaltungsbehörde im Haftungsbescheid oder in der Einspruchsentscheidung erkennbar zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BFH-Rechtsprechung). Für den Fall der Haftungsinanspruchnahme nach § 75 AO 1977 (Betriebsübertragung im ganzen) genügt ein Vermerk des FA, aus dem ersichtlich ist, daß der Steuerrückstand beim veräußernden Unternehmen (GmbH) nicht beizutreiben war.
Normenkette
AO 1977 §§ 75, 191, 219
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erwarb mit Kaufvertrag vom 1.Juli 1980 von der X-Automobile KG (Verkäufer zu 1.) und der Y Automobile Kraftfahrzeug-Service GmbH (Verkäufer zu 2.) deren "gesamtes in Z betriebenes Handelsgeschäft" (Verkäufer zu 1.) bzw. deren "gesamten Geschäftsbetrieb" (Verkäufer zu 2.). In diesem Kaufvertrag heißt es u.a.:
"2. Der Verkäufer zu 2. verkauft seinen gesamten Geschäftsbetrieb, insbesondere die von ihm betriebene Werkstatt an den Käufer mit Wirkung zum 1.Juli 1980. Zu diesem Zweck übereignet er dem Käufer die gesamte Werkstatteinrichtung und das übrige Inventar, welche sich in den Geschäftsräumen befinden, alle Vertragsunterlagen und Kundenlisten, die gesamte Korrespondenz sowie alle übrigen Gegenstände, die sich in den Geschäftsräumen des Verkäufers befinden und dem Geschäftszweck des Unternehmens zu dienen bestimmt sind. Ferner übereignet der Verkäufer das gesamte Ersatzteillager ...
3. Die Verkäufer garantieren, daß der Käufer in die bestehenden Miet- oder Pachtverträge, die der Verkäufer zu 1., der Verkäufer zu 2. oder deren Gesellschafter im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb der Verkäufer abgeschlossen haben, zu unveränderten Konditionen eintreten wird ...
9. Der Verkäufer zu 2. wird sich nach dem 1.Juli 1980 in Z jeder Aktivität in seinem bisherigen Geschäftsbereich enthalten. Seine Gesellschafter, die insoweit diesem Vertrag beitreten, garantieren, daß bis spätestens 31.Dezember 1980 die Firma des Verkäufers zu 2. geändert wird ...
11. Sollten bis zum 31.Dezember 1980 nicht alle Miet- oder Pachtverträge sowie alle Verträge mit den Automobilherstellern auf den Käufer übertragen worden sein, so ist der Käufer berechtigt, von dem Kaufvertrag gegenüber beiden Verkäufern zurückzutreten ...
13. Jeder Verkäufer wird in loyaler Weise an allen im Zusammenhang mit der Übertragung des Handelsgeschäfts erforderlichen Maßnahmen mitwirken. Ferner wird Herr A dem Käufer bis zum 31.Dezember 1980 auf Anfordern zur Verfügung stehen, um bei Verhandlungen mit Vermietern oder sonstigen Geschäftspartnern mitzuwirken ...".
Bei Abschluß dieses Kaufvertrages --am 1.Juli 1980-- hatte die Y Kraftfahrzeug-Service GmbH, die in dem Kaufvertrag als Verkäufer zu 2. bezeichnet wird, noch Abgabenrückstände in Höhe von insgesamt 119 854,28 DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) nahm die Klägerin wegen der genannten Steuerrückstände als Haftungsschuldner in Anspruch, weil sie das Unternehmen der GmbH im Ganzen übernommen habe (§ 75 der Abgabenordnung --AO 1977--).
++/ In der Einspruchsentscheidung ist ausgeführt, die --in der Einspruchsbegründung von der Klägerin aufgestellte-- Behauptung, die Steuerschuldnerin sei wegen der Rückstände nicht in Anspruch genommen worden, entbehre jeglicher Grundlage. /++
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Aufhebung des Haftungsbescheids begehrt wurde, ab.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin das Klagebegehren weiter. Sie rügt unrichtige Anwendung von § 75 AO 1977. ++/ Außerdem rügt sie fehlerhafte Ausübung des Ermessens (§§ 191, 219 AO 1977). /++ Das FG habe zu Unrecht den Übergang sämtlicher wesentlichen Betriebsgrundlagen von der GmbH auf die Klägerin angenommen. Ein solcher Übergang habe hinsichtlich der autorisierten Kundendienstverträge mit den Automobilherstellern nicht stattgefunden.
++/ Unabhängig hiervon habe das FA sein Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt oder zumindest die Gründe für die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldner nicht hinreichend dargelegt. Weder im Haftungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung sei erkennbar gemacht, daß das FA versucht habe, die Steueransprüche von der GmbH --als der Steuerschuldnerin-- beizutreiben und daß diese Versuche gescheitert gewesen seien. Erst im Klageverfahren habe das FA zu diesem Punkt detaillierte Angaben gemacht, was jedoch nicht ausreiche, weil die maßgeblichen Ermessenserwägungen spätestens in die Einspruchsentscheidung hätten aufgenommen werden müssen.
Schließlich habe das FA das Recht zur Inanspruchnahme der Klägerin verwirkt, weil es verabsäumt habe, sich aus dem an die GmbH gezahlten Kaufpreis zu befriedigen. Es habe sogar Sicherheiten zurückgegeben und sei auf das Angebot der GmbH in bezug auf eine teilweise Tilgung der Steuerschulden nicht eingegangen. /++
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Die Vorschrift des § 75 AO 1977 bezweckt, die in dem Unternehmen als solchem liegende Sicherung für die sich auf seinen Betrieb gründenden Steuerschulden durch den Übergang des Unternehmens in andere Hände nicht verlorengehen zu lassen (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.November 1973 I R 129/71, BFHE 111, 17, BStBl II 1974, 145, mit Hinweisen). Die Haftung knüpft deshalb an die Übereignung eines Unternehmens (oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes) im ganzen an. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen bedeutet danach "den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens", d.h. der durch das Unternehmen repräsentierten "organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen", die dem Unternehmen dienen oder zumindest seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Übernehmer das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann (BFH-Urteil vom 30.August 1962 V 32/60 U, BFHE 75, 518, BStBl III 1962, 455).
Wendet man diese Grundsätze auf den vom FG ohne Verfahrensverstoß und daher revisionsrechtlich verbindlich festgestellten Sachverhalt (§ 118 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) an, so ist der Tatbestand des § 75 AO 1977 erfüllt. Denn die Klägerin hat in Vollzug des Kaufvertrages vom 1.Juli 1980 von der Verkäuferin zu 2. die Reparaturwerkstatt einschließlich der Werkstatteinrichtung, des übrigen Inventars und des Ersatzteillagers übereignet erhalten. Sie hat von den Verkäufern auch alle Vertragsunterlagen und Kundenlisten, die gesamte Korrespondenz sowie alle übrigen, dem Zweck des übereigneten Unternehmens dienenden Gegenstände ausgehändigt erhalten. Die Revision wendet sich gegen die Annahme der Tatbestandsvoraussetzungen des § 75 AO 1977 denn auch im wesentlichen mit der Begründung, daß der Klägerin die Rechte aus den Verträgen mit den Automobilherstellern in bezug auf den autorisierten Kundendienst der einschlägigen Pkw-Marken von den Verkäufern nicht übertragen worden seien, auch gar nicht hätten übertragen werden können. Denn die Verkäufer seien weder verpflichtet noch tatsächlich in der Lage gewesen, die Überleitung dieser Verträge auf die Klägerin zu garantieren, weil sie über diese weder rechtlich noch tatsächlich hätten verfügen können. Daß sich die Automobilhersteller mit der Überleitung dieser Verträge einverstanden erklärt hätten, sei ausschließlich auf die Bonität der Klägerin selbst bzw. ihrer Gesellschafter zurückzuführen.
Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat nicht an. Zwar sind die Vertragswerkstätten der Automobilhersteller im Kfz-Gewerbe aufgrund besonderer vertraglicher Abmachungen verpflichtet, ausschließlich oder überwiegend Reparaturen für ein bestimmtes Fabrikat nach den Vorschriften des jeweiligen Herstellerwerkes auszuführen (vgl. Franken, Besteuerung des Kraftfahrzeughandels, Verlag Neue Wirtschaftsbriefe, Gewerbedienst, Heft 16, Seite 6 Anm.4). Die Beschränkung auf den Kraftfahrzeugservice für bestimmte Automarken ändert aber nichts daran, daß es sich bei den Vereinbarungen mit den Automobilherstellern um Verträge handelt, deren Rechtsposition auf den Betriebserwerber --hier die Klägerin-- durch Mitwirkung an der Überleitung des Werkstattvertrages (seitens des Automobilherstellers) übertragen werden kann (vgl. hierzu Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 75 AO 1977, Tz.7, 2.Absatz mit Hinweisen). Zu dieser Mitwirkung hatte sich der Geschäftsführer der Verkäufer nach Ziffer 13 des Veräußerungsvertrages vom 1.Juli 1980 erboten, und beide Vertragsparteien (Verkäufer und Käufer) hatten sogar den Bestand des genannten Vertrages vom Gelingen der Überleitung der autorisierten Händlerposition abhängig gemacht (Ziff.11, a.a.O.). Für den erkennenden Senat ist daher --mangels anderweitiger Feststellungen des FG (§ 118 Abs.2 FGO)-- davon auszugehen, daß die Überleitung durch die vertraglich vorgesehene Mitwirkung der Verkäufer auch tatsächlich zustande gekommen ist. Es mag zutreffen, daß für die Automobilhersteller hierbei in erster Linie die Bonität der Gesellschafter der Klägerin maßgebend war. Dies ist aber keine Besonderheit des Kfz-Gewerbes oder eines auf diesem Gebiet tätigen Vertragshändlers, sondern begegnet ebenso in anderen gewerblichen Bereichen, in denen Rechte von dritten Personen seitens des Betriebsübernehmers (hinzu)erworben werden müssen. So spielt etwa bei Überleitung eines Gaststättenvertrages die Person und Sachkunde des Betriebsübernehmers im Verhältnis zur Eigentümer-Brauerei eine wesentliche, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Die von der Klägerin geltend gemachten Argumente treffen allgemein auf betriebliche Bereiche zu, die stark dienstleistungsbezogen sind. Würde man in allen diesen Fällen die Möglichkeit einer Betriebsübereignung durch Mitwirkung des bisherigen Betriebsinhabers ablehnen, so wäre § 75 AO 1977 in weitem Umfang nicht mehr anwendbar. Das FG hat daher zu Recht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 75 AO 1977 bejaht.
++/ 2. Das FG hat weiter zutreffend entschieden, daß die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldner gemäß § 219 AO 1977 weder eine Ermessensüberschreitung noch einen Ermessensfehlgebrauch (§ 102 FGO) beinhaltet. Zwar trifft es zu, daß die Ermessenserwägungen für eine solche Inanspruchnahme in der Regel von der Verwaltungsbehörde im Haftungsbescheid oder der Einspruchsentscheidung erkennbar zum Ausdruck gebracht werden müssen (vgl. BFH-Urteile vom 18.September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801, und vom 3.Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Diesem Erfordernis hat das FA im Streitfall durch den in die Einspruchsentscheidung aufgenommenen Vermerk entsprochen, wonach die Behauptung der Klägerin, die Steuerschuldnerin sei nicht in Anspruch genommen worden, jeglicher Grundlage entbehre. Aus diesem Vermerk ist jedenfalls ersichtlich, daß der Steuerrückstand bei dem veräußernden Unternehmen nicht beizutreiben war. Mehr ist nicht erforderlich.
Für eine Verwirkung des Haftungsanspruchs oder auch nur für ein dem FA anzulastendes Mitverschulden im Zusammenhang mit den vergeblichen Vollstreckungsversuchen bei der Steuerschuldnerin (und deren gemäß § 69 AO 1977 in Haftung genommene Geschäftsführer) fehlt angesichts der sich aus den von dem FG in Bezug genommenen Vollstreckungsakten ergebenden umfänglichen Beitreibungsversuche des FA jeder Anhaltspunkt. /++
Fundstellen
Haufe-Index 61373 |
BStBl II 1986, 654 |
BFHE 146, 505 |
BFHE 1986, 505 |
BB 1986, 1976-1977 (ST) |
DB 1986, 2112-2112 (S) |
DStR 1986, 722-723 (ST) |
HFR 1986, 563-564 (ST) |